Kapitel Neunzehn

»Das Böse führt die Menschen zusammen.«

Aristoteles

Festzustellen, ob Rania böse auf mich war oder nicht, erwies sich als schwieriger, als ich mir vorgestellt hatte. Der Tatsache nach zu urteilen, dass sie trotz allem um fünf Uhr morgens gnadenlos in meinem Zimmer auftauchte und eindeutig von mir erwartete, dass ich schnell auf die Füße kam und bereit fürs Training war – ja, sie war angepisst.

Andererseits war sie immerhin aufgetaucht.

Ich beschloss, dass es mir lieber war, durch hartes Training bestraft zu werden, als dass sie mir die kalte Schulter zeigte. Phoenix zu sehen war zwar beunruhigend gewesen, hatte aber als solide Erinnerung an das gedient, was vor mir lag. Ich musste bereit sein. Außerdem wusste ich, so seltsam das auch war, dass die Grigori-Prüfung wichtig war – der Wunsch, vom Rat akzeptiert zu werden, hatte mich selbst überrascht.

Andererseits – immer wenn Rania mir eine weitere Wunde in meinem Oberarm zufügte, war es schwer, sich an all das zu erinnern.

»Himmel!«, schrie ich, während ich mich drehte, um den Schaden zu betrachten.

»Du bist unaufmerksam«, sagte sie, dann peitschte sie mit ihrem Samuraischwert vor mir durch die Luft und richtete es auf meinen Arm. »Du senkst immer deinen rechten Arm.«

Eine ganze Nanosekunde lang!

»Vielleicht liegt es daran, dass kein Blut mehr darin ist«, brummte ich.

Rania schüttelte den Kopf. »Du darfst dir niemals einen Fehler erlauben. Nicht, wenn du vorhast zu leben. Fang noch mal an, ganz von vorne. Zuerst die Drills, und dann kämpfen wir.«

Ich schluckte. Mein Mund war ausgedörrt und mein Körper schmerzte auf eine Art und Weise, wie er nicht sollte, aber ich nickte, verbiss mir den Schmerz und machte mich wieder an die monotonen, endlosen Übungen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich durch Ranias Trainingstechniken eher wie Karate Kid oder wie Sarah Connor aus Terminator fühlte.

Als wir das nächste Mal kämpften, hielt ich meine Arme oben und bereit. Unsere Samuraischwerter schlugen gegeneinander, als wir aufeinander losgingen wie wilde Tiere. Schnelle Kämpfe waren immer zu bevorzugen, und die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, war ein aggressiver Angriff. Ich wollte mein Bestes geben, meine ganze Kraft aufbringen. Ich hatte alle Motivation der Welt.

Ich entdeckte eine der seltenen Lücken in Ranias Deckung. Sie hatte einen winzigen Fehler bei der Positionierung ihres Körpers gemacht. Dadurch würde ich sie zwar nicht total ausschalten können, aber wenn ich Glück hatte, würde sie zu Boden gehen.

Ich machte eine Bewegung, traf mit dem Fuß ihr Bein und folgte mit meinem Schwert, wobei ich ihr ein wenig in den Oberschenkel schnitt.

Rania richtete sich rasch wieder auf, in ihren Augen loderte Kampfgeist auf.

Ich stellte meine Füße fest auf den Boden und machte mich auf einen Angriff gefasst, stattdessen … lächelte sie.

»Was ist?«, fragte ich, während ich mir die schweißnasse Stirn abwischte.

»Schon besser«, sagte sie und nickte mir respektvoll zu.

Das machte sie zum ersten Mal, und es hatte eine überraschend tiefe Wirkung auf mich.

»Du kämpfst gut mit Schwertern. Am besten bist du mit einem Dolch, aber danach kommen gleich die Schwerter. Daran solltest du denken und immer bewaffnet sein. Wenn nötig, kannst du mit den bloßen Händen kämpfen, aber du bist eine Technikerin – mit den richtigen Werkzeugen bist du am gefährlichsten.«

Ich nickte zustimmend. »Ich werde es mir merken.«

Rania trat vor und legte mir die Hand auf die Schulter. »Wir wissen beide, dass du dich zurückhältst, Violet. Die Frage ist, wie sehr?«

Sie wartete meine Antwort nicht ab, und dafür war ich dankbar – ich hatte nämlich keine Antwort darauf.

Rania fing an, die Sachen für heute einzupacken, und als ich ihr helfen wollte, hob sie die Hand. »Geh jetzt. Du hast noch Zeit, bevor dein Unterricht anfängt, und wie ich gehört habe, musst du noch woandershin.« Sie sah mich wissend an.

Sie hatte recht.

Nicht dass ich daran erinnert werden müsste.

Letzte Nacht im Ascension hatte ich eingeräumt, dass es Zeit wäre, Evelyn zu besuchen. Ich hatte es immer aufgeschoben, weil ich nicht so recht wusste, was ich zu ihr sagen sollte, und zu Dad. Aber wir brauchten ihre Informationen und Griffin schien trotz seiner vielen Besuche davon überzeugt, dass Evelyn mir mehr erzählen würde, als sie vor ihm preisgegeben hatte. Ich war überrascht, dass Griffin offenbar Vertrauen in Rania gesetzt hatte. Sie war zwar meine Mentorin, aber sie war immer noch ein Mitglied des Rats.

»Okay«, sagte ich.

»Violet …«, fing Rania an, während ich meine Sachen einsammelte. Ihre Stimme klang jetzt anders. Sie sprach nicht mehr als Lehrerin mit mir. »Ich weiß, dass du und Lincoln … Dass ihr wie Nyla und Rudyard seid.« Ich blickte auf meine Füße.

»Ich vermisse sie so sehr, aber selbst jetzt … beneide ich sie um das, was sie hatten.«

Ich blinzelte. »Was meinst du damit?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Alles davon. Sie waren so viel machtvoller, als sie den anderen je gezeigt haben – sie waren immer besorgt, dass es sie in Gefahr bringen könnte, wenn die Stärksten unter uns ihr Potenzial erkennen würden. Als miteinander verbundene Seelenverwandte bedeutete ihre Vereinigung, dass sie, wenn nötig, auf die Kräfte des jeweils anderen zugreifen konnten. Sie verwandelten sich von zwei guten Kämpfern in einen einzigen unglaublich mächtigen Krieger.« Sie blickte zu Boden. »Wenn sie gewollt hätten, hätten sie anstelle von Wil und mir im Rat sitzen können, aber das haben sie abgelehnt.«

Mich wunderte nicht, dass Nyla und Rudyard die Plätze im Rat abgelehnt hatten. So etwas war überhaupt nicht ihr Ding gewesen.

»Unglaublich, aber nicht unglaublich genug«, sagte ich. »Rudyard ist tot und Nyla ist … verloren, und alle, die sie geliebt haben, müssen jetzt mit dieser schrecklichen Tatsache leben.«

»Das ist wahr«, stimmte Rania zu.

Ich schwang mir die Trainingstasche über die Schulter und machte mich auf den Weg zur Tür.

»Aber etwas anderes ist auch wahr«, fuhr sie fort.

»Was?«

»Rudyard und Nyla waren einzeln lange nicht so stark wie du und Lincoln. Nicht einmal annähernd.«

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. »Das Risiko ist zu hoch, Rania. Kraft ist nicht alles.«

Sie heftete einen Blick auf mich, bei dem mir ein Schauder über den Rücken lief. »Irgendwann vielleicht doch.«

Ich entgegnete nichts.

Sie konnte unmöglich verstehen, wie es war, wenn man wusste, dass man dem Leben der Person, die man liebte, ein Ende setzen konnte. Nur Nyla und Rudyard konnten das verstehen, und die waren nicht hier. Rania genoss den Luxus, das Ganze von außen betrachten zu können. Sie war schon seit Hunderten von Jahren da, hat Grigori kommen und gehen sehen, die schlicht und einfach Kriegsopfer geworden waren. Sie würde wahrscheinlich nicht zögern, die zusätzliche Kraft verbundener Seelenverwandter zu nutzen, aber andererseits zog sie all die anderen Tatsachen, die dazu gehörten, überhaupt nicht in Betracht. Sie konnte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen.

Trotz Ranias Aufmunterung hatte ich noch immer meine Zweifel – und Ängste – was meinen Besuch bei Evelyn und Dad betraf. Doch als ich so in den Fluren herumlungerte, dachte ich über all die Gründe nach, weshalb es wichtig war – weshalb es entscheidend war, Evelyn zu vertrauen und ihre Meinung zu hören. Am Ende führte das Bild des Kindes, das Phoenix mitgenommen hatte, meine Entscheidung herbei. Uns lief die Zeit davon.

Allein durch all die Sicherheitsüberprüfungen auf der unteren Ebene zu kommen, damit ich zu den Arrestzellen zugelassen wurde, war eine ziemliche Aufgabe.

Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet hatte, vielleicht Gefängniszellen, aber Evelyn und Dad hatten etwas bekommen, was eher wie eine kleine Wohnung aussah. Sie durften sich einen Raum teilen – zwei einzelne Betten, die sie dicht zusammengeschoben hatten. Sie hatten eine kleine Kochnische, die mit Früchten und Gemüse ausgestattet war – das allein war für Dad wahrscheinlich schon Gefängnis genug, er bevorzugte Gemüse, das sich in einer Box aus dem chinesischen Schnellimbiss befand und mit Austernsoße bedeckt war.

Das Einzige, das wirklich nach Eingesperrtsein schrie, war, dass der ganze Bereich in einer Art kaum sichtbarem Kraftfeld lag, dass mich an die flüssigkeitähnliche Wand erinnerte, die Phoenix und mich in meinem Traum getrennt hatte. Ich konnte alles sehen, bis auf eine kleine Kabine, von der ich annahm, dass sie ihr Badezimmer enthielt. Wenigstens hatte man für ein wenig Privatsphäre gesorgt.

Ich ging den schmalen, weißen Korridor an ihrer Zelle entlang. Dad und Evelyn saßen an einem kleinen, ovalen Tisch und spielten Karten. Beide blickten auf und entdeckten mich gleichzeitig, und ich war betroffen, wie seltsam das alles war. Die Akademie, die Grigori, die Hölle, Lilith, Lincoln, Phoenix, die Schriften – und da saßen meine Eltern und spielten Blackjack. Es dauerte einen Moment, bis mir bewusst wurde, dass ich hysterisch lachte.

Vielleicht dachten sie, es wäre eine gute Therapie, vielleicht freuten sie sich auch nur, mich zu sehen, aber innerhalb von Sekunden brachen die Eltern, wegen denen ich die letzten zweieinhalb Wochen nervös gewesen war, weil ich sie treffen sollte, ebenfalls in Gelächter aus.

Genau das, was jedes Kind gern möchte, oder? Glückliche Momente mit der Familie.

Als wir uns wieder beruhigt hatten, tastete mich einer der Wachmänner ab und konfiszierte meinen Dolch. Verblüfft betrachtete er die Male um meine Handgelenke. Normalerweise wurden Grigori dazu aufgefordert, ihre Armbänder abzunehmen.

Ich drehte mein Handgelenk nach oben und lächelte. »Tut mir leid. Es ist dauerhaft.«

Er grunzte und überraschte mich dann, weil er die Tür zu dem Kraftfeld öffnete.

»Ist es hart wie eine Wand?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »In gewisser Weise. Aber es ist mit Grigori-Kraft aufgeladen, wodurch es in seiner Härte variiert.«

»Wie die Skywalks?«

Er bedeutete mir, einzutreten. »Ähnlich«, sagte er und beendete damit meine Fragerei. Mehr würde er mir nicht verraten.

»Zehn Minuten«, sagte der Wachmann mit einem Blick, der besagte, dass er auf die Uhr schauen würde. Griffin hatte eine Reihe von Gefallen eingefordert, damit ich bei meinem Besuch vollen Zugang hatte.

Ich trat ein und beobachtete, wie sich die Tür hinter mir zu versiegeln schien. Als die Wache den Bereich verlassen hatte, setzte ich mich zu meinen Eltern an den Tisch. Aufmerksam musterte ich die beiden. Dad sah müde aus, aber es schien ihm gut zu gehen. Evelyn wirkte absolut erschöpft. Ihre Augen waren dunkel, und überall auf ihren Armen hatte sie Blutergüsse. Ich hatte den Verdacht, dass ihre Ellbogen auf dem Tisch mehr oben hielten als nur die Karten.

Griffin hatte erzählt, dass die Akademie sie in die Mangel genommen und sie sowohl geistig als auch körperlich untersucht hatte. Ich spürte Zorn in mir aufsteigen und war überrascht, als ich feststellte, dass ich diese Frau nicht mehr als meinen Feind betrachtete.

Aber was sind wir dann jetzt?

»Violet, ich habe dich vermisst … Wir haben dich so sehr vermisst. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir tut, was geschehen ist. Ich schäme mich so. Ich kann nicht verlangen, dass du mir verzeihst, aber ich …«

»Dad«, sagte ich, bevor er weitersprach. »Schon gut.« Ich schüttelte den Kopf – eher wegen mir selbst als wegen irgendetwas anderem. Ich war dumm gewesen. Jetzt, wo ich vor Dad saß, rückte alles wieder in die richtige Perspektive. »Glaub mir, ich habe eine Menge Dinge gesagt und getan, die ich jetzt gern rückgängig machen würde. Auf einen Schlag ist so viel über dich hereingebrochen, und du hast einen Fehler gemacht.« Ich warf einen Blick auf Evelyn. »Ich glaube, ich habe auch welche gemacht, und vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass wir einige davon auf sich beruhen lassen. Und … ich habe euch auch vermisst.«

Dad nickte schnell und sah weg.

Ich verdrehte die Augen. »Nicht weinen, Dad.«

Er wandte sich mit feuchten Augen zu mir um und lächelte. »Ich bin nur … Ich habe solche Angst und bin so stolz. Ich weiß nicht, wie ich in dieser Welt der Vater sein kann.«

Ich ergriff seine Hand. »Das ist okay. Ich bemühe mich darum herauszufinden, wo meine Grenzen als Tochter sind, die gleichzeitig eine Grigori ist.«

Er schenkte mir eines dieser stolze Vater Lächeln. Was immer ich in den letzten paar Wochen getan hatte, um mich selbst davon zu überzeugen, dass ich ihn nicht brauchte, löste sich in Wohlgefallen auf. Ich lächelte zurück, und eine schwere Last fiel mir vom Herzen.

Eine weniger.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit Evelyn zu. »Wir haben nicht viel Zeit, und möglicherweise sind wir nicht allein.«

Evelyn nickte, etwas wie Stolz glitzerte in ihren Augen.

Oh nein, das halte ich nicht aus, wenn sie jetzt auch noch anfängt zu heulen.

Zum Glück beherrschte sie sich und nickte zustimmend.

»Gib mir deine Hände«, sagte ich.

Neugierig zog sie eine Augenbraue nach oben.

Ich starrte zurück. »Tu es einfach und beeil dich. Das wird jetzt nicht gerade angenehm.«

Evelyn legte ihre Hand in meine.

Meine Kraft bewegte sich langsam im Vergleich dazu, wie sie es bei Lincoln tat. Sie gehorchte mir, aber es fühlte sich weniger natürlich an, wenn sie mit jemand anderem als meinem Partner verschmolz. Ich schob sie nach außen und ignorierte Dads Keuchen, als meine Male anfingen, herumzuwirbeln. Wenigstens wurde sein menschliches Auge nicht Zeuge meiner Kraft, die den Raum mit Tausenden winziger Amethystkristalle vernebelte und in Evelyn floss.

Alles was ich sah und spürte, war, dass Evelyns Griff etwas fester wurde. Sie war zäh. Das musste man ihr lassen.

Spence hatte sich die Seele aus dem Leib gebrüllt, als ich ihn geheilt hatte. Zugegeben, seine Verletzungen waren weit schlimmer gewesen als ihre, aber trotzdem … es musste wirklich unangenehm sein.

Als meine Kraft fertig zu sein schien, zog sie sich in mich zurück und ich ließ Evelyns Hände los.

Sie brauchte einen Augenblick, um sie auszuschütteln, als wollte sie dadurch die Kontrolle über ihren Körper wieder erlangen.

»Danke«, sagte sie ein wenig rau. »Du hattest recht. Angenehm war das nicht.« Sie hustete. »Aber es geht mir gut … Danke.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du wirst deine Kraft noch brauchen.«

Dads Mund stand offen. »Du, du … ich meine, Violet, du hast sie geheilt.«

Man hatte ihm zwar gesagt, dass ich das konnte, aber man glaubt nur, was man mit eigenen Augen sieht. Als würde er sich selbst daran erinnern, womit er es hier zu tun hat, flüsterte er nur ein weiteres Wort: »Engel

Ich beschloss, ihn diesem Moment zu überlassen, und konzentrierte mich auf Evelyn.

Sie nickte, offenbar dachte sie das Gleiche. »Erzähl es mir.«

Erleichtert berichtete ich ihr von den neuesten Ereignissen, was sich nicht besonders von dem unterschied, was Griffin ihr schon erzählt hatte. Trotzdem achtete Evelyn aufmerksam auf jedes Wort, vor allem, als ich kurz zusammenfasste, wie ich Phoenix in den Tunnels unter der Stadt gesehen hatte. Eins musste man Dad lassen – er schaffte es, den Mund wieder zuzumachen und die ganze Zeit zu schweigen.

»Lilith macht da weiter, wo sie aufgehört hat«, sagte Evelyn, als ich fertig war. »Phoenix hat gesagt, dass sie in den Bergen sind?«

Ich nickte wieder.

»Sie wird in einem der größeren Anwesen am Hudson sein, nicht weit außerhalb von Manhattan – ich würde sagen, keine Autostunde von hier entfernt.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich sie besser kenne als sonst jemand, und Lilith hat eine Schwäche für Wasser. Sie ist gern nah am Wasser, für den Fall, dass sie schnell fliehen muss. Jonathan und ich sind ihr um die ganze Welt gefolgt, aber am Ende kam sie nach Amerika und fand Gefallen an dieser Gegend hier.« Sie zog die Augenbrauen nach oben. »Altes Geld in rauen Mengen. Sie hatte Freude daran, Familien zu vernichten und ihre Linie auszulöschen, indem sie zuerst deren Ruf beschmutzte. Sie suchte sich die besten Grundbesitze am Hudson aus, belegte ganze Kleinstädte mit starken Illusionen, um dafür zu sorgen, dass niemals jemand nachforschte, wenn Familien verschwanden. Viele trieb sie in einen grausamen Selbstmord. Es war schrecklich. Aber ihr bereitete die Zerstörung so viel Freude, dass sie nicht weiterzog, sondern das Vermögen und die Häuser dieser Familien stahl und sie als Trophäen behielt. Auch heute noch gibt es viele davon. Sie sind gut versteckt und sie betrachtet sie noch immer als ihre rechtmäßige Beute.«

»Griffin sagt, dass sich die Akademie auf einen Angriff vorbereitet, falls sie ihren Aufenthaltsort finden. Diese Information würde ihnen helfen, die Suche einzugrenzen«, sagte ich.

»Sie wird darauf vorbereitet sein und sie erwarten.« Evelyn seufzte. »Das wird einen hohen Tribut fordern, aber ich weiß nicht, wie man das verhindern kann.«

Ich sah, wie sie den Blick auf meine Male senkte. »Was ist los?«, fragte ich. Ihr Blick wanderte häufig zu meinen Handgelenken, wenn ich das Gefühl hatte, dass sie etwas sagen wollte.

Sie berührte sie mit den Fingern. »Nur so eine Theorie. Keine, die man laut aussprechen kann.«

Weil wir beobachtet wurden.

»Violet, falls irgendetwas passiert, musst du mir eines versprechen«, sagte sie. Sie starrte mich an, als würde sie gern tausend Dinge sagen. »Tu, was Griffin sagt.«

»Warum?«

Sie lächelte sanft und wechselte das Thema. »Der Engel, der dich gemacht hat, ist einer der mächtigsten Engel, die je erschaffen wurden«, sagte sie, wobei sie sorgsam darauf achtete, seinen Rang nicht zu nennen. »Engel sind Kreaturen des Stolzes, selbst die besten unter ihnen. Als er dich erschaffen hat, wusste er, dass dieser Tag kommen könnte. Er hätte dich nie ohne Seil und doppelten Boden zurückgelassen. Denk immer daran.«

Ich versuchte, die Bedeutung ihrer Worte zu erfassen. »Geht es um Lincoln und mich?«

»Möglich. Ich weiß es nicht. Allein die Tatsache, dass er deinen Seelenverwandten zu deinem Partner gemacht hat … Alles hat seinen Grund. Aber es ist ihr Grund, vergiss das nie. Du hast den freien Willen, es sei denn du ziehst es vor, darauf zu verzichten. Dass ihr Seelenverwandte seid, mag ihre Entscheidung sein, aber ob ihr die Verbindung vollzieht, ist eure

»Das hilft mir jetzt nicht gerade weiter«, sagte ich verwirrter denn je.

»Ich würde ja gern was zu diesem Thema beitragen«, sagte Dad trocken.

Klar würdest du das gern.

Ich beließ es bei einem Schnauben.

»Ich wünschte, ich hätte Antworten darauf, aber es ist kompliziert«, fuhr Evelyn fort. »Dass ihr Seelenverwandte seid, könnte sowohl unsere Rettung sein als auch …«

»Unser Untergang«, beendete ich den Satz.

»Genau. Deshalb kann dir auch niemand anders sagen« – sie warf Dad einen Blick zu –, »welchen Weg du einschlagen sollst.«

Der Wachmann tauchte wieder auf. Die Zeit war um. Ich nickte, stand auf und erwiderte Dads Umarmung.

Ich drehte mich wieder zu Evelyn um, die ebenfalls aufgestanden war und um einiges besser aussah.

»Würdest du die Dinge anders machen? Wenn du noch mal von vorne anfangen und die Dinge ändern könntest?« Ich musste diese Frage einfach stellen.

Sie sah Dad mit liebevollem Blick an. »Ich hätte mehr Vertrauen in die Leute um mich herum gesetzt, auf deren Leben sich meine Entscheidungen auswirkten.« Sie wandte sich wieder mir zu. »Aber ich bereue einige der Dinge nicht, von denen du dir wahrscheinlich wünschst, dass ich sie bereuen würde, und wenn ich sie wieder tun müsste, würde ich wohl dieselben Entscheidungen treffen, auch wenn das bedeutete, eine Tochter zu haben, die mich hasst.«

»Ich hasse dich nicht. Und es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe zu verstehen. Aber … du machst mir Angst.« Ich sah Dad an. »Ich habe Angst um ihn und um mich.« Ob ich damit umgehen konnte oder nicht, sie war meine Mum, und sie war hier. »Weißt du … Weißt du überhaupt, was mit dir geschieht, wenn Lilith zurückgeschickt wird? Gehört das auch zu eurem Abkommen?«

Sie brachte mich zur Tür, Dad folgte schweigend. »Nein, so weit haben wir nie gedacht. Was mich zusammen mit ihr hierher brachte, kann mich ebenso gut wieder zurückbringen, wenn sie zurückgeschickt wird. Das müssen wir alle akzeptieren, falls es geschieht. James weiß das. Was das Übrige angeht … nun, wenn wir überleben, bis das ganze vorbei ist, dann müssen eine ganze Menge anderer Probleme gelöst werden.«

Ja. Zum Beispiel die Tatsache, dass Dad schon jetzt zu alt für sie aussieht und der Einzige von uns ist, der altert!

Der Wachmann räusperte sich. Es war Zeit zu gehen.

»Tschüss, Dad«, sagte ich. Ich nickte Evelyn zu. »Griffin versucht immer noch, euch hier rauszuholen.«

Sie nickte ebenfalls, ein wenig traurig. »Etwas sagt mir, dass ich sowieso nicht mehr lange hier drin sein werde.« Bevor ich fragen konnte, wie sie das meinte, packte sie mich am Arm, zog mich dicht zu sich und flüsterte mir ins Ohr: »Ganz egal, was der Preis dafür ist, wenn du die Chance bekommst, sie zu vernichten, dann ergreife sie! Denk nicht zweimal darüber nach.«

Ich schluckte und nickte, obwohl mir bei ihren Worten ganz elend wurde.

Denn wenn Lilith zurückgeschickt wird, könnte dies auch Evelyns Ende bedeuten.

Wie die Mutter, so die Tochter. Ebenso wie ich mit Phoenix verbunden war, war sie wahrscheinlich mit Lilith verbunden.

»Viel Glück bei der Prüfung«, sagte Evelyn zum Abschied, bevor sich die Tür schloss und ich zurück in den oberen Stock der Kommandozentrale geführt wurde.