3.

 

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um Schluss wie immer das lateinische Sprichwort.«

Zehn Jungen und zwei Mädchen, die auf niedrigen Holzbänken saßen, starrten die Lehrerin an, und die Gesichter verrieten ihr, dass ihre Ankündigung auf wenig Gegenliebe stieß. Katharina Roth, an solche Reaktionen gewöhnt, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Matthias!«, rief sie einen Jungen auf, der in der Nase bohrte und aus dem Fenster schaute. »Welchen Spruch haben wir auswendig gelernt?«

»Können wir keine deutschen Sprüche lernen?« Matthias hielt den Blick jetzt auf seine Hand gerichtet und bewegte Daumen und Zeigefinger hin und her.

»Die deutschen Sprüche kennt jeder, die lernt ihr auf der Straße. Die lateinischen lernt ihr nur bei mir.«

»Mein Vater sagt, Latein ist Quatsch!«

Die Lehrerin trat hinter ihrem Pult hervor und stemmte die Fäuste in die Hüften. Sie war klein und warf ihre rotblonden Haare in den Nacken. Ihre Augen funkelten. »Wilfried, sag du den Spruch!«

»Quod licet Iovi non licet bovi.«

»Was heißt das?«

»Was Jupiter erlaubt ist, ist einem Ochsen noch lange nicht erlaubt.«

»Den Spruch kannst du deinem Vater aufsagen, Matthias. Und damit genug für heute.«

Die Schüler klemmten ihre Wachstafeln unter den Arm und eilten aus dem Raum. Katharina Roth blieb allein zurück und verstaute ein lateinisches Grammatikbuch und verschiedene Schreibgriffel in ihrem Lederbeutel. Sie wusste, dass ihr Temperament wieder einmal mit ihr durchgegangen war. Sie musste lernen, sich klüger zu verhalten. Matthias hatte die Anspielung verstanden und würde seinem Vater Bericht erstatten. Damit stand Ärger ins Haus. Wenn sie es sich mit den Eltern verdarb, stand sie bald ohne Arbeit da.

Sie verließ das ›Zur Isenburg‹ genannte Zunfthaus der Krämer, in dem der Unterricht stattfand. Zunächst überquerte sie eine schmale Gasse, dann den freien Platz vor dem Kaufhaus am Brand, dessen mächtiger Steinfassade mit Statuen der sieben Kurfürsten sie keine Beachtung schenkte. Der Regen beschleunigte ihre Schritte. Ihr Vater leitete das Kaufhaus, in dem es zuging wie in einem Taubenschlag. Menschen kamen und gingen. Sie sah den alten Franz, der seit vielen Jahren dort arbeitete, beim Eingang stehen und mit einem Händler ein Schwätzchen halten.

Katharina ging Richtung Dom, in dessen Eingang sie Frauen und Mönche verschwinden sah. Als sie ein zweistöckiges, am Marktplatz schräg neben der Münze gelegenes Fachwerkhaus betrat, spürte sie einen seltsamen Druck auf der Brust.

»Katharina, du kommst zu spät! Wir sind bei Tisch.« Die Stimme ihrer Mutter. Katharina legte den durchnässten Mantel ab. Ihr Vater, ihre Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder saßen bereits in der Küche am Mittagstisch. Katharina hatte den ungeliebten Brei und das Dörrobst schon gerochen, bevor sie den Raum betrat. Die Fünf löffelten schweigend.

Sie setzte sich neben die Mutter und füllte ihren Teller aus einem in der Mitte stehenden Topf. Auf dem Tisch lagen Brotstücke. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihren Vater. Seine Laune schien nicht die beste zu sein.

»Was hat dich diesmal aufgehalten?«, fragte er.

»Ein kluger Spruch.«

Katharinas Vater hatte mit Tuchen gehandelt und Verbindungen in ganz Europa unterhalten, bevor er die Leitung des Kaufhauses übernahm. Er hatte gehofft, dass einer der Söhne ins Geschäft einstieg, aber sie ergriffen andere Berufe.

»Es wird Zeit, dass du heiratest«, sagte er unvermittelt. Das war sein Lieblingsthema. Einleitender Worte bedurfte es schon lange nicht mehr.

Katharina erwiderte: »Ich denke nicht daran.«

»Man macht sich schon lustig über mich«, sagte er. Immerhin hatte er sie bisher nicht gezwungen.

»Das sind Dummköpfe!«, sagte Katharina.

»Bilde dir nur nichts darauf ein, dass du Lehrerin bist.«

»Was soll das heißen?«

»Es gibt erfolgreiche Menschen, die weder lesen noch schreiben können.«

»Erfolg und Dummheit schließen sich nicht aus.«

Katharina war schlecht gelaunt und in der Stimmung, einen Streit vom Zaun zu brechen. Erst letzte Woche hatte sie polternd das Haus verlassen. Aber schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder dorthin zurückzukehren.

»Ich will mein Leben nicht in der Küche verbringen«, sagte sie.

»Warum redest du immer von der Küche?« Es war ihre jüngste Schwester, die sich einmischte. »Du kochst doch nie!«

»Wie stellst du dir dein zukünftiges Leben vor?«, fragte ihr Vater.

Katharina warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Einen Moment erwog sie, seine Frage offen zu beantworten. Aber sie hätte ihm sagen müssen, dass sie in der Enge ihres Elternhauses zu ersticken glaubte. Dabei hätte ein Außenstehender sie für glücklich halten müssen. Aber sie wollte nicht heiraten, sondern einem Beruf nachgehen. Als der alte Lehrer starb, hatte sie sich den Eltern der Kinder als Übergangslösung angeboten. Das lag ein Jahr zurück und sie hatte die Stelle noch immer.

Katharina vermied einen Streit. Nach dem Essen ging sie in ihre Kammer, in der früher das Dienstmädchen geschlafen hatte. Ein kleines Fenster schaute auf den Hof, und außer einem Bett und einer Truhe befanden sich in dem Raum keine Möbelstücke.

Der Konflikt mit ihrem Vater erinnerte sie an ihre Schwester Klara. Früher hatte man sie häufig miteinander verwechselt. Klara lebte heute außerhalb der Stadtmauer, in einem ehemaligen Köhlerhaus. Köhler galten als »unehrliche Leute«. Katharina war die Einzige aus der Familie, die sich gelegentlich mit Klara traf. Sie hatte ihre Schwester seit mehr als einer Woche nicht gesehen.

Die Kinder hatten heute fasziniert von der Räuberbande gesprochen, die Buschs Leuten entwischt war. Katharina beschloss, Klara in ihrem Haus vor der Stadt zu besuchen. Sie machte sich auf den Weg, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Ihr Vater war sicher schon wieder im Kaufhaus. Katharina erinnerte sich an Gesprächsfetzen, die sie in den letzten Tagen aufgeschnappt hatte. Reisende waren in der Nähe von Mainz überfallen und ausgeraubt worden. Sicher wäre es klüger gewesen, zu Hause zu bleiben, aber die Sorge um Klara überwog.

Nachdem Katharina das Fischtor passierte hatte, ging sie am Hafen entlang, wo im Winter wenig Betrieb herrschte. Die Fläche zwischen der Stadtmauer und den Kais war gepflastert. Der Fluss führte weder Eis noch Hochwasser, so dass immerhin fünf Schiffe an den Kaimauern lagen, an denen Ladearbeiten stattfanden. Die übrigen würden erst wieder im Frühjahr zum Einsatz kommen. Lastenträger mit durchnässten Mänteln schleppten Ballen, Kisten und Fässer auf die Schiffe oder an Land. Pferde- und Ochsenkarren pendelten zwischen den Stadttoren und den Kais. Auch auf der Schiffsmühle wurde gearbeitet. Das schnell drehende Mühlrad war zwischen zwei fest verankerten und vertäuten Kähnen angebracht. Eine Frau trug einen prall gefüllten Sack unter Deck.

Auf den Hafen folgte ein Treidelpfad, der im Sommer festgetreten, jetzt aber matschig war. Ihn säumten in unregelmäßigen Abständen Pappeln und Weiden. Der Rhein floss breit und dunkel. Katharina liebte den Fluss. Sie war in Mainz geboren und kannte ihn schon, bevor sie denken konnte. Sie warf einen Blick aufs andere Ufer, wo der Main mündete. Dort gab es im Sommer hohes Gras, in dem sie manchmal lag und den Wolken nachschaute.

Katharina bog nach links; ein schmaler Pfad führte durch die Rheinauen auf den Wald zu. Ihre Schwester würde überrascht sein. Meistens trafen sie sich auf dem Markt. Klara verkaufte dort Kräuter, weshalb manche sie für eine Hexe hielten. Katharina betrat den kleinen, nicht weit vom Fluss gelegenen Wald.

Die Bäume waren kahl, ihre nackten Äste und Zweige bildeten ein verworrenes, schwarzes Muster vor dem verregneten Himmel. Katharina zog ihren Mantel enger um die Schultern. Sie roch das faulige Laub vom vorigen Jahr, das den Waldboden und den Weg bedeckte. Es war hier so still, dass sie nur ihre Schritte hörte und das Schreien einer Krähe.

Zwischen Bäumen sah sie das Haus ihrer Schwester; eigentlich mehr eine Hütte. Etwas irritierte sie. Sie wusste jedoch nicht zu sagen, was genau es war. Dass kein Rauch aus dem Schornstein stieg? Die Stille? Nein. Jetzt fiel es ihr auf: Der Fensterladen der Frontseite war geschlossen! Bei Tag stand er immer offen! Beunruhigt ging sie weiter.

In diesem Moment lenkte sie ein Geräusch ab, das hinter einem Gebüsch junger Buchen hervorkam. Sie blieb stehen, lauschte und atmete schneller. Sie hörte ein Scharren, dann verschiedene Laute, die sich überlagerten und nicht voneinander zu trennen waren! Sie ging im Schutz von Baumstämmen geräuschlos auf das Gestrüpp zu. Eine Männerstimme sagte: »Verdammt! Weg da!«

Sie hörte ein Pochen, wie wenn jemand mit einem Stock auf Holz schlägt. Katharina konnte noch immer nichts sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie näherte sich vorsichtig dem Geräusch und atmete erleichtert auf. Dort wühlten etwa zwanzig Schweine im Laub, bewacht von einem Hirten, der sie beisammen hielt. Die Tiere hatten den Waldboden durchfurcht und fraßen, was sie an Eicheln und Bucheckern vom letzten Herbst finden konnten.

Der Schweinehirte schaute überrascht auf, als er Katharina sah, winkte ihr dann aber mit seinem Stab zu. Er trug einen dicken Wintermantel, über den sein mächtiger Bart hervorragte. Katharina winkte flüchtig zurück, drehte sich – zur Enttäuschung des Hirten – abrupt um und ging zurück zum Weg, den sie verlassen hatte. Sie war sich fast sicher, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen sein musste. Hoffentlich täuschte sie sich; hoffentlich war ihre Sorge nichts weiter als die Ausgeburt einer überspannten Fantasie! Erneut kam das niedrige Haus in ihr Blickfeld. Sie blieb in einiger Entfernung stehen und wagte nicht, weiterzugehen. Warum war der Fensterladen geschlossen? Ihre Schwester verließ die Hütte nie für länger als ein paar Stunden. Und wenn sie in die Stadt auf den Markt ging, dann schloss sie nicht die Läden, das wusste Katharina. Ihre Schwester hatte feste Gewohnheiten, von denen sie nicht abwich.

Katharina gab sich einen Ruck und ging zögernd auf das Haus zu. Dabei achtete sie auf Geräusche, aber außer dem Scharren im Laub war alles still. Katharina stand nur wenige Meter vom Haus entfernt. Vielleicht wollte ihre Schwester jemanden besuchen und über Nacht wegbleiben. Aber sie wollte nicht wirklich an diese Möglichkeit glauben. Oder war Klara krank? Instinktiv spürte Katharina, dass keine dieser Möglichkeiten zutraf.

Sie fasste die Tür ins Auge. Erst jetzt, aus kurzer Distanz, erkannte sie, dass sie offen stand. Ein winziger Spalt. Katharina schaute zum Himmel: Es war erst Nachmittag und schien doch schon Nacht zu werden. Sie nahm ihren Mut zusammen und trat vor die Tür. Sie streckte die Hand aus und drückte gegen das Holz. Die Tür quietschte in den Angeln und gab ein Stück nach. Katharina schaute nach drinnen, sah aber nichts als Dunkelheit.

Sie stieß mit einem entschiedenen Ruck die Tür weit auf. Sie trat auf die Schwelle. Ihre Augen mussten sich erst an die Finsternis gewöhnen. Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum, der zugleich als Wohn-, Ess- und Schlafzimmer diente. Schemen zeichneten sich ab: das Bett, der Tisch. Zwei Stühle waren umgefallen und lagen auf dem Boden. Sie betrat den Raum und wandte sich nach rechts. Sie tastete sich an der Wand entlang bis zum Fenster, schob den Riegel zurück und öffnete den Laden. Katharina schaute sich um. Küchengeschirr lag zerbrochen am Boden. Der Raum wirkte verwüstet. Ihr Blick fiel wieder auf die umgefallenen Stühle. Dann schaute sie nach rechts. Sie machte zwei Schritte, blieb abrupt stehen und presste beide Hände gegen den Mund …