10.
T
homas war froh, in seiner neuen Wohnung zu sein, und er hatte es sich nach einem anstrengenden Tag bequem gemacht. Steininger hatte ihn – vorübergehend, wie er sagte – in einem der Türme untergebracht, die den westlichen Teil der Stadtmauer zum Fluss hin überragten. Es gab an dieser Stelle kein großes Tor für Lastkarren, sondern nur einen kleinen Durchlass neben dem Turm in der Mauer. Sein Vorgänger hatte in einem Haus am Markt gewohnt. Der Turm hatte sechs Geschosse, in denen teilweise Waffen der Stadtwache und der Bürgerwehr lagerten, und im lang gezogenen, steilen Dach zusätzlich vier Fenster. Vier Erker in der Form von Miniaturtürmen flankierten das Dach. Zwei boten Blick auf den Hafen, den Fluss und das weitgehend flache Umland mit vereinzelten Ortschaften; die anderen beiden lagen zur Stadt hin.
Im Erdgeschoss befand sich der Wohnraum mit Kamin. Auf einem Tisch in der Mitte des Raums stand ein Krug mit Wein, ein Laib Brot lag dort und Käse und ein Beutelbuch, wie man es auf Reisen bei sich trug. Thomas saß auf einem Schemel, hatte die Stiefel ausgezogen und streckte seine verfrorenen Füße dem Feuer entgegen. Aber es gelang ihm nicht, sich zu entspannen, denn der Mordfall beschäftigte ihn weiter, und er dachte an den Baumeister und seine Frau. Konnte man Metz einen Mord zutrauen? Oder war – falls seine Frau von einem Verhältnis mit Klara Roth wusste – ein Verbrechen aus Eifersucht denkbar? Aber warum hätten sie das Messer am Tatort zurücklassen sollen?
Es klopfte, und Thomas, der mit keinem Besuch mehr rechnete, schaute missmutig zur verriegelten Tür; auch die Fensterläden waren geschlossen. Er ging zum Eingang und legte die Hand an das Schloss: »Wer ist dort?«
»Ich bin’s, Katharina!«
Thomas machte auf, und sie stand in einem langen, dunkelroten Mantel vor ihm; um den Kopf hatte sie ein Tuch gebunden, das im eisigen Wind flatterte. Er trat zur Seite und ließ sie herein. Die Flammen im Kamin sorgten auf ihrem geröteten Gesicht für ein eigenartiges Licht-und-Schatten-Spiel. Sie löste das Tuch und warf es achtlos auf eine Truhe. Thomas schaute die Gasse hinauf und hinunter, ehe er die Tür zumachte. Katharina Roth hatte bei ihm um diese Zeit nichts zu suchen. Seine Position in der Stadt stand ohnehin auf wackligen Füßen. Andererseits hasste er Konventionen, und er hatte oft das Gefühl, in der falschen Zeit zu leben.
»Ich muss mit dir sprechen«, sagte sie.
»Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich in die Messe gehe.«
»Und falls sie herausfinden, dass du nicht dort warst?«
»Dann sage ich, ich hätte eine Freundin getroffen.«
Er wies auf den Tisch. »Ich wollte gerade essen.«
»Gib mir Wein!«
Sie setzten sich, und er füllte zwei Becher. Sie fragte ihn, wie er den Tag verbracht habe, und er berichtete ihr über die Gespräche vom Nachmittag. »Den Mord traue ich Metz nicht zu«, sagte Thomas, »aber er verschweigt etwas. Ich vermute, dass er ein Verhältnis mit Klara hatte. Aber wie soll ich das beweisen?«
»Auch ich habe dir etwas verschwiegen«, sagte Katharina. »Deshalb bin ich hier.«
Er erwiderte nichts, und sie fuhr fort: »Du hast mich gefragt, ob Klara einen Liebhaber hatte. Ich konnte damals nicht darüber reden. Sie hatte nicht nur einen Liebhaber, sie hatte viele! Wenn ihr ein Mann gefiel, dann ließ sie sich mit ihm ein. Sie hat darüber – ohne Namen zu nennen – offen gesprochen. Auf diese Weise ist sie auch an das Köhlerhaus gekommen. Sie hatte ein Verhältnis mit dem alten Köhler, und bevor er vor einigen Jahren wegzog, hat er es ihr hinterlassen.«
»Ihre Liebhaber besuchten sie dort?«
»Das abgelegene Haus war ideal.« Etwas an der Art, wie sie das sagte, ließ ihn aufhorchen.
»Ich möchte mehr über diese Männer wissen«, sagte er. »Auch wenn du keine Namen weißt! Aber vielleicht hat sie andere Dinge erwähnt, Details, die uns weiterbringen, scheinbare Nebensächlichkeiten …«
Katharina trank vom Wein und lächelte. »Sie sagte nur einmal, dass einer von ihnen ein Geistlicher sei und dass sie mit ihm ›den Teufel austreiben‹ spiele.«
Thomas kannte die Novelle im Decamerone, aus der das Wortspiel stammte. »Gehört er einem Orden an?«, fragte er.
»Keine Ahnung.«
»Sie nahm von den Männern Geschenke und Geld?«
»Vermutlich schon.«
Katharina reichte ihm den Becher, und er füllte nach; auch sich selbst goss er ein. »Sie war schon immer so«, sagte Katharina. »Sie hat als Jugendliche Dinge getan, die sonst niemand gewagt hätte. Ich jedenfalls nicht.«
»Erzähl mir von ihr! Ich möchte ein Bild von ihrem Leben und ihrer Person bekommen.«
Obwohl sie sich noch nicht lange kannten, empfand Thomas etwas wie Vertrautheit ihr gegenüber. Er spürte, wie lebhaft sie sein konnte, wenn sie sprach und ihre Worte mit eindringlichen Gesten begleitete. Wenn sie den Kopf nach vorne beugte, verschwand der größte Teil des Gesichts zwischen ihren rötlichen, lockigen Haaren.
»Einmal im Sommer besuchten Klara und ich Verwandte auf dem Land. Sie war verschwunden, und ich suchte sie überall. Dann sah ich sie in der Ferne über eine Wiese laufen, aber jemand war bei ihr, ein Mann. Die beiden liefen so schnell, dass ich ihnen kaum folgen konnte. Sie verschwanden in einer Scheune. Ich wartete eine Weile, aber Klara und der Mann kamen nicht wieder raus. Ich ging auf die Scheune zu und zum Tor, das nur angelehnt war. Ich schaute hinein und konnte nichts sehen. Als meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah ich eine Leiter, die zum Heuboden führte. Klara und der Mann mussten dort oben sein.«
Katharina machte eine Pause und ließ sich den Becher füllen. »Ich war zwölf oder dreizehn … und Klara drei Jahre älter. Ich hörte ein eigenartiges Geräusch, das ich kannte. Jetzt konnte ich der Versuchung nicht länger widerstehen und schob sachte das Tor weiter auf. Es quietschte leise. Ich zwängte mich durch den schmalen Spalt ins Innere der Scheune. Sünde! Das Wort schoss mir durch den Kopf. Schon unreine Gedanken sind Sünde, hatte am Sonntag der Prediger behauptet. Es gab einen zweiten Heuboden, und ich ging zu der Leiter, die hinaufführte. Ich stieg hoch, und als ich oben war, konnte ich die beiden noch immer nicht sehen, nur hören. Statt den Blick abzuwenden und das Laster zu fliehen, folgte ich ihm neugierig, um endlich zu sehen, wovon immer nur in Andeutungen gesprochen wurde. Meine Augen hatten sich ans Dunkel gewöhnt, und ich konnte nun meine Schwester und den Mann auf dem gegenüberliegenden Boden beobachten. Ich kannte ihn, er war Zimmermann und Vater von zwei Kindern. Die beiden haben mich nicht entdeckt.«
Katharina fuhr sich mit den Händen über die Augen. »Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, was Sünde ist?«, fragte sie Thomas und fasste ihn bei der Hand.
Er wollte etwas sagen, aber sie legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. Dann beugte sie sich zu ihm herüber und küsste ihn. Es war seit seiner Zeit in Italien das erste Mal, dass eine Frau ihn küsste. Er sah ihr Gesicht so nah wie noch nie und entdeckte feinste Härchen auf ihrer Haut; sie hatte die Augen geschlossen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Hatte sie noch andere Liebhaber? Wie ihre Schwester? Plötzlich wirkte sie auf ihn wie eine Frau mit Erfahrung.
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, wobei der Mantel, den sie anbehalten hatte, zu Boden glitt. Sie trug ein langes weißes Kleid, an der Taille mit Bändern verschnürt; von den Hüften fiel es in Falten zu Boden, oben aber war das Kleid weit ausgeschnitten, bis zum Ansatz ihres Busens. Er legte seine Hände unsicher an ihre Schultern, aber sie zog seinen Kopf zu sich herüber. Der nächste Kuss war länger.
»Das«, sagte sie, »ist der wahre Grund, weshalb ich komme.«
Seine linke Hand glitt ihren Rücken entlang, und er fühlte unter dem dünnen Stoff Katharinas warmen Körper. Als er den Nacken berührte, kitzelten ihre Haare auf seinem Handrücken.
Während er mit seinen Fingern in ihrem Haar spielte, küsste sie ihn am Hals. Sie ergreift gern die Initiative, dachte er, und es steigerte seine Erregung. Seine freie Hand wanderte unter ihr Kleid, und behutsam ertastete er den Ansatz ihrer Brust. Auch sie wurde mutiger und sein Kopf schien sich zu drehen. Plötzlich löste sie sich von ihm, schob ihn mit beiden Armen weg. Sie stand auf und ging um den Tisch herum zum Kamin, wo die gelbroten Flammen am trockenen Buchenholz züngelten. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sich mit dem Rücken zum Feuer. Sie schaute ihm in die Augen, während sie die Schnüre ihres Kleids löste und es langsam über die Schultern streifte. Er sah es über ihre Brust gleiten. Das Kleid fiel zu Boden: Mit einer nur angedeuteten Geste des Kopfes bedeutete sie ihm, zu ihr zu kommen, und er gehorchte. Sie befreite ihn von sämtlichen Kleidungsstücken, bis er ebenfalls nackt war.
Sie legten sich auf ein Fell vor dem Kamin. Was ist, wenn sie ein Kind bekommt, dachte er? Ihr Gesicht war ernst. Eine Weile schauten sie sich in die Augen. Das zerstreute seine Bedenken. Sie streichelte seine Wange. Er wünschte sich, sie zu kennen, ihre Gedanken zu lesen. Die Flammen erzeugten ein prickelndes Gefühl auf dem Rücken, den er dem Feuer zugewandt hatte.
Er fand, er habe nie etwas so Schönes gesehen wie ihren Körper. Sie war schlank, hatte helle Haut, und die Brüste waren sehr klein. Ihre Gestalt hatte etwas Jungenhaftes. Er berührte ihre Schenkel, seine Hand folgte der Linie ihrer Hüften, und er küsste ihre Brüste – die Augen, ihre Stirn, sogar ihr Ohr. Sie schmiegten sich aneinander, bis es schmerzte und sich auf der Haut rote Flecken abzeichneten.
Thomas legte sich auf den Rücken, und sie kitzelte mit ihren Haaren seine Brust. Er empfand Lust an ihrer Neugierde, an den forschenden Blicken.
In diesem Moment klopfte es an der Tür.