5.

 

S

ie passierten die Stadtmauer beim Eisenturm, gingen am menschenleeren Hafen vorbei und folgten dem Treidelpfad. Es regnete weiter in Strömen, und Böen vom Fluss her trieben den beiden Männern Tropfen ins Gesicht. Sie erreichten den Wald, der keinen Schutz vor der Witterung bot. Thomas dachte an die junge Frau, von der Fuchs ihm einiges erzählt hatte. Gleich würde er sie als Tote sehen.

In der Abenddämmerung tauchte das Haus vor ihnen auf; Tür und Läden waren geöffnet. Thomas beschleunigte seine Schritte, um endlich ins Trockene zu kommen. Das Gebäude wirkte von weitem verwahrlost; es war aus Holzbalken errichtet, hatte Lehmwände und im schilfbedeckten Dach einen Rauchabzug für die Feuerstelle. Zum Boden hin waren die Balken und Wände schwarz.

Thomas hörte Stimmen, und als er über die Schwelle trat, sah er fünf Leute im Raum: eine Frau und vier Männer – davon zwei bewaffnet.

»Da ist ja unser Richter«, sagte Busch mit kurzem Blick auf Thomas.

Thomas schaute zu der Frau, die sich Tränen aus dem Gesicht wischte. Ihre Haare waren rötlich und trotz der Dunkelheit irgendwie schimmernd. Sie beachtete ihn nicht. Der Kommandant und der vierte Mann, der seiner Kleidung nach wohlhabend sein musste, standen zusammen und besprachen etwas.

Das Haus bestand aus einem einzigen Raum, der einen rechteckigen Grundriss hatte. Die Tür und ein mit Tierhaut bespanntes Fenster waren in einer Längsseite untergebracht, die Wand gegenüber hatte zwei Fenster. An der Schmalseite links der Tür befand sich die Feuerstelle, neben der Küchengeräte lagen. Im von der Tür entlegensten Winkel des Raums stand das Bett. Es passte nicht zur Umgebung, weil es prunkvoll wirkte; es war hoch und aus Holz gearbeitet, sogar mit Schnitzereien verziert und von einem Baldachin überwölbt. Ein dunkelgrüner Vorhang, der zum Baldachin gehörte, lag auf dem Boden. Der Raum, in dem eisige Kälte herrschte, bot einen chaotischen Anblick.

Eine Truhe neben dem Bett stand offen, ihr Inhalt lag über den Boden verteilt: Kleider, teilweise zerrissen. Nahe bei der Tür Tonscherben und zerbrochene Löffel und Holzschüsseln. Der Tisch und zwei Stühle, die ursprünglich wohl in der Raummitte standen, hatte man umgestoßen.

Die Tote lag mit dem Bauch nach unten auf dem kalten, strohbedeckten Lehmboden neben ihrem Bett. Thomas ging auf sie zu und sah das Messer in ihrem Rücken, das ihm riesenhaft vorkam.

»Ich bin der Vater«, sagte in diesem Moment der Mann, der bei Busch stand. »Da gibt es wohl keinen Zweifel!«

Thomas drehte sich um. »Keinen Zweifel woran?«

»Sie machen seit Wochen die Gegend unsicher. Ich rede von dieser Bande. Sie überfallen Kaufleute und Reisende. So ein abgelegenes Haus ist für sie ein gefundenes Fressen.«

Thomas zog die Brauen zusammen und wandte sich an Busch. »Habt Ihr und Eure Leute den Raum untersucht?«

»Untersucht?«, fragte Busch. »Was gibt es da zu untersuchen? Der Fall ist klar! Ihr habt es gerade gehört. Wir jagen sie seit Monaten. Aber immer entkommen sie uns im letzten Moment.«

»Ihr habt also nicht nach Spuren gesucht?«

»Wir sind hier fertig. Meine Männer werden die Tote mitnehmen.«

Thomas dachte an Köln und an sein Scheitern. Damals hatte er einfach nachgegeben und sich das Heft aus der Hand nehmen lassen. Sein Fehler hätte fast einen Unschuldigen das Leben gekostet. Das sollte kein zweites Mal geschehen. Gleichzeitig dachte Thomas an den Rat von Steininger, den Kommandanten nicht zu verärgern. Er bemühte sich, freundlich zu bleiben. »Ist irgendetwas hier im Raum verändert worden, seit Ihr gekommen seid?«

»Nein.«

»Bitte lasst die Tote noch liegen und auch sonst alles, wie es ist.«

»Wozu soll das gut sein?«, schaltete sich der Vater ein. »Wie lange soll sie noch hier liegen?«

Thomas hätte gewünscht, den Raum bei Tageslicht zu sehen. Jeder Täter hinterlässt Spuren, hatte Brand gesagt, kein Verbrechen geschieht, ohne dass Zeichen am Tatort zurückbleiben. Thomas hatte vor allem deshalb zu Brand aufgeschaut, weil er ein fortschrittlicher Mensch war, der nichts von Aberglauben und Vorurteilen hielt, sondern lieber seinen Verstand gebrauchte. Er ähnelte darin den italienischen Gelehrten, denen es nicht genügte, etwas zu glauben, zu vermuten, zu erahnen, sondern sie verfolgten die Dinge zurück zu ihren Ursprüngen, begaben sich auf Spurensuche, sammelten Belege, trugen Material zusammen, stellten Vergleiche an.

Aber noch etwas hatte Brand ihn gelehrt: Alles braucht seine Zeit. »Es ist nur eine Frage von zwei oder drei Stunden«, sagte Thomas. Er wollte keinen Streit provozieren.

»Was wollt Ihr tun?«, fragte der Vater.

»Es gibt hier einige offene Fragen, mit denen sich niemand befasst hat«, sagte Thomas.

»Zum Beispiel?«

»Wenn das wirklich eine Bande von Räubern war: Warum lassen sie dann die Kleider zurück?«

»Vielleicht haben sie sich nur für Geld interessiert«, sagte Busch.

»Hat Eure Tochter hier Geld aufbewahrt?«, fragte Thomas.

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte der Vater.

»Ihr spracht nicht über solche Dinge?«

»Wir sprachen überhaupt nicht miteinander.«

Er sagte das, als sei es selbstverständlich. Überhaupt zeigte er sich vom Tod seiner Tochter wenig beeindruckt. Seine ganze Haltung schien auszudrücken: Ich habe es schon immer gewusst!

»Sie besaß Geld, aber nicht viel«, sagte die Frau, die abseits stand.

»Ihr seid die Schwester?«

»Ja. Ich bin Katharina Roth.«

»Wo hat sie das Geld aufbewahrt?«

»Das weiß ich nicht. Aber sie hat manchmal von Ersparnissen gesprochen.«

»Eine größere Summe?«

»Möglich.«

»Wer hat die Tote gefunden?«

»Ich habe sie gefunden«, sagte sie.

Sie berichtete kurz darüber, wie sie die Leiche entdeckt hatte.

»Waren andere Leute in der Nähe?«

»Ein Hirte.«

»Geht der Sache morgen nach«, sagte Thomas zu Fuchs, der bei ihm stand. »Ich möchte wissen, ob der Mann etwas bemerkt hat!« Und zu Katharina. »Wann habt Ihr Eure Schwester zuletzt lebend gesehen?«

»Vielleicht vor einer Woche.«

»Hatte sie Feinde?«

Katharina wog ihre Worte genau ab. »Mir gegenüber hat sie nichts dergleichen erwähnt. Und ich möchte keine Spekulationen in die Welt setzen.«

»Eure Schwester lebte ganz allein in diesem Haus?«

»Ja.«

»Seit wann?«

»Seit etwa drei Jahren.«

»Wo hat sie vorher gewohnt?«

»Bei uns zu Hause.«

Thomas wandte sich an den Vater. »Wann hattet Ihr zuletzt Kontakt mit Eurer Tochter?«

»Kurz nachdem sie ausgezogen ist, war ich zweimal hier, um sie zur Vernunft zu bringen. Aber es war zwecklos!«

»Was ist zwischen Euch vorgefallen?«

»Das geht Euch nichts an.«

Thomas gab sich Mühe, seine Verärgerung nicht zu zeigen. »Wie ist Eure Tochter an das Haus gekommen?«

»Das würde mich auch interessieren.«

»Und wer hat vorher hier gewohnt?«

»Ein Köhler. Er war alt und konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Falls er noch lebt, wohnt er bei seinem Sohn, irgendwo in der Gegend von Speyer.«

»Hat Eure Tochter ihm das Haus abgekauft?«

»Ich sagte bereits: Ich weiß es nicht!«

Thomas presste die Lippen aufeinander. Er ließ Busch und Roth stehen und ging in die Ecke des Raums, wo die Tote neben ihrem Bett lag. Sie hatte den rechten Arm von sich gestreckt, während der linke am Körper anlag. Mitten aus ihrem Rücken, etwas unterhalb der Schulterblätter, ragte der Schaft des Messers hervor. Die Klinge steckte vollständig im Körper. Thomas hatte seit dem Morgen fast nichts gegessen, der Regen hatte seine Kleidung durchnässt, und er spürte, wie ihm übel wurde. Er hatte in seinem bisherigen Leben keine Erfahrungen mit dem Tod gemacht.

Klara Roth trug ein dünnes Kleid, auf dem sich rund um die Wunde ein dunkler Fleck abzeichnete. Thomas blieb reglos stehen, bis er sich etwas besser fühlte. Wahrscheinlich war er kreidebleich. Seine Beine fühlten sich zittrig an. Warum gab er Busch und dem Vater nicht einfach nach? Warum ließ er nicht zu, dass die beiden Wachmänner, die immer noch beim Fenster standen, die Leiche wegtransportierten? Warum ging er nicht in die Stadt zurück, besorgte sich etwas zu essen und legte sich ins Bett? Niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht. Am nächsten Tag könnte er Steininger Bericht erstatten und behaupten, es handele sich um einen Raubüberfall. Er hatte schon ein Händchen dafür, von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten und sich das Leben unnötig schwer zu machen!

Thomas kniete neben der Toten nieder, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Katharina Roth zu ihm kam. Die Männer im Raum beobachteten ihn wortlos. Obwohl er ihnen den Rücken zukehrte, glaubte er ihre missbilligenden Blicke zu spüren.

Er berührte die linke Hand der Toten, und sie fühlte sich kalt an. Er hatte in Bologna einen Kurs besucht, der sich mit dem menschlichen Körper beschäftigte. Er wusste, dass die Leichenstarre sich zeitlich nicht genau festlegen ließ, sie konnte nach vier Stunden eintreten, aber in anderen Fällen erst nach elf oder zwölf Stunden – und sie verschwand wieder mit Einsetzen der Fäulnis; das konnte bereits nach einem Tag geschehen oder auch erst nach fünf bis sechs Tagen. So hatte er es gelernt.

Klara Roths Körper war starr. Thomas berührte mit Daumen und Zeigefinger den Stoff nahe der Wunde, dort wo er sich dunkel gefärbt hatte. Er fühlte sich hart und verkrustet an.

Sein Blick fiel auf den Schaft des Messers, auf dem sich filigrane Schnitzereien abzeichneten; doch es war zu dunkel, als dass er Genaueres hätte erkennen können.

»Wir brauchen Licht.« Thomas hob den Kopf und schaute Katharina Roth an, die neben ihm stand. Er wunderte sich, dass er »wir« gesagt hatte.

Was war mit der Feuerstelle? Er erinnerte sich, beim Hereinkommen einen Haufen Asche bemerkt zu haben, die erkaltet wirkte. Oder verbarg sich darin noch Glut? Ein solches Detail konnte helfen, die Tatzeit einzugrenzen.

»Wir können hier nicht ewig stehen bleiben!«, sagte Busch und trat von einem Bein auf das andere. »Ich schlage vor, dass meine Männer die Tote jetzt mit in die Stadt nehmen.«

»Ich will Euch und Eure Leute und auch Herrn Roth nicht aufhalten. Aber die Tote lasst bitte hier. Ich habe meine Untersuchung gerade erst begonnen. Ihr hört dann von mir!« Thomas sagte das höflich, aber bestimmt. Solange die Besserwisser hier herumstanden, kam er auf keinen grünen Zweig.

Busch tauschte mit dem Vater viel sagende Blicke aus.

»Bis später!«, sagte Thomas.

Der Kaufmann schien noch etwas sagen zu wollen, aber Thomas kniete wieder neben der Toten und beachtete die beiden nicht. Der Kommandant machte seinen Männern ein Zeichen, und sie gingen zur Tür.

»Fuchs, Ihr könnt auch gehen«, sagte Thomas. Und zu Katharina: »Euch möchte ich bitten, noch zu bleiben.«

»Was soll das?«, fragte der Vater.

»Ich möchte ihr noch ein paar Fragen stellen.« Sie war die Einzige, von der er sich erhoffte, dass sie ihm weiterhalf.

Der Kaufmann schüttelte den Kopf, verließ aber mit den andern das Haus. Nur Katharina blieb zurück. Thomas war unzufrieden. Er hatte Busch und Roth verärgert. Gerade das hatte er vermeiden wollen! Würden sie sich über ihn beschweren? Offiziell stand er in der Hierarchie höher als Busch und war weisungsbefugt. Aber das entsprach nicht den tatsächlichen Machtverhältnissen. Und Roth unterhielt gute Kontakte zum Kurfürsten, wie Fuchs ihm erzählt hatte.

Katharina Roth schien Ähnliches zu denken. »Mein Vater kann sehr unangenehm werden«, sagte sie. »Ihr solltet vorsichtig sein!«

»Solange vier Leute im Raum stehen«, erwiderte Thomas, »die wissen, wer der Täter war, komme ich keinen Schritt weiter. – Wir brauchen Licht.« Thomas ging zur Feuerstelle, griff nach einem Stock und stocherte in der Asche. Dann fasste er mit der Hand hinein: Sie war vollständig kalt.

Von einem Brett an der Wand nahm Katharina einen Stein, ein Feuereisen, eine Kerze und Stücke von getrocknetem Baumpilz. Dann schlug sie mit dem Feuereisen an der Kante des Steins entlang, bis Funken auf den Pilz fielen, so dass er zu glühen anfing. »Bei der Tür liegt etwas Stroh«, sagte Katharina. Er holte es, und sie legte das Stroh auf den Zunderschwamm. Thomas beugte den Kopf nach vorn und pustete vorsichtig in die Glut, bis sich das Stroh entzündete. Kurze Zeit später brannte die Kerze, und sie brachten an der Herdstelle ein Feuer in Gang.

»Wir müssen uns das Messer genauer anschauen«, sagte Thomas.

Er nahm die Kerze, und sie gingen zur Toten. Sie betrachteten die Schnitzereien auf dem Schaft des Messers. »Das ist Elfenbein!«, sagte Katharina.

Thomas näherte die Flamme dem Schaft, den ein metallbeschlagener Knauf abschloss. In beide Flachseiten des Griffs waren Elfenbeinplatten eingelegt. Eine davon war vollständig mit keltischen Ornamenten bedeckt, die andere zeigte ähnliche Verzierungen, doch war in der Mitte eine ovale Fläche freigelassen mit der Darstellung einer Figur.

Thomas zeigte mit dem Finger darauf. »Was ist das?«

Katharina betrachtete die winzige, als Relief hervorgehobene Abbildung. »Sieht aus wie eine Heilige.«

Thomas warf ihr einen kurzen Blick zu und versuchte im Kerzenlicht die Farbe ihrer Augen zu bestimmen, die in mehreren Farben gleichzeitig zu schimmern schienen: blau, grün und grau. Dann konzentrierte er sich auf das Messer. Er sah eine schlanke Figur mit einer Krone auf dem Kopf; dass es sich um eine Frau handelte, verrieten die langen Haare, die vom schräg geneigten Kopf bis zur Hüfte herabfielen. Sie hielt etwas in der Hand, ein Heiligenattribut offenbar. Er konnte den Gegenstand nicht identifizieren.

»Komisches Ding«, sagte Thomas. »Unten zylindrisch und oben kegelförmig.«

Katharina hörte nicht zu. »Schaut nur, ihre Hand.«

Sie sprach von der Toten, die den rechten Arm von sich gestreckt hatte.

»Was ist damit?«

»Der Zeigefinger! Es ist, als wolle sie auf etwas deuten!«

Thomas schaute auf die rechte Hand. »Das ist Zufall.«

Katharina stand auf, und Thomas hielt die Kerze mit der unruhigen Flamme in die Höhe. Klara Roths Körper lag parallel zum Bett, und wenn man die Linie ihres Arms verlängerte, wies er auf die hintere Wand des ehemaligen Köhlerhauses.

Dort stand bei der Wand ein Schemel, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Thomas musste nur einen kurzen Blick auf die Holzschnitte werfen, um zu erkennen, worum es sich handelte. »Das ist ein Totentanz!«, sagte er.