Kapitel Vierundzwanzig
»So wird es … gehen. Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten unterscheiden …«
Matthäus 13, 49
Lincoln hatte nur für den halben Weg ein Ticket gekauft. Weil es noch dunkel war und Lincoln befürchtete, dass man uns folgen könnte, hatte er beschlossen, für den Rest der Fahrt ein Auto zu »leihen«.
Trotz unserer verzweifelten Lage war ich fasziniert von der Aussicht, Lincoln ein Auto kurzschließen zu sehen. Und er zog eine beeindruckende Show ab: Er wählte einen unauffälligen Wagen mit Allradantrieb aus, und in weniger als dreißig Sekunden schaffte er es, ihn anzulassen. Dann raste er wie ein Verrückter über die Schnellstraße, während ich im Handschuhfach nach einer Karte suchte.
Ich klammerte mich am Türgriff fest, als er scharf um die Ecke bog.
Schließlich fuhr Lincoln langsamer und wir tauchten in den Verkehr ein, sodass der Wagen plötzlich einer unter vielen war.
»Wer bist du?«, fragte ich, als ich den normalerweise so regeltreuen Lincoln ansah.
»Mum hat mir beigebracht, dass man immer auf schlimme Zeiten vorbereitet sein muss.«
»Hat dir deine Mum auch beigebracht, wie man ein Auto klaut?«
Er lächelte. »Nicht direkt, aber ich bin mir sicher, dass sie mich unter diesen Umständen nicht davon abhalten würde.«
Dem musste ich zustimmen. Ich faltete die Karte, die ich gefunden hatte, auseinander und drehte sie, bis ich entdeckt hatte, wo wir waren. »Okay, wie heißt die Stadt, die wir suchen?«
»Cold Springs«, erwiderte Lincoln. »Wir sollten etwa zwanzig Minuten davon entfernt sein.«
Ich suchte auf der Karte danach. »Hab’s gefunden«, sagte ich.
Nun, das klang ja ganz gut. »Bleib auf der US 9«, wies ich ihn an.
Es dauerte nicht lange, bis wir in Cold Springs ankamen. Noch immer war es dunkel. Das kleine Städtchen lag neblig und still vor uns. Die Hauptstraße – eigentlich die einzige Straße – war wie ausgestorben, und wir wussten, dass es noch ein paar Stunden dauern würde, bis die ersten Läden öffneten. Wir überlegten, ob wir versuchen sollten, Evelyns sicheres Haus zu finden, aber wir hatten Anweisung, nach Cold Springs und dann in den dortigen Gemischtwarenladen zu gehen.
Wir parkten in einer engen Seitenstraße und versuchten, uns auszuruhen, aber trotz unseres Schlafmangels, konnte sich keiner von uns entspannen. Am Ende beschlossen wir, am Fluss entlangzuspazieren, am Himmel wurde es langsam heller und die Sonne ging auf.
»Schön hier«, sagte ich und betrachtete die malerische Landschaft. Cold Springs lag mit seinen Fußgängerwegen und den mit Schindeln bedeckten Wohnhäusern direkt am Fluss, auf dem kleine Boote schaukelten. Auf der anderen Seite des Flusses waren nur Bäume und Sträucher zu erkennen. Die Aussicht war so natürlich – unbefleckt von menschlicher Zivilisation.
»Städtchen wie dieses gibt es überall am Hudson«, sagte Lincoln, in seiner Stimme lag eine Ruhe, die unsere Umgebung widerspiegelte. »Ich habe früher wann immer ich konnte versucht, von der Akademie wegzukommen, um die Gegend zu erkunden. Hierher habe ich es nie geschafft, aber ich glaube, der Ort ist berühmt für seine Antiquitäten.«
Durch eine Unterführung an der Bahnlinie gingen wir ins Zentrum des Ortes.
»Das glaube ich gern«, sagte ich, als ich die vielen kuriosen Geschäfte sah, die die Straße säumten.
»Sieh mal«, sagte Lincoln und zeigte über die Straße auf ein beleuchtetes Fenster, über dem zarte Rauchschwaden durch eine Öffnung nach draußen wehten. »Riechst du das?«
Ich holte tief Luft und hätte fast aufgeseufzt. »Frisches Brot.«
Er grinste. »Ja.«
Wir gingen hinüber zu der Bäckerei und drückten unsere Gesichter an die Fensterscheibe, bis der kleine Mann, der gerade das erste Brot des Tages aus dem Ofen zog, auf uns aufmerksam wurde.
»Auf der Durchreise?«, bellte er mit tiefer Stimme, die viel zu mächtig für seine Größe schien.
Wir nickten. »Wäre es wohl möglich, bei Ihnen Brot zu kaufen?«, fragte Lincoln.
Ein paar Minuten später kamen wir mit einer Tüte voll Brötchen heraus, einem Sauerteigbrot und zwei Scheiben noch warmem Kürbisbrot, die uns aus dem Mund hingen.
Köstlich!
Als wir in der Bäckerei waren, hatten wir den Bäcker gefragt, ob er wusste, wann der Gemischtwarenladen aufmachte. Er meinte, dass wir noch eine Stunde würden warten müssen, und sah uns belustigt an. Dann sagte er uns, dass es die Besitzerin, Merri, nicht so gut aufnehmen würde, wenn wir an ihren Fenstern klebten.
Aber wir hatten die Nase voll vom Warten und gingen trotzdem zu dem Geschäft und klopften an die verwitterte grüne Tür, dass die eingesetzten Glasscheiben rasselten.
Oben ging in einem der Fenster Licht an und wir hörten jemanden rumoren. Schritte waren zu hören, die sich schließlich der Eingangstür näherten. Lincoln legte die Hand auf meinen Arm, als wollte er mich hinter sich schieben. Ich warf ihm einen schneidenden Blick zu. Er ließ seine Hand herunterfallen.
Das will ich aber auch meinen.
»Du weißt schon, dass du sehr schwierig sein kannst«, flüsterte er.
»Ja«, erwiderte ich und klimperte mit den Wimpern, womit ich ihn zum Lachen brachte.
Eine schlanke Frau machte die Tür auf. Ihr graues, drahtiges Haar war zu einem unordentlichen Dutt aufgetürmt, sie hatte einen alten gelben Morgenrock um sich herumgewickelt und starrte uns mit einem scharfen, finsteren Blick an.
»Wir machen erst in einer Stunde auf«, sagte sie und zeigte auf das Schild mit den Öffnungszeiten.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung …«, begann ich. Doch noch während ich diese Worte sagte, richtete sie sich auf, und ihre Augen wurden schmal.
»Du siehst jemandem, den ich kenne, wahnsinnig ähnlich.« Sie musterte mich noch einen Moment lang mit misstrauischem Gesicht.
»Ich heiße Violet. Sind Sie Merri?«
Die Frau musste husten, als sie nickte, ein trockenes, unangenehmes Geräusch.
»Ich glaube, Sie kannten meine Mutter, Evelyn.«
Sie betrachtete uns noch einen Augenblick forschend, starrte zuerst Lincoln an, dann mich. Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Tür für uns. »Kommt besser rein.«
Wir folgten ihr die Stufen hinauf in eine kleine Kochnische, wo sie ihren Morgenrock auf einen Stuhl fallen ließ. Wie sich herausstellte, war sie darunter mit einer braunen Hose und einem weißen Hemd vollständig angezogen. Sie grinste, als sie meine Überraschung sah, und setzte sich vor eine Tasse Tee.
»Wenn die Leute hier wüssten, dass ich um diese Uhrzeit schon munter bin, würden sie erwarten, dass ich den Laden aufmache. Setzt euch. Ich habe Tee, und ich kann riechen, dass ihr schon Brot habt.«
Wir setzten uns, nahmen ihr Teeangebot an und reichten ihr unseren Brotlaib. Merri stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und reichte jedem von uns ein Messer. Wir langten ordentlich zu.
»Du bist also Evelyns Tochter?«
Ich nickte.
Sie lächelte, als würde ihr dieser Gedanke gefallen.
»Ihr wollt bestimmt zu ihrem Haus, oder?«
Ich nickte wieder. »Sie sagte, dass wir hierher kommen sollen, weil Sie uns den Rest des Weges beschreiben können.«
»Warum hat sie euch den Weg nicht selbst beschrieben?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Die Situation ist kompliziert. Sie musste vorsichtig sein mit dem, was sie sagte. Sie wusste, dass Sie uns weiterhelfen würden, wenn wir es bis hierher schafften«, sagte ich, wobei ich hoffte, dass das auch der Fall wäre.
»Hm, die Situation ist immer kompliziert mit dieser Frau. Habt ihr ein Auto?«
»Ja«, erwiderte Lincoln. »Einen Geländewagen.«
Merri nickte. »Gut.«
»Sie haben nicht zufällig eine Karte, auf der ihr Haus verzeichnet ist?«, fragte Lincoln.
»Ha!«, rief sie. Fast wäre ihr das Brot aus dem Mund gefallen. »Diese Frau hat nie jemandem eine Wegbeschreibung gegeben. Aber ich glaube, ich habe mehr herausgefunden als sonst jemand. Wenn sie euch zu mir geschickt hat, muss es wohl so sein. Das ist jetzt über sechzig Jahre her. Ich war noch ein Mädchen und meine Neugier hat mich oft in Schwierigkeiten gebracht. Ich bin ihr und diesem Kerl gefolgt. Die beiden waren wie Bruder und Schwester und stritten sich auch so. Sie wanderten durch die Wälder, als ich sie entdeckte. Hielt mich für besonders clever, als ich sie so verfolgte. Die Leute hier haben immer hinter ihrem Rücken geredet und sich gefragt, wo sie wohnten. Ich machte mir nichts aus Klatsch und Tratsch, aber ich wollte Antworten auf meine Vermutungen. Ich folgte ihnen über einen langen Feldweg. Er führte zum Fluss und hörte dort einfach auf. Völlig sinnlos. Trotzdem habe ich sie dort aus den Augen verloren.«
»Sie wissen also nicht, wo es ist?«, fragte Lincoln. Sein stets so höflicher Tonfall geriet ins Wanken.
Sie sah ihn missbilligend an. »Ich bin nicht dumm, Junge. Dieser Weg führte irgendwohin, und kurz bevor sie verschwanden, sah Evelyn genau zu der Stelle, wo ich mich hinter einem Baum versteckt hielt. Die Jahre vergingen und ich ging nie mehr dorthin zurück, um nach ihnen zu suchen, und ich habe niemandem von diesem Tag erzählt. Bis heute.«
»Warum?«, fragte ich.
Merri stopfte sich ein großes Stück Sauerteigbrot in den Mund und kaute, während sie weitersprach. »Manchmal weiß man einfach, dass man etwas besser auf sich beruhen lassen sollte. Diese beiden verbrachten hier nicht ihre Flitterwochen, und ich wusste, dass Leute wie ich nicht das Recht hatten, die Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken.« Sie zuckte mit den Schultern und schluckte. »Ich habe sie dann hin und wieder in der Gegend gesehen.« Sie zog eine Augenbraue nach oben. »Ich wurde älter, aber die beiden schienen sich kaum zu verändern. Den anderen Leuten hier zeigten sie sich nicht, aber aus irgendwelchen Gründen kam sie immer vorbei, wenn sie hier durchkamen, um Vorräte einzukaufen. Als ich von meinem Pa den Laden übernahm, ging sie dazu über, mich gelegentlich zu besuchen, immer spät am Abend oder am frühen Morgen.«
Etwas Sehnsüchtiges lag in ihrem Blick. War sie deshalb schon so früh aufgestanden und hatte sich angezogen? Wartete sie immer noch darauf, dass Evelyn zurückkam?
»Sie wurden Freundinnen«, sagte ich.
»Sofern diese Frau sich je mit jemandem anfreunden konnte, ja. Stur wie die Hölle war sie, und sie sah immer aus, als würde das Gewicht der Welt auf ihren Schultern lasten.« Sie brummte missbilligend. »Sie sah aus wie ihr beide jetzt.«
Lincoln und ich zuckten beide zusammen. Merri lächelte, aber ihr Lächeln verblasste, als sie wieder zu ihrer Geschichte zurückkehrte.
»Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, war sie allein und in einem schlimmen Zustand. Sie war niemals ohne diesen Kerl unterwegs, deshalb wusste ich, dass etwas Schreckliches geschehen war.«
Das musste nach Jonathans Tod gewesen sein.
Merri stand auf und griff in eine ihrer Küchenschubladen, aus der sie einen großen, altmodischen Schlüssel nahm. Sie legte ihn auf den Tisch, wobei ihre Hand schützend über ihm schwebte.
»Ich verarztete sie so gut es ging, und sie hat mir diesen Schlüssel gegeben und mich darum gebeten, ihn für sie aufzubewahren. Sie sagte, noch nie sei jemand so kurz davor gewesen, sie zu finden, als ich an jenem Tag, als ich noch ein Kind gewesen war. Sie wusste, dass ich niemandem davon erzählt oder versucht hatte, sie wieder zu finden. Sie sagte, die Zeit zeige, wem man vertrauen könnte. Das war vor über dreißig Jahren, und es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
»Wären Sie wohl in der Lage, uns in die richtige Richtung zu schicken?«, fragte Lincoln.
Sie nahm einen Schluck Tee und riss sich noch ein Stück Brot ab. »Ihr beide seht nach Ärger aus.«
Lincoln bemühte sich, seine Stimme ruhig und neutral klingen zu lassen. »Wir wollen dort nur ein oder zwei Nächte verbringen, dann ziehen wir weiter. Wir wollen keine Probleme hierher bringen«, sagte er.
Merri dachte darüber nach und nickte. Dann warf sie mir einen neugierigen Blick zu. »Du hast die Augen deiner Mutter.«
»Nein, ich … ich … Sie hat blaue Augen«, stotterte ich.
»Vielleicht haben sie nicht die gleiche Farbe, aber trotzdem … Die gleichen Augen. Du bist eine Kämpferin, genau wie sie.«
Ich schluckte und merkte überrascht, dass ich mich darüber freute, dass sie dachte, ich wäre wie Evelyn.
»Und für dich gilt dasselbe«, sagte sie zu Lincoln, der ihre Bemerkung mit einem Lächeln quittierte.
»Bestimmt haben Sie viele seltsame Dinge gesehen, wenn Sie Evelyn schon so lange kennen. Wir versuchen nur, unsere Leute zu schützen.«
»Und ich gehöre zu euren Leuten?«, fragte Merri.
Weise Frau.
»Ja, das tun Sie«, sagte Lincoln, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
Merri stand auf. »Nehmt euch, was ihr aus dem Laden braucht. Ich hole eine Karte, um euch die Richtung zu zeigen. Am besten, ihr seid wieder auf der Straße, bevor die Stadt erwacht.«
Wir trödelten nicht, sondern gingen gleich nach unten.
Wir gingen durch den Laden und nahmen alles, was uns nützlich erschien. Lincoln kümmerte sich um die praktischen Sachen – Batterien, Radio, Gaskocher, Decken, Kerzen, Streichhölzer. Er griff auch nach zwei Schlafsäcken und mehreren großen Flaschen Wasser. Ich konzentrierte mich auf Nahrungsmittel, vorzugsweise Dinge, die man roh oder direkt aus der Dose essen konnte. Als ich einen Wasserkocher sah, konnte ich nicht widerstehen, ihn zusammen mit einer Packung Kaffee mitzunehmen. Lincoln sah es und verdrehte die Augen, aber er lächelte.
Keine Chance, dass ich auf Koffein verzichte!
Lincoln stapelte seine Auswahl auf die Verkaufstheke und ich häufte meine daneben auf.
»Du warst wohl früher bei den Pfadfindern, was?«, neckte ich ihn.
Er lachte dieses besondere Lachen, und ich schmolz innerlich, meine Seele zupfte an mir und wollte verzweifelt nach ihm greifen. Ich beherrschte mich und beschäftigte mich stattdessen mit den Vorräten.
Merri brachte uns die Karte und gab uns den Schlüssel. Dann verpackte sie unsere Waren in Tüten, während Lincoln das Auto holte. Sie packte sogar noch ein paar zusätzliche Dinge ein, wie Insektenspray und ein Glas selbst gemachte Marmelade.
»Danke, dass Sie uns geholfen haben«, sagte ich.
Sie schniefte und ich machte mich auf einen ihrer trockenen Hustenanfälle gefasst. »Ich weiß, dass da draußen etwas Großes vorgeht. Evelyn war ein Teil davon. Ihr seid das auch. Ein wenig Hilfe anzubieten, wenn es in meiner Macht steht … Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Aber ich empfehle, dass ihr euch versteckt haltet, wenn ihr euch nicht mit Kleinstadttratsch herumschlagen wollt.«
Das wollten wir ganz bestimmt nicht. Wir bedankten uns bei Merri und machten uns auf den Weg, Evelyns sicheres Haus zu suchen.
Wir folgten einfach der Karte, und zehn Minuten später gelangten wir zu dem Feldweg, den Merri uns beschrieben hatte. Und genau wie sie gesagt hatte, endete der Weg abrupt am Flussufer, als hätte er keinen bestimmten Zweck. Lincoln hielt an und wir starrten in den Wald, von dem wir umgeben waren.
Was jetzt?
Es war früh am Morgen. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, es klang wie ein gut aufeinander abgestimmtes Orchester. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, der rosafarbene Himmel verhieß einen klaren Tag. Frustriert stieg ich aus dem Wagen, knallte die Tür zu und fing an, ziellos umherzugehen.
Anders als ich strahlte Lincoln Gelassenheit aus, auch wenn er ebenso wie ich in den letzten vierundzwanzig Stunden kein Auge zugetan hatte. Er stand an der Motorhaube des Autos und atmete tief durch. Langsam und gezielt sah er sich um und deutete schließlich auf eine Lichtung am Flussufer.
»Da«, sagte er.
»Was?«, fuhr ich ihn an. Ich war am Ende meiner Geduld angelangt.
Lincoln sah mich gelassen an, während ich schäumte, und geduldig nickte er noch einmal in die Richtung, in die er eben gezeigt hatte. Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel, als er registrierte, dass ich meine Hände in die Hüften gestemmt hatte.
»Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass es leicht zu finden wäre, oder? Ich habe mir angeschaut, was die Akademie in Bezug auf Evelyn und Jonathan dokumentiert hat. Jonathan war einer der mächtigsten Blendungsexperten aller Zeiten. Es ist wirklich erstaunlich«, sagte er bewundernd, als er wieder zurück auf die Lichtung blickte. »Es ist, als hätte er ein Stück von sich selbst dagelassen. Sogar jetzt, so viele Jahre nach seinem Tod, hält seine Blendung noch.«
Erschöpfung übermannte mich und ich stöhnte, weil ich nicht sehen konnte, was Lincoln sah. Alles schien im Moment unmöglich, und das hier kam mir wie eine weitere Prüfung vor … Das war nicht fair.
»Vi.«
Honig und Sahne.
Lincolns Stimme war ruhig, besänftigend und machtvoll zugleich. »Konzentrier dich.«
Ich schüttelte den Kopf und stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Verdammt. Ich brauche einen Kaffee.« Merris Tee hatte nichts gebracht.
Lincoln kicherte, und das warme Geräusch schlich sich bei mir ein.
Dummes, verwirrendes Lachen.
Ich wollte nicht beruhigt werden. Ich wollte panisch sein. Aber ich war hilflos gegenüber der Art und Weise, wie mein Herz für ihn schlug, während meine Seele unter dem physischen Schmerz ihrer unerfüllten Bedürfnisse schrie.
Ich holte tief Luft. Lincoln wartete ruhig, während ich hektisch meine Hände ausschüttelte, meine Konzentration wiedererlangte und auf die Lichtung am Wasser richtete, die er mir gezeigt hatte.
Es dauerte länger als sonst, die Blendung zu entfernen, und ich kam mir vor, als würde ich Karamell von einer Wand kratzen. Aber als ich sie erst mal zu fassen bekam, schälte ich sie von unten nach oben ab und enthüllte schließlich eine kleine, weiße Holzhütte mit schweren Fensterläden und einer Veranda, die sich um das ganze Gebäude herum zog.
»Oh«, sagte ich gebannt. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass Evelyn an so einem Ort wohnen könnte. Es war schön. Friedlich. Ruhig.
»Lilith war wohl nicht die Einzige, die an dieser Gegend Gefallen gefunden hat«, sagte Lincoln, der eher mich beobachtete als die Hütte.
»Hmm«, erwiderte ich abwesend. Ich hatte mich, angezogen von der Eingangstür, bereits auf den Weg gemacht.
Die Veranda und die Fassade des Hauses waren in bemerkenswert gutem Zustand, wenn man bedachte, dass es leer stand. Ich sah mich um und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, was ich da sah.
»Wie?«, fragte ich.
Lincoln war ebenfalls völlig hingerissen, er fuhr mit der Hand über das Holzgeländer und die angestrichenen Flächen, die nicht annähernd so stark abblätterten, wie der Zahn der Zeit es für gewöhnlich mit sich brachte. Er scharrte mit dem Fuß über die Dielen, die von einer dicken Staubschicht bedeckt, aber ansonsten unversehrt waren.
»Unglaublich«, sagte er. »Jonathan muss einen Weg gefunden haben, seine Blendung so zu manipulieren, dass das Haus vor den Elementen geschützt wird. Es ist, als wäre es … Als wäre das, was unter der Blendung verborgen ist, irgendwie für immer geschützt.«
Ich zog den großen Metallschlüssel heraus, den Merri uns gegeben hatte. Er war so filigran, dass er etwas Märchenhaftes an sich hatte. Ich steckte ihn ins Schloss. Das alles fühlte sich so surreal an.
Wir öffneten die Tür und Lincoln trat in Verteidigungshaltung ein. Ich folgte ihm. Wir wussten, dass wir unsere Sicherheit nicht als selbstverständlich betrachten durften. Evelyn hatte keine versteckten Sprengsätze erwähnt, aber das bedeutete nicht, dass wir unvorbereitet sein sollten. Eine dicke Schicht aus feinem Staub bedeckte den Boden und die Möbel, die mit alten Laken zugedeckt waren. Sie hatte wohl gewusst, dass sie lange Zeit nicht wiederkommen würde.
Als wir durch das Wohnzimmer und die Küche gegangen waren und sie für sauber befunden hatten, gingen wir nach oben zu den beiden Schlafzimmern und dem Bad. Dort war auch alles in Ordnung, und es gab keine offensichtlichen Verstecke, die man auf unangenehme Überraschungen hätte untersuchen müssen.
Wir gingen wieder nach unten und machten uns auf den Weg in den Keller. Er war fest abgeschlossen und die Tür sah aus, als wäre sie der stabilste Gegenstand in der ganzen Hütte. Wir legten beide das Ohr daran, um nach irgendwelchen Anzeichen für Bewegung zu lauschen, aber wie im Rest des Hauses sah der Staub auch hier so unberührt aus, als würde er schon seit vielen Jahren so daliegen.
Lincoln atmete aus. »Alles okay. Wahrscheinlich finden wir hier irgendwo einen Schlüssel.«
Ich hatte meine Aufmerksamkeit bereits wieder dem Wohnzimmer zugewandt und mich gleich darangemacht, vorsichtig die Laken von den Möbeln zu ziehen und zusammen mit dem ganzen Staub hinaus auf die Veranda zu tragen. Lincoln half mit dabei und ein paar Minuten später hatten wir die schlichte Einrichtung freigelegt. Die Hütte duftete nach Holz, als wären wir in einem riesigen Walnussbaum, aber sie roch auch nach vergangenen Zeiten, nach Geschichte.
Mein Blick richtete sich auf den breiten Kamin aus Stein, der schwarz verbrannte Ränder hatte – er war wohl häufig benutzt worden. Ich strich mit den Fingern über das abgewetzte braune Ledersofa und fragte mich, wie oft Evelyn wohl hier gewesen war.
Lincoln sah sich ehrfürchtig um. »Wenn ich eine solche Hütte hätte, würde ich sie nie wieder verlassen«, sagte er.
Ich warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Hast du nicht – was weiß ich – zig Millionen Dollar oder so? Wenn du so ein Haus willst, dann könntest du es doch einfach kaufen, oder?«
Unbehaglich drückte er die Schultern nach hinten. »Ich habe keine zig Millionen Dollar. Aber … Ja, ich glaube, ich habe genug Geld, um ein paar Möglichkeiten zu haben.«
»Nun, was hält dich dann davon ab?«
Er blickte auf seine Füße hinunter. »Vielleicht eines Tages. Wenn ich jemanden hätte, mit dem ich es teilen kann.« Mein Herz tat weh. Er stand am Fenster und sah hinaus. »Glaubst du, sie haben sich hier je einsam gefühlt?«, fragte er.
Ich brauchte nicht lang nachzudenken.
»Ja«, sage ich, weil ich mir sicher war, dass es wahr war, und als mir das klar wurde, verstand ich meine Mutter noch viel besser.