Kapitel Elf
»Es ist leichter, einem Feind zu vergeben …«
William Blake
Lincoln ließ mich im Hades zurück, er verschwand, um eine weitere Quelle ausfindig zu machen. Schon seit unserer Rückkehr aus Santorin war er auf einer Mission, für die er alle Informanten und Verbannten von niederem Rang in der ganzen Stadt aufstöberte, in dem Versuch, mehr über das körperliche Band zwischen Phoenix und mir herauszufinden. Und darüber, wie man es zerreißen kann.
Wie immer hatte ich etwas dagegen einzuwenden. Wie immer blieb er eisern.
Als ich an Lincolns Lagerhalle ankam, war ich wütend auf mich selbst, weil Lincoln darauf bestanden hatte, allein zu gehen, und ich es zugelassen hatte. Auf den Stufen vor dem Gebäude saß Evelyn.
Darauf war ich nicht vorbereitet, aber bestimmt würde sie nicht weggehen, und früher oder später mussten wir ja miteinander reden. Wenn wir erst mal an der Akademie waren, konnten wir uns nicht darauf verlassen, dass irgendeines unserer Gespräche privat blieb. Das bedeutete wohl jetzt oder nie.
Ich ging an ihr vorbei, schloss die Tür auf und ließ sie offen. Sie folgte mir und machte die Tür hinter sich zu.
Die Kaffeemaschine zog mich an wie ein Magnet, und ich fing an, zwei Tassen Kaffee zuzubereiten. Evelyn machte keine Anstalten, zu mir zu kommen, sondern schaute sich mit beunruhigender Neugier in Lincolns Wohnung um. Ich bemerkte, wie ihr Blick an den Decken hängen blieb, die noch von letzter Nacht über dem Sofa hingen, und wie sie dann zu der Wand schaute, die mit dem riesigen Tuch abgedeckt war.
Flüchtig fragte ich mich, ob Lincoln dahinter geschaut hatte, verwarf den Gedanken jedoch rasch wieder. Das würde er nicht tun.
Als Evelyn endlich zu mir trat, reichte ich ihr einen Latte.
»Danke«, sagte sie und rührte einen Löffel Zucker hinein. »Das ist eine großartige Wohnung. Das Licht ist herrlich.«
Das war es allerdings. Lincolns Lagerhalle hatte zwei riesige Bogenfenster, die sich in voller Höhe über den Raum erstreckten, in dem man ohne Weiteres noch ein zweites Stockwerk hätte unterbringen können.
»Du solltest es mal ganz früh am Morgen sehen«, sagte ich.
»Du übernachtest wohl oft hier?«
Ich verschränkte die Arme und lehnte mich an die Küchenbank, nicht bereit, darauf einzugehen. »Weißt du, wer er ist?«
»Wer?«
»Der Engel, der mich gemacht hat. Ich weiß, dass deiner Semangelof war. Ich weiß, du hast den Tauschhandel mit meinem geschlossen, er hat es mir gesagt. Also, weißt du, wer er ist?« Evelyn mochte zwar zu mir gekommen sein, das bedeutete aber nicht, dass ich nicht auch Fragen stellen konnte.
»Ja.« Sie war irritierend gut darin, immer denselben neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.
So lässt sich etwas erreichen.
»Nun, wer ist er?«
Sie nahm einen Schluck Kaffee. Eine Taktik um Zeit zu gewinnen. »Es ist nicht an mir, dir das zu sagen, und es ist besser, du weißt es nicht. Vorerst jedenfalls.« Sie seufzte, legte ihre Hände auf die Bank und beugte sich vor. »Ich wollte dich und deinen Dad nicht verlassen. Ich habe jede einzelne Sekunde der Zeit gespürt, in der ich von euch getrennt war. Aber ich würde alles wieder so machen. Du kannst mich hassen, wenn du willst – ich würde das auch tun, wenn ich du wäre – aber ich schaue dich an und verstehe … Ich habe dir vielleicht die Familie genommen, aber ich habe dir auch eine gegeben. Du bist eine Grigori – sie sind jetzt deine Familie, und du bist eine Kriegerin.«
Ich wandte mich von ihrem stechenden Blick ab. Ich konnte sie nicht an mich heranlassen. Ich konnte es einfach nicht. Mein ganzes Leben hatte ich ohne Mutter verbracht.
Was will sie von mir?
»Jetzt habe ich eine Frage an dich«, sagte sie, zufrieden, dass sie mich zum Schweigen gebracht hatte.
»Was?«, fragte ich, während ich noch immer alles verdaute.
»Du und Lincoln – seid ihr mehr als nur Partner? Griffin weigert sich, darüber zu reden. Ich muss es aber wissen.«
Ich nahm einen Schluck Kaffee. Sie zog die Augenbrauen nach oben.
»Ja. Nein. Es ist kompliziert«, antwortete ich.
Sie nickte. »Griffin hat mir von Rudyard und Nyla erzählt. Sie waren Freunde von mir.« Ihre Stimme versagte, und ich war erstaunt über ihre aufrichtige Trauer. Die meiste Zeit schien sie so kalt zu sein, aber jetzt nicht – offenbar waren sie wirklich ihre Freunde.
»Sie waren auch meine Freunde«, sagte ich. Als sie nichts erwiderte, fügte ich hinzu: »Phoenix hat das getan. Phoenix war der Grund, weshalb Rudyard gestorben ist.«
Evelyns Blick wurde grimmig. »Er wollte damit etwas demonstrieren?«
Ich nickte, Schuld legte sich schwer auf meine Brust.
»Du und Lincoln seid Seelenverwandte.«
Das war keine Frage, aber ich nickte trotzdem.
»Oh, ihr verdammten Mistkerle«, murmelte sie.
Fragend zog ich die Augenbrauen nach oben.
Sie schüttelte den Kopf. »Die Engel haben das mit Absicht gemacht. Sie wussten, dass du aus Liebe deine Wahl treffen würdest.«
Das war neu für mich. »Wie? Ich meine … Wie?«
Sie schüttelte immer noch den Kopf. »Weil ich ihnen gesagt habe, dass deine Entscheidung vom Herzen kommen würde.« Sie fixierte mich mit ihrem Blick. »Und James? Er war also nicht oft da?«
Unbehaglich zuckte ich mit den Schultern. »Er arbeitet viel.«
»Netter Versuch. Wie oft habt ihr zusammen Urlaub gemacht?«
Ich dachte an unseren einzigen Wochenendausflug zurück, der in einem Blutbad geendet hatte. »Nicht oft.«
»Und offenbar kann keiner von euch kochen«, bemerkte sie. Als sie mein Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Auf dem Backofen kleben immer noch Preisschilder. Und …«, ihr Blick wurde weicher und zugleich intensiver, »ich habe genug gehört, um zu wissen, dass dir vor ein paar Jahren jemand wehgetan hat.«
Ich senkte den Blick und machte mich auf die unvermeidlichen Fragen gefasst.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen – vielleicht aber auch wegen meiner Körpersprache –, seufzte sie. »Ich werde keine Fragen stellen. Es tut mir nur leid, dass ich nicht da war, um den Mistkerl für dich zu töten.«
Ich blinzelte Tränen weg.
Eine Zeit lang schwiegen wir beide. Keiner von uns wusste, wie es jetzt weitergehen sollte, aber jetzt war ich wohl an der Reihe, irgendetwas zu sagen.
»Der Engel, der mich gemacht hat, sagte mir, dass du dich auf einen Handel eingelassen hast. Ich dachte, es ging darum, dass du in den Himmel kommst oder so was. Aber so war es nicht, oder?«
Sie lächelte matt. »Nicht direkt. Der Deal bestand darin, zurückzukommen, falls Lilith zurückkommt.«
»Und dafür bist du in die Hölle gegangen?«
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Es war die einzige Möglichkeit, sicherzugehen, dass ich zur gleichen Zeit wie sie zurückkehre. Diese Dinge können sehr kompliziert sein. Ich will kein Mitleid von dir. Ich kannte den Preis und traf meine Entscheidung, ohne etwas zu bereuen. Das heißt nicht, dass ich nicht wünschte, ich hätte für dich da sein können. Für alles.«
Ich senkte den Blick und schüttelte rasch den Kopf. »Hat es wehgetan? Ich meine, in der Hölle?«
Ich spürte förmlich, wie es kalt im Zimmer wurde.
»Violet, versprich mir, dass du mir diese Frage nie wieder stellst, dann verspreche ich dir, es dir nie zu erzählen.«
Ein Teil von mir wollte darauf bestehen, dass sie es mir erzählte. Doch der andere Teil von mir verstand die Warnung in ihrer Stimme. Ich war mir sicher, dass wir beide an der Wahrheit zerbrechen würden, wenn sie sie aussprach. Deshalb nickte ich einfach.
Ich sah auf meine Uhr und dachte an Lincoln.
Ich hätte mit ihm gehen sollen.
»Sie wird kommen und uns holen«, sagte Evelyn nüchtern.
»Lilith? Ich glaube nicht. Sie will nur zerstören. Phoenix weiß, dass es nicht gut ist, weiterhin gegen uns zu kämpfen. Er wird sie dazu bringen, uns in Ruhe zu lassen.« Doch selbst ich glaubte nicht an meine Worte.
Evelyn heftete wieder ihren stahlblauen Blick auf mich. »Was Phoenix wollte, hat in dem Moment aufgehört von Bedeutung zu sein, als Lilith zurückkehrte. Sie ist das Alphatier unter den Verbannten und nimmt auf niemanden Rücksicht, nicht einmal auf ihn. Und ganz oben auf der Liste der zu tötenden Leute stehen ich und meine Tochter.«
Ich hörte mich selbst lachen, als würde ich aus weiter Ferne zuhören. Ich verlor die Nerven.
»Nun, das ist ja dann nicht schwer. Wenn Phoenix ihr egal ist, dann braucht sie ihn einfach nur umzubringen, und damit tötet sie mich dann auch.«
Bevor ich überhaupt registrieren konnte, dass sie sich bewegte, packte mich Evelyn so hart an den Schultern, dass es wehtat. »Wie kann es dir schaden, wenn Phoenix verletzt wird?«, schrie sie und schüttelte mich.
Meine Instinkte erwachten zum Leben und ich versuchte, sie wegzuschubsen, aber sie hielt mich fest und schüttelte mich erneut. »Wie?«, schrie sie. »Wie!?«
»Weil er mich geheilt hat!«, schrie ich zurück und sorgte dafür, dass mein nächster Versuch, sie zu schubsen, Wirkung zeigte. Ich stieß sie gegen die Speisekammer, während ich hinzufügte: »Ich lag im Sterben und er hat mich gerettet!«
Wieder stürzte sie sich auf mich, und ich machte mich zum Angriff bereit, doch stattdessen schlang sie die Arme um mich. Sie hielt mich so fest, dass ich kaum atmen konnte, und bevor ich es merkte, umarmte ich sie auch. Weinend erzählte ich ihr die ganze Geschichte, sagte ihr, wie ich Phoenix vertraut, wie ich meine Annahme vollzogen hatte, um Lincoln zu retten, wie Phoenix seine Fähigkeiten als Empath bei mir eingesetzt hatte, wie ich mit ihm geschlafen und er mich dann verraten hatte.
Ich erzählte ihr, wie sehr ich Lincoln liebte, wie unerträglich es schmerzte, in seiner Nähe zu sein. Ich erzählte ihr, dass wir in Jordanien geglaubt hatten, wir könnten zusammen sein, und wie Phoenix unsere Hoffnungen zerstört hatte, indem er Gressil Rudyard töten ließ. Dass jetzt das Einzige, was uns voneinander fernhielt, die Erinnerung an Nyla war und das Wissen, dass wir niemals zulassen würden, dass uns das passierte. Am Ende berichtete ich von meinem ersten Kampf, den ich im Hades gegen Joel und Onyx geführt hatte, dass Onyx mich mit seinem Schwert aufgespießt hatte und dass Lincoln bewusstlos gewesen war.
»Ich fühlte, wie mein Herz langsamer wurde, und dann war Phoenix da. Er heilte mich und rettete mir das Leben. Hinterher sagte ich zu ihm, er solle gehen und nie wieder zurückkommen«, gestand ich. Ich wusste, dass das der Augenblick gewesen war, in dem die Finsternis in ihm entfesselt wurde.
»Aber er konnte nicht wegbleiben«, sagte Evelyn und strich mir über das Haar.
Irgendwie waren wir auf dem Boden gelandet, noch immer lag ich fest in ihren Armen. »Du bist nicht die Einzige, die abhängig ist, meine Kleine. Er ist von dir angezogen. Das könnte am Ende unsere beste Waffe sein.«
Sie zog mich vom Boden hoch und setzte mich an den Esstisch, dann griff sie nach einer Tasche und zog eine Mappe mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln heraus.
Ich riss mich zusammen und sah auf die Uhr. Bald müsste Lincoln nach Hause kommen. Wenigstens war er nicht da gewesen, um Zeuge meines Zusammenbruchs zu werden.
»Das ist also mit unseren Zeitungen passiert.« Ich schlug einen leichten Tonfall an, den ich nicht durchhalten konnte. »Was ist das?«, fragte ich und klemmte mir verlegen die Haare hinter das Ohr, weil mir immer bewusster wurde, dass ich gerade einen totalen Nervenzusammenbruch vor dieser Frau gehabt hatte. Vor meiner Mutter! Und dann schoss mir eine weitere freudige Erkenntnis durch den Kopf …
Ich habe ihr soeben mitgeteilt, dass ich Sex mit einem Verbannten der Finsternis hatte!
Ich fühlte mich völlig entblößt und machte zu.
Denk an die Regeln: Nicht weglaufen, nicht aufgeben, keine Ammenmärchen. Ich darf vor ihr keine Schwäche zeigen.
Als ich mich wieder aus meiner Gedankenspirale herausgerissen hatte, merkte ich, dass Evelyn mich anstarrte. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und beugte sich über mich.
»Nicht«, sagte sie.
Ich blinzelte und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen ab. »Nicht was?«
»Glaubst du denn, du hast gar nichts von mir geerbt? Du tust genau das, was ich getan hätte, wenn ich gerade vor jemandem zusammengebrochen wäre, von dem ich mir geschworen hatte, dass ich niemals meinen Schutzschild vor ihm senken würde.«
»Wie bitte?« Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Du verschließt dich, und wenn du so weitermachst, dann bringt uns das nirgendwohin.« Sie seufzte und presste den Kiefer zusammen. »Es wird Zeit, dass du entscheidest, was ich tun soll. Ich weiß, dass ich nicht einfach die Mutterrolle übernehmen kann, das erwarte ich auch nicht. Ich weiß, dass ich ein Problem in deiner Beziehung zu deinem Vater darstelle, aber ich glaube kaum, dass es etwas helfen würde, wenn ich einfach aus seinem Leben verschwände, oder? Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als einen Mittelweg zu finden. Ich schlage vor, wir beginnen damit, zusammenzuarbeiten, um dieses Miststück zu töten.«
»Wer bist du?«
»Ich bin eine Grigori.« Sie lächelte. »Und ob es dir gefällt oder nicht, ich bin deine Mutter.«
Heilige Scheiße.
Sie musterte mich, als wüsste sie genau, was ich dachte. »Wir haben nicht viel Zeit, und ich muss den Rest erfahren, Violet. Und ich muss genau wissen, wer es noch weiß.«
»Wovon sprichst du?«, fragte ich nervös.
»Ich spreche von deinen Kräften. Ich weiß von den Sinneswahrnehmungen, deiner außergewöhnlichen Stärke, der Heilfähigkeit, und ich weiß, dass du mehrere Verbannte gleichzeitig festhalten kannst. Ich muss wissen, was immer du und Griffin verheimlicht. Und versuch erst gar nicht, so zu tun, als wäre da nichts.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, ihre Finger trommelten auf den Tisch, während ich gedanklich die Vor- und Nachteile, es ihr zu erzählen, durchging. Griffin hatte mir eingebläut, dass niemand anders von meiner »Sehkraft« wissen durfte. Er und Lincoln erforschten sie. Und auch wenn sie behaupteten, nichts Wesentliches gefunden zu haben, und sich dagegen sträubten zu spekulieren, wusste ich, dass das, was sie herausgefunden hatten, ihnen beiden Angst einjagte. Deshalb hatte ich Steph darauf angesetzt, ebenfalls daran zu arbeiten. Wenigstens würde sie es mir sagen, wenn sie etwas fand. Aber bisher … nichts.
Ich schlug einen lässigen Ton an. »Ich kann Dinge um mich herum sehen, wenn es nötig ist. Wir nennen es inzwischen Sehkraft.«
Evelyn machte große Augen. »Sehkraft? Wer nannte das so?«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum. »Phoenix.«
»Gütiger Himmel! Gibt es auch etwas, was der Feind nicht weiß?«
Ich verdrehte die Augen bei ihrem Ausbruch. »Ich wusste ja nicht, was es war, und wir waren damals nicht gerade Feinde.«
»Verlässt du dabei deinen Körper?«, fragte sie.
»Irgendwie schon. Es ist, als könnte ich überallhin gehen, wenn ich es mir nur erlaube. Es ist erstaunlich, ich sehe die Dinge dann anders.«
»Du siehst Energien.«
Jetzt war es an mir, große Augen zu machen. »Woher weißt du das?«
Sie presste die Lippen zusammen, blickte auf und schüttelte den Kopf.
»Kennst du andere Grigori, die diese Fähigkeit haben?«, fragte ich, als sie nichts sagte.
»Das ist keine Grigori-Eigenschaft, Violet. Kein menschlicher Grigori hatte jemals diese Sehkraft.« Sie seufzte.
Ich schluckte. »Wer dann?«
Evelyn betrachtete eingehend die Male um meine Handgelenke. Nach einiger Zeit ergriff sie eine meiner Hände, und ich ließ sie gewähren. Sie strich mit den Fingern über die Muster, die wie ein silberner Fluss um meine Handgelenke herum strömten. Etwas tief in mir verlieh ihnen diese Energie. Als Evelyn aufblickte, lag Furcht in ihren Augen, aber noch etwas anderes.
»Violet, Sehkraft ist etwas, was die Menschen nie hatten, weil es die Fähigkeit des Nicht-Körperlichen ist. Sehkraft ist die Fähigkeit von Engeln.«
Alte Ängste drangen an die Oberfläche. Seit meiner Annahme hatte ich mich immer gefragt, was aus mir werden würde, was ich hinter mir gelassen hatte. Ich schüttelte den Kopf und weigerte mich, diese Vorstellung in Betracht zu ziehen, was auch immer das für eine Vorstellung war.
»Nun, dann haben wir es falsch benannt, denn ich habe einen sehr realen Körper, wie du vielleicht sehen kannst«, sagte ich, wobei ich auf mich selbst deutete.
Sie lächelte. »Ja, das hast du. Und du musst dafür sorgen, dass du das nie vergisst. Sag mir, wenn du dich von dir selbst entfernst und deine Sehkraft einsetzt – stärkt dich das? Fühlst du dich dann unbesiegbar?«
Ich senkte den Blick und antwortete nicht. Ehrlich gesagt war es berauschend. Ich wusste, dass ich diese Fähigkeit noch kaum erforscht hatte – einerseits hatte ich Angst davor mir unbekannte Grenzen auszutesten, andererseits war das Verlangen zu sehen, wie weit ich gehen konnte, enorm.
»Sei vorsichtig mit dieser Verlockung. Setze die Sehkraft nur ein, wenn du keine andere Wahl hast, und begrenze die Zeit, in der du dir gestattest, dich dort hineinzubegeben.«
»Wo hineinzubegeben?«, fuhr ich sie an.
Evelyn schien besorgt zu sein, und das verunsicherte mich. Ich konnte förmlich sehen, wie ihr Gehirn auf Hochtouren lief und sie die nächsten Worte mit Bedacht wählte.
»Du bist ein Mensch, Violet. Vergiss das nie. Aber du hast auch engelhafte Eigenschaften von einem der mächtigsten Engel, der je existiert hat. Wenn ich raten sollte, dann würde ich sagen, dass du vielleicht der erste Mensch bist, der die Fähigkeit hat, sich zu erheben und zu einem Engel zu werden.«
Zu einem Engel.
Ich ließ den Kopf in meine Hände fallen und versuchte meine Gedanken davon abzuhalten, auf mich einzustürzen.
»Ich will darüber nicht reden.«
»Wer weiß sonst noch von deiner Sehkraft?«, fragte Evelyn weiter, als hätte sie nicht gerade eine gigantische – und womöglich speziesverändernde – Bombe über mir platzen lassen.
»Griffin, Lincoln, Steph, Phoenix …«
Sie schnaubte, alles andere als glücklich mit meiner Antwort. »Sonst noch jemand?«
Ich überlegte. »Spence. Er hat einmal gesehen, wie ich diese Fähigkeit eingesetzt habe.«
»Vertraust du ihm?«
Ich nickte. »Mit meinem Leben.«
Sie packte mich an der Schulter. »Da bist du dir besser sicher, denn das ist vielleicht genau das, worauf es letztendlich ankommen wird.«
Ich schüttelte sie ab. »Spence würde mich nicht verraten. Niemals.« Er hatte immer wieder seine Loyalität unter Beweis gestellt und dafür meine bekommen. Ich zog die Augenbrauen nach oben. »Was hättest du schon dagegen unternehmen können? Was, wenn ich dir gesagt hätte, man könnte ihm nicht trauen?«
Sie sah weg. »Das spielt keine Rolle. Du sagst, du vertraust ihm. Ich glaube dir. Aber sorg dafür, dass niemand anderes davon erfährt. Verstehst du? Das beweist, dass du von einem der Einzigen und dann auch noch von einem der mächtigsten unter ihnen erschaffen wurdest. Es gibt Leute, die alles andere als erfreut darüber sein werden, dies zu erfahren. Haben wir uns verstanden?«
Ich nickte, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, dann schaute ich wieder auf die Uhr und nahm mein Handy, um Lincoln anzurufen. Doch in dem Moment piepste es, weil eine SMS gekommen war.
Bin auf dem Nachhauseweg.
Nichts Erfreuliches.
L.
Erleichtert atmete ich auf – es ging ihm gut, auch wenn ich enttäuscht war, dass er kein Wundermittel gefunden hatte, um meine körperliche Verbindung mit Phoenix zu lösen. Ich sah wieder Evelyn an und entdeckte, dass sie ein Buch aus ihrer Tasche gezogen hatte, das jetzt auf dem Tisch lag.
Ich trank den Rest meines inzwischen kalten Kaffees. »Ich kann jetzt nicht mehr weiter über diese Dinge sprechen. Wie wäre es, wenn du mir zeigst, was das ist?«
Es stellte sich heraus, dass das Buch angefüllt war mit Zeitungsausschnitten aus aller Welt und Ausdrucken aus dem Internet. Jeder einzelne der Artikel bezog sich auf das Verschwinden, die Entführung oder den Verdacht der Ermordung einer Person, manchmal einer Gruppe, manchmal sogar einer Familie.
»Warum zeigst du mir das?«, fragte ich schließlich, weil ich nicht wusste, was das beweisen sollte, außer dass die Welt ziemlich verkorkst war.
»Was haben all diese Fälle gemeinsam?«, fragte sie und tippte dabei auf das Sammelalbum.
Ich rieb mir mit der Hand über das Gesicht. »Ich weiß nicht … dass sie tragisch sind.«
»Das einzig Konstante ist, dass in jeden Fall ein kleines Kind verwickelt ist und dass dieses Kind vermisst oder tot geglaubt ist. Wie auch immer die Umstände sind, es wurden keine Leichen gefunden.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich, während ich die Artikel studierte und das Muster ebenfalls erkannte. Allmählich machte ich mir Sorgen, worauf das hinauslief.
»Lilith hat Kindern schon immer den Tod gebracht.«
Ich nickte und dachte an die Geschichten zurück, die ich gelesen hatte. Als Lilith vor Adam geflohen war, schwor sie, Tod und Vernichtung über die Menschheit zu bringen und ihre Rache an den Kindern auszuleben. Deshalb war auch das Amulett so wichtig, das meine Mutter mir als Kind hinterlassen hatte. Lilith hatte mit den Engeln Sanoy, Sansenoy und Semangelof die Abmachung getroffen, dass sie Kindern, die deren Namen in einem Amulett bei sich trugen, nichts tun würde. Alle anderen Kinder waren jedoch Freiwild. Manche bezeichneten Lilith als den Ursprung des plötzlichen Kindstods. Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich.
»Wenn Phoenix ihr die Grigori-Schrift gegeben hat, wozu sie ihn gezwungen haben wird, bestünde ihr erster Angriffsplan darin, die Kinder auszulöschen – das verschafft ihr am meisten Befriedigung, und sie zeigt damit dem Himmel den Mittelfinger.«
Phoenix hatte versprochen, die Schrift niemals zu verwenden – er hatte sogar angedeutet, dass er offen dafür wäre, sie gegen etwas einzutauschen, was er lieber wollte. Das einzige Problem war, dass dieses Etwas zufällig ich war. Doch wenn Evelyn recht hatte, brauchte Lilith wohl nicht besonders viele Nachforschungen zu betreiben, um herauszufinden, dass die Schrift in seinem Besitz war, und dann …
»Oh, mein Gott! Das sind alles Kinder, die dazu bestimmt sind, Grigori zu werden. Sie schnappt sie sich und bringt jeden um, der sich ihr in den Weg stellt!«
Evelyn nickte. »Diese Artikel hier sind etwa zwei Wochen alt. Wie ich sie kenne, will sie irgendetwas Dramatisches inszenieren. Wenigstens haben wir dadurch eine Chance. Ich vermute, dass sie die Kinder am Leben halten wird, bis sie bereit für ihren großen Auftritt ist.«
»Wie bist du dahintergekommen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kenne sie.«
Na super.
»Weiß Griffin davon?«, fragte ich.
Evelyn trug unsere Tassen zur Spüle und fing an, sie abzuwaschen. »Ich habe ihm die Zeitungsausschnitte gezeigt.« Sie drehte den Wasserhahn zu und sah mich finster an. »Violet, Lilith ist nicht wie die anderen Verbannten, denen du bisher begegnet bist. Sie sind alle verrückt, aber Lilith … Lilith ist der Wahnsinn höchstpersönlich. Sie gibt ihn an andere weiter, treibt Leute in den Wahnsinn. Ich bin der Grund dafür, dass sie in der Hölle gelandet ist, und wenn sie dich jemals in die Finger kriegt, wird sie mich dafür bestrafen, indem sie dich vernichtet. Sie wird dich nicht nur umbringen, Violet, sie wird dich und alles, was dir am Herzen liegt zerstören. Ich werde nach New York gehen, aber für dich wäre es sicherer, wenn du mit Lincoln fliehen würdest. So weit weg von ihr, wie möglich.« Vorsichtig beobachtete sie meine Reaktion.
Ich sah wieder zu den Zeitungsausschnitten hinüber. Kinder, manche davon erst drei Jahre alt, waren vermisst gemeldet worden. Ein Artikel beschrieb, dass in Brasilien eine ganze Tankstelle in die Luft gejagt worden war und noch immer ein fünfjähriges Mädchen vermisst wurde, das vermutlich in den Flammen verbrannt war. In allen Fällen war die Familie ums Leben gekommen.
Lilith verwischte ihre Spuren. Und sie bewegte sich schnell.
»Wir wissen beide, dass du mich nicht eine Grigori hast werden lassen und die letzten siebzehn Jahre in der Hölle verbracht hast, damit ich fliehe und mich verstecke. Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber es gibt nur einen Weg, sie aufzuhalten, wie du schon ganz richtig gesagt hast – wir müssen sie töten.«
Evelyn lächelte, und unwillkürlich bekam ich ein wenig Angst vor der großen Menge Gewaltbereitschaft, die in diesem einen Gesichtsausdruck lag.
»Gut, gut. Immerhin bist du ja meine Tochter.«
Und mir wurde klar – ich hatte gerade ihren Test bestanden.
Das machte mich total sauer. Auch wenn ich seltsamerweise hochzufrieden mit mir war.