22.

 

T

homas saß am Küchentisch, als er draußen laute Stimmen hörte und das Stampfen von Schritten. Er öffnete die Tür und schaute hinaus. Zwei Jungen liefen an ihm vorbei, und der eine rief dem andern zu: »Sie bauen schon den Galgen.«

Er ließ sein Frühstück stehen und zog die Stiefel an und seinen Mantel. Viele Menschen strömten zum Marktplatz. In der Gasse hing Nebel, der vom Fluss kam. Thomas verriegelte die Tür des Wohnturms und folgte ihnen. In kleinen Gruppen standen die Leute zusammen und schauten etwa zwanzig Zimmerleuten zu, die unter höchstem Zeitdruck arbeiteten.

Drei Podeste für Galgen entstanden. Thomas drängte sich zwischen den Gruppen hindurch. Er hatte das Gefühl, dass die Leute ihn spöttisch ansahen, wenn er an ihnen vorbei ging, dass sie hinter seinem Rücken tuschelten. Mit weit ausholenden Schritten lief er zum Gericht, das an den Marktplatz grenzte. Ein Gerichtsdiener ignorierte ihn. Thomas ging zu dem Raum, in dem sich die Schöffen aufhielten. Nur einer war da, wahrscheinlich standen die andern irgendwo am Fenster und schauten zu, wie die Galgen gebaut wurden.

»Was geht da draußen vor sich?«, fragte Thomas.

Der Schöffe, ein kleiner Mann mit rötlichem Backenbart, der gerade ein Brot aß, blickte auf. »Eine kleine Hinrichtung.«

»Wer wird gehängt?« Thomas kam sich wie ein Dummkopf vor. Er war der Richter, es wäre seine Aufgabe gewesen, das Urteil zu fällen.

»Die Mörder, die wir gesucht haben«, sagte der Schöffe und kaute auf dem Bissen herum, der knochenhart sein musste. »Drei Landstreicher.«

»Wer hat sie festgenommen?«, fragte Thomas.

»Busch!«

»Und wer hat das Urteil gefällt?«

Der Schöffe lächelte. »Unser großer Herr und Meister persönlich.«

»Der Kurfürst?«

»Ihro Gnaden. Ganz recht.«

»Wann sollen sie hingerichtet werden?«

»Gegen Mittag. Hoffentlich brechen die Galgen nicht. Der Tag ist ideal, endlich mal kein Regen: Die Leute werden zufrieden sein.«

Thomas ging ohne weiteren Kommentar auf sein Zimmer, von wo aus er den Marktplatz sehen konnte. Die Hammerschläge drangen mit einer Deutlichkeit herein, als kämen sie aus dem Nebenraum. Er hätte gern mit Steininger gesprochen, aber er wollte nicht hinübergehen ins Nachbargebäude. Er lief in seinem Zimmer auf und ab und schaute manchmal auf den Platz. Die drei Galgen nahmen Gestalt an. Sie waren miteinander verbunden, was ihnen mehr Stabilität gab.

Es klopfte, und Steininger kam zur Tür herein.

Thomas betrachtete das Gesicht des alten Mannes, dessen Lippen so schmal wirkten, als habe er Essig geschluckt.

»Es sieht nicht gut aus«, sagte Steininger statt einer Begrüßung.

»Was zum Teufel soll das?« Thomas wies wütend mit der Hand Richtung Fenster.

Steininger zuckte mit den Schultern. »Erbachs Anordnung. Er hat die Geduld verloren.«

Thomas ging auf den Besucher zu, der immer noch bei der Tür stand. »Erzähl mir bitte nicht, dass die drei armen Schweine, die da gehängt werden sollen, die Mörder sind!«

»Habe ich das behauptet?«

Thomas spürte, dass er seinen Ärger kaum noch unter Kontrolle hatte. »Ich nehme an, es ist dir auch egal.«

»Was heißt egal?« Steininger streckte ihm seine knochigen Hände entgegen, die Innenflächen nach oben gekehrt. »Man kann sich auch über das Wetter aufregen oder darüber, dass man alt und krank wird. Es bringt nur nichts. Das ist höhere Gewalt.«

»Hier werden drei Unschuldige hingerichtet!«

»Ich bin nicht dafür verantwortlich. Erbach hat das Urteil gefällt.«

»Das ist gegen die Abmachung!«

Steininger zog die Brauen hoch. »Was für eine Abmachung?«

»Der Bischof hat mir eine Frist von drei Tagen gesetzt. Der dritte Tag ist noch nicht um.«

»Willst du dich vielleicht bei ihm darüber beschweren?« Steiningers Stimme wurde eine Nuance schärfer.

»Das werde ich tun«, sagte Thomas. »Er hat mich nicht über seinen Alleingang informiert!«

»Das ist es, weswegen ich hier bin.«

Mit einem Mal begriff er den Grund für Steiningers Kommen. »Bin ich entlassen?«, fragte er leise.

Steininger nickte wortlos. Thomas fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ich würde an deiner Stelle nach Köln zurückkehren«, sagte Steininger. »Ich werde deinem Vater schreiben und ihm alles erklären.«

»Ich möchte jetzt allein sein.«

»Da ist noch etwas, Thomas.«

»Reicht das nicht?«

»Ich verstehe, dass du wütend bist, mein Junge …«

»Ich bin nicht dein Junge!«

»Auch der Fürst war aufgebracht.«

»Soll ich dir sagen, was er mich kann, dein Fürst?«

»Er möchte … es wäre ratsam …«

»Komm zur Sache!«

»Du musst noch heute deine Sachen packen. Du darfst das Gebäude ab morgen nicht mehr betreten. – Ich konnte ihn nicht davon abbringen.«

Thomas wollte laut lachen, brachte aber nur einen gequälten Laut hervor. »Hast du noch eine Überraschung parat?«

»Ich wollte dir einen Rat geben.«

»Ich habe es gewusst.«

»Ich empfehle dir, die Stadt zu verlassen.«

»Du empfiehlst mir was?«, fragte Thomas.

»Du hast richtig gehört!«

»Ist das auf deinem Mist gewachsen?«

»Der Bischof.« Steininger räusperte sich. »Und in dem Fall ist es besser …«

»Ich bin ein freier Bürger.«

»Nicht hier in Mainz.« Steininger senkte den Kopf. »Ich gehe dann«, sagte er. »Eine Gruppe von Kaufleuten reist morgen nach Köln. Du könntest sie begleiten.«

»Wie fürsorglich!« Thomas schaute ihm in die Augen.

Steininger drehte sich um; und wie er den Raum ohne Gruß betreten hatte, so verließ er ihn ohne ein Wort des Abschieds.