24.

 

T

homas hätte nicht sagen können, was ihn weckte. Er öffnete die Augen. Er hatte vor dem Schlafengehen die Läden einen Spaltbreit offen gelassen, so dass noch etwas Licht hereinfiel. Er fühlte sich unruhig. Da lag ein eigenartiger Geruch in der Luft! Ein Geruch, der nicht hierher gehörte und ihn irritierte! Kam das von draußen?

Er setzte sich im Bett auf. Es war still in seiner Wohnung. Auch von draußen hörte er keine Geräusche. Durch den Spalt zwischen den Fensterläden fiel Mondlicht ins Zimmer. Er konnte die Gegenstände im Zimmer erkennen, den Holztisch, seine Truhe, die er noch nicht ausgepackt, den Stuhl, über den er seine Kleidung geworfen hatte. Es musste mitten in der Nacht sein, vielleicht zwei oder drei Uhr. Die Stille war so vollkommen, dass er ein leises Knacken hörte, das bestimmt vom Holz kam. Als Kind konnte ihn so ein Laut ängstigen, er dachte dann, etwas schliche sich heran – bis sein Vater ihm erklärte, dass Holz »arbeitet«.

Er schien mehr etwas zu ahnen als zu riechen. Jeder Nerv in seinem Körper war angespannt. Wieder so ein Knacken im Holz. Es kam von unten. Das nächste Knacken war lauter und konnte nicht vom Holz stammen. Eher ein metallischer Klang. Es folgte ein Scharren, das längere Zeit anhielt. Kam das von der Eingangstür? In diesem Moment fiel ihm Gerlinde ein. Sie hatte den Schlüssel nicht zurückgebracht.

Die Geräusche blieben unterhalb der Schwelle dessen, was ihn normalerweise aufweckte. Sein Instinkt sagte ihm, dass jemand im Haus war. Dann glaubte er leise Schritte zu hören und ihn überfiel Panik. Das waren nicht die Schritte eines einzelnen Menschen, das waren viele. Die Erinnerung an einen wiederkehrenden Kindertraum flackerte in ihm auf: ein Rudel Wölfe, das auf ihn losging.

Er fühlte sich gelähmt und gleichzeitig spürte er Todesangst. Nur das Fenster kam als Fluchtmöglichkeit in Frage! Wie hoch lag es über dem Boden? Er schob seine Beine aus dem Bett und betete, dass die Dielen nicht knarrten! Zum Fenster waren es nur wenige Schritte. Langsam setzte er einen Fuß vor den andern.

Durch den Spalt im Laden spähte er hinunter auf die Gasse und wog ab, ob er einen Sprung riskieren konnte. Er war empfindlich, was Höhen betraf. Der Abstand vom Fenster bis zur Gasse verursachte ihm Schwindel! Ein Sprung kam nicht in Frage! Er würde keinen heilen Knochen im Leib behalten. Und dann sah er sie, denn die Nacht war hell!

Auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse, nahe bei den Häuserwänden, nahm er eine Bewegung wahr. Ein kurzes Schattenspiel, mehr nicht. Aber kurz darauf erkannte er die Gestalt eines groß gewachsenen Mannes. Wenn Thomas sich nicht täuschte, schaute der Mann hoch zu seinem Zimmerfenster. Und er sah einen zweiten Schatten.

Von unten drangen Geräusche herauf. Es klang, als sei ein Stuhl umgefallen. Jemand rief: »Idiot!« Dann knarrten die Treppenstufen! Er lief zu dem Stuhl, auf dem seine Kleider lagen und zwängte sich in die Hose. »Schnell!«, rief jemand. »Er ist wach

Thomas hatte kostbare Zeit verschenkt. Er rannte zum Fenster, stieß aber gegen den Tisch. Reflexartig stützte er sich mit den Händen ab. Als seine Hände die Tischplatte berührten, knisterte es. Die Pläne! Er hatte sie mit nach oben genommen und vor dem Schlafengehen hier abgelegt.

Mit einem Mal begriff er: Sie waren hinter den Plänen her! Er fuhr mit beiden Händen über den Tisch und drückte die Papierrollen gegeneinander. Eine fiel ihm zu Boden. Als er sich danach bückte, wurde die Kammertür aufgestoßen. Er wandte den Kopf zur Seite. Sie hielten Fackeln in den Händen und kamen ihm sie wie eine Masse vor, nicht voneinander zu unterscheiden.

Thomas stieß mit einem Ruck beide Fensterläden gegen die Hauswand. Er schwang sich auf den Sims. Mit dem linken Arm presste er die Pläne gegen seinen Oberkörper. Er schaute zur Tür, er schaute nach unten, stieß sich ab und fiel in die Tiefe.

 

Er spürte einen Schlag; plötzlich war ihm schwarz vor Augen, und dann schien er zu schweben. Noch bevor er sich bewegen konnte, begriff er, dass er bäuchlings im Schlamm lag. Einer Eingebung folgend, rollte er sich zur Seite. Er vernahm wie von fern den Aufprall eines Gegenstandes neben sich. Thomas riss die Augen auf und sah, dass jemand neben ihm stand, in gebeugter Haltung. Er zog die Beine an. Die folgenden Bewegungen liefen wie ein Reflex ab: Er ließ die angewinkelten Beine nach vorne schnellen und traf seinen Gegner. Der schrie auf, und etwas fiel zu Boden. Thomas griff danach. Es war eine Keule. Er umklammerte den Griff mit beiden Händen, nahm seinen Gegner nur als Schatten wahr, holte aus und schlug zu.

Ein seltsamer Laut, er hatte so ein Geräusch noch nie gehört. Der andere sackte in sich zusammen. In diesem Moment wurde Thomas von einem Schlag zu Boden geworfen. Er hörte ein Keuchen direkt neben sich. Gleich würden die anderen von drinnen kommen. Thomas hatte sich halb aufgerichtet, als ihn ein erneuter Schlag an der Wange traf. Er hatte die Keule fallen lassen. Er tastete nach ihr, fand sie neben seinen Knien im Schlamm. Thomas holte aus und schlug in die Richtung, in der er seinen Gegner vermutete. Aber der wich aus.

Thomas sprang auf. Erstmals hatte er das Gefühl, sich orientieren zu können. Er sah eine kleine Gestalt. Sie starrten sich an. Thomas entschloss sich zum Angriff. Aber in diesem Moment drehte der andere sich um und lief davon.

Thomas bückte sich und tastete mit den Händen im Schlamm. Er hörte Stimmen aus seiner Wohnung, und die ersten Fackeln, die schwachen Lichtschein auf die Gasse warfen, zeigten sich in der Nähe der Tür. Genug Licht, damit er sehen konnte, wo die Papierrollen lagen, nach denen er suchte – und nach denen vor allem sie suchten. Er sammelte sie hastig auf und lief los.

Er rannte die Gasse entlang, die etwa parallel zur Stadtmauer verlief. Aber er kam nur langsam voran. Er hatte Schmerzen im rechten Bein und hinkte. Jedes Mal, wenn er mit dem rechten Fuß auftrat, war ihm, als müsse er wegsacken.

Er bog um die Ecke und drückte sich an eine Hauswand. Hier würden sie ihn sehen. Er hastete zum angrenzenden Gebäude.

Er tastete sich an der Wand entlang, bis er zu einem Spalt kam, der das Haus vom Nachbargebäude trennte. Er schob sich hinein und arbeitete sich voran, obwohl es so eng war, dass er mit Brust und Rücken an den beiden Wänden entlang schrubbte und ihm der Lehm und Zweige, die hervorschauten, die Haut aufrissen. Die beiden Häuserwände rückten enger zusammen, je weiter er nach hinten kam. Er war eingeklemmt und hatte Angst zu ersticken.

Er hörte die Schritte seiner Verfolger. Lichtschein verriet ihm, dass sie nicht mehr weit sein konnten. Er stemmte seine Füße in den rutschigen Boden, um stärkeren Druck auf den Oberkörper auszuüben. Es gab einen Ruck, und er hatte sich aus der Umklammerung befreit. Mit einem Mal kam er zügiger voran, wenn auch seitwärts. Thomas erreichte das Ende des engen Durchlasses und schob sich um die Ecke. Wenige Augenblicke später leuchtete jemand mit der Fackel in den Spalt hinein. Der Lichtkegel fiel in einen Innenhof, und die beiden Hauswände, zwischen denen er sich durchgekämpft hatte, warfen Schatten. War er rechtzeitig um die Ecke gebogen, oder hatten sie ihn noch gesehen?

Er presste sich an den brüchigen, feuchten Lehm der hinteren Hauswand und hielt den Atem an. Im Fackelschein sah er im Innenhof eine Latrine, angrenzend einen Garten, der brach lag.

Das flackernde, gelbliche Licht verschwand, Thomas hörte Schritte, die leiser wurden.

Thomas trat in den Innenhof und blickte sich um, ohne viel zu erkennen. Er befand sich in einem Karree aus Häusern, an die Schuppen, Verschlage, Anbauten grenzten. Er zitterte. Er durchsuchte einen unverschlossenen Schuppen, fand aber nichts, was ihn vor der Kälte geschützt hätte.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs gab es einen breiten Durchgang, der zu einer Gasse führte. Thomas humpelte die Gasse entlang, auf Fackelschein und Geräusche lauernd. Er würde jetzt irgendwo anklopfen und um Hilfe bitten, auch wenn das riskant war. Gerade hatte er den Entschluss gefasst, da stand er vor einer hohen, dunklen Fläche, einem Tor vielleicht. Er drückte mit beiden Händen dagegen und hörte ein Quietschen. Seine Handflächen schienen Eis berührt zu haben. Die dunkle Fläche gab nach, und er betrat einen Raum, in dem er zunächst nichts wahrnahm als absolute Finsternis.