Geschichtlicher Hintergrund

Das Heilige Römische Reich

 

Mitte des 15. Jahrhunderts regierte der Habsburger Friedrich III. das Heilige Römische Reich. Sieben Kurfürsten wählten den König, drei geistliche (die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier) und vier weltliche (der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der König von Böhmen). Das Wort Kur bedeutet im alten Sprachgebrauch Wahl. Die Wahlregeln waren in der Goldenen Bulle festgelegt, einer Art Reichsverfassung für die damalige Zeit. Meistens folgte auf die Königswahl die Kaiserkrönung in Rom; der Herrscher erhielt vom Papst die geistliche Legitimation für sein Amt.

Im Westen des Heiligen Römischen Reiches hatten die beiden Großmächte England und Frankreich einen einhundert Jahre dauernden Krieg ohne förmlichen Friedensschluss beendet. Im Osten bedrohten die Osmanen das Reich. 1453 eroberten sie Konstantinopel, die Hauptstadt des einst mächtigen Byzantinischen Reiches. Byzanz war christlich; sein Fall löste im Abendland Entsetzen aus. Der Kampf gegen den vordringenden Islam war fortan eines der Hauptanliegen der Kaiser. Die von Gutenberg gedruckten und im Roman kurz erwähnten »Türkenkalender« gehören in diesen Zusammenhang (ein Aufruf an die christlichen Stände, gegen die osmanische Bedrohung vorzugehen).

Das Heilige Römische Reich zerfiel in eine Vielzahl kleinerer und größerer Herrschaftsgebiete. Die Städte hatten oft einen Sonderstatus, indem sie direkt dem Kaiser unterstanden. Man sprach dann von Freien Reichsstädten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts zählte man im Heiligen Römischen Reich mehr als 300 Staaten, Kleinstaaten und Reichsstädte, die größtenteils nach Autonomie strebten.

Die tatsächliche Macht des Kaisers war deshalb oft sehr begrenzt und nicht vergleichbar etwa mit der Position des Sultans im Osmanischen Reich. Oft bestand seine Hauptaufgabe im Repräsentieren, etwa auf Reichstagen. Wenn der Kaiser in den Krieg ziehen wollte, musste er sich mit den Fürsten und Großen im Reich abstimmen, damit sie die nötigen Gelder bewilligten. Der Ritterstand verlor an Bedeutung. Söldnerheere übernahmen seine Funktion, finanziert von mächtigen Territorialfürsten.

 

»Stadtluft macht frei«

 

Wenn Historiker definieren, worin sich das Mittelalter von der Neuzeit unterscheidet, gibt es drei Ereignisse, die sie fast immer als Wendepunkte nennen: Gutenbergs Erfindung der Druckkunst, Kolumbus’ Entdeckung Amerikas und Luthers Reformation der Kirche. Vieles spricht dafür, dass ohne Gutenberg weder die Seereisen der Portugiesen und Spanier noch Luthers Thesenanschlag stattgefunden hätten – zumindest aber wären sie ohne nachhaltige Wirkung geblieben. Erst die Druckkunst ermöglichte die Verbreitung neuer Ideen und Erkenntnisse.

Keimzelle für wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt waren in einer ansonsten landwirtschaftlich geprägten Welt die Städte. Sie waren – nach heutigem Standard – größere Dörfer, ihre Einwohnerzahl schwankte zwischen zweitausend und zehntausend. Vielen Städten gelang es, sich der Herrschaft eines Feudalherren zu entziehen. Innerhalb ihrer Mauern lebte man vergleichsweise unabhängig, woher der Satz rührt: Stadtluft macht frei. Nicht nur die in Zünften organisierten Handwerke blühten auf, sondern die Städte waren auch Zentren des Fernhandels und brachten die ersten Banken und Börsen hervor. Ferner beherbergten sie nach italienischem Vorbild Universitäten; auf die bereits im 14. Jahrhundert gegründeten Hochschulen von Prag, Wien, Heidelberg, Köln und Erfurt folgten im 15. Jahrhundert Würzburg, Leipzig, Rostock, Greifswald und Ingolstadt. Die Gründung der Mainzer Universität im Jahr 1477 erlebte Gutenberg nicht mehr.

 

Der Papst

 

Der Papst war nicht nur das geistliche Oberhaupt der Christenheit, sondern auch ein Territorialfürst. Während sich der Vatikanstaat heute auf einen Bezirk von Rom beschränkt, nahm der Kirchenstaat damals einen beträchtlichen Teil Oberitaliens ein.

In einem übergeordneten, weltpolitischen Sinn kämpfte der Papst seit Jahrhunderten mit dem Kaiser um die Vorherrschaft im Abendland – bei wechselnden Machtverhältnissen. Ein Einschnitt war der berühmte Gang nach Canossa, als Heinrich IV. sich in den Augen vieler Zeitgenossen demütigte, indem er Papst Gregor VII. gegenüber als Büßer auftrat, damit dieser ihn vom Kirchenbann löste (1077). Für einige Zeit galt der Papst als mächtigster Mann im Abendland. Konflikte mit dem französischen König führten jedoch zum Exil, und lange residierte der Papst in Avignon, wovon noch heute der prächtige, wehrhafte Palast zeugt (14. Jahrhundert). Schließlich kam es zur Spaltung der Kirche (Schisma) und zwei, zeitweise sogar drei Päpste standen zueinander in Konkurrenz. Konzilien bemühten sich darum, die Einheit der Christenheit wieder herzustellen. Erst im vier Jahre dauernden Konstanzer Konzil (1414-1418) einigte man sich wieder auf einen Papst. Den Böhmen Jan Hus verurteilte man in Konstanz als Ketzer und richtete ihn auf dem Scheiterhaufen hin.

Nicht nur die weltlichen, auch die geistlichen Herrscher im Heiligen Römischen Reich standen zum Papst in einem spannungsreichen Verhältnis. Den Erzbischöfen von Mainz, Köln und Trier, den Bischöfen und mächtigen Äbten nördlich der Alpen lagen die Absicherung und Stärkung ihrer Macht und ihres Territoriums näher als der Gehorsam gegenüber Rom. Ähnlich wie der Papst verfügten sie nicht nur über geistliche Autorität, sondern waren auch weltliche Herrscher. Ein großer Vorteil der kirchlichen Besitztümer lag darin, dass sie nicht durch Erbteilung bis zur Bedeutungslosigkeit aufgesplittert wurden.

In der Mitte des 15. Jahrhunderts – also etwa zur Zeit des Bibeldrucks – wurde der Ruf nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern immer lauter. Verschiedene Reformbewegungen konkurrierten mit der Kirche oder standen in offenem Gegensatz zu ihr.

 

Die Stadt Mainz

 

Mainz, bereits in der Antike Hauptstadt einer römischen Provinz, gehörte auch im Mittelalter zu den bedeutenden Städten nördlich der Alpen. Die günstige geographische Lage am Schnittpunkt von Rhein und Main mag hierfür ein Grund gewesen sein. Ab dem 8. Jahrhundert betrieb der angelsächsische Missionar Bonifatius von hier aus die Christianisierung des Ostens. Im Zusammenhang damit steht die Gründung des Erzbistums Mainz, das sich zu einer der bedeutendsten Kirchenprovinzen entwickelte. Mehr als zweihundert Jahre nach Bonifatius veranlasste Erzbischof Willigis den Bau des Mainzer Domes, noch heute Wahrzeichen der Stadt. Die Stellung von Mainz in der Folgezeit zeigt zum Beispiel der legendäre, von Kaiser Friedrich Barbarossa dort abgehaltene Hoftag, eines der prächtigsten und größten Feste des Hochmittelalters.

Zur Zeit Gutenbergs hatte Mainz viel von seinem ursprünglichen Glanz verloren. Dazu trugen verschiedene Faktoren bei, die im Roman (zumindest angedeutet) eine Rolle spielen: der Streit zwischen der Bürgerschaft und dem Erzbischof; der auf Leben und Tod geführte Kampf zwischen den Zünften und dem Patriziat; die Pest, die in mehreren Schüben die Stadt heimsuchte. Das einst blühende Mainz zählte deshalb Mitte des 15. Jahrhunderts nur noch etwa sechstausend Einwohner und war hoch verschuldet.

 

Dichtung und Wahrheit

 

Im Roman treten einige historische, größtenteils aber fiktive Persönlichkeiten auf. Der im Prolog erwähnte Papst Nikolaus V., seine Bemühungen um den Ausbau der Vatikanischen Bibliothek und seine Förderung der Wissenschaften und Künste sind verbürgt. Auch der Mainzer Kurfürst Dietrich von Erbach ist eine historische Persönlichkeit. Erbach ebenso wie Gutenberg kennen wir allerdings nur aus indirekten Zeugnissen, die sie hinterlassen haben; wir können nicht aus unmittelbaren Quellen auf ihre Persönlichkeit und ihren Charakter schließen. Wir wissen, dass Erbach sich um den Aufbau einer für die damalige Zeit vorbildlichen Kanzlei verdient gemacht hat. Auch Gutenbergs Name taucht in mehreren Dokumenten auf; häufig handelt es sich dabei um Rechtsstreitigkeiten. Insgesamt ist das Material sehr spärlich. Hier beginnt die Freiheit des Schriftstellers.

Beschreibt man als Autor also, wie es hätte gewesen sein können? Oscar Wilde trifft den Kern der Sache wohl besser: »Ausführlich zu schildern, was sich niemals ereignet hat, ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern auch das unveräußerliche Recht jedes Kulturmenschen.«

Dieses Zitat setzte Egon Friedell seiner berühmten »Kulturgeschichte der Neuzeit« voran. Und in einem ähnlichen Sinn heißt es bei Umberto Eco in der »Nachschrift zum Namen der Rose«: »Es hat eben jeder seine eigene (meist verdorbene) Idee vom Mittelalter.«