6.

 

T

homas und Katharina standen in der Nähe des Feuers, das endlich wärmte. Thomas überblickte den Raum, den sie gerade durchsucht hatten. Viele Details waren ihnen aufgefallen, aber eine überzeugende Spur hatte sich nicht ergeben.

»Ich glaube nicht an einen Raubmord!«, sagte Thomas.

»Weshalb nicht?«

Etwas an der Art, wie sie fragte, irritierte ihn. »Wegen der Sachen, die man zurückgelassen hat. Auch wegen des Messers! Es ist wertvoll.«

Katharina gab keine Antwort. Der Griff war auffällig … Sie schien zu überlegen, ob sie das Messer oder ein ähnliches schon einmal irgendwo gesehen hatte.

»Könnte das Messer Eurer Schwester gehört haben?«, fragte Thomas.

»Kann ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls habe ich es nie bei ihr gesehen.«

Im Grunde hatte die Sucherei nicht viel gebracht, und das ärgerte Thomas. Sie hatten die Kleidung der Toten und ihre Küchengeräte untersucht, ohne weiterzukommen. Die Tatwaffe blieb die wichtigste Spur, und der Mörder hatte sie mit fast schon provokativer Offenheit zurückgelassen. Vielleicht kannte jemand aus der Stadt das Messer? Man musste die Leute fragen! Und was war mit dem Buch, in dem Klara Roth zuletzt gelesen hatte? Konnte es einen Hinweis auf den Täter liefern?

»Wir wissen nicht einmal«, sagte Thomas, »ob wir es mit einem Täter zu tun haben oder mit mehreren. Und warum diese Verwüstung? Welchem Zweck dient es, hier alles kurz und klein zu schlagen?«

»Der nächstliegende Gedanke ist Wut!«, sagte Katharina. »Jemand kommt zu meiner Schwester, und sie kennt diese Person, lässt sie herein. Die Tür wurde jedenfalls nicht aufgebrochen. Nehmen wir an, zwischen Klara und dem Mörder ist es zu einem Streit gekommen. Er verliert die Nerven und tötet sie.«

»Welches Motiv kommt in Frage?«

»Vielleicht«, erwiderte Katharina, »ging es dem Täter nicht um Schmuck und Geld. Er kann etwas ganz anderes gesucht haben! Aber was?«

Es gefiel Thomas, dass sie keine vorgefasste Meinung hatte.

»Aber wenn ich etwas suche«, fuhr er fort, »zerreiße ich dann Kleider und schlage Schüsseln zu Bruch?«

»Möglicherweise aus Ärger, das Gesuchte nicht zu finden …«

»Oder der Mörder will uns auf eine falsche Spur lenken. Er verarbeitet alles zu Kleinholz, um uns zu täuschen und von dem tatsächlichen Motiv abzulenken.«

»Mir lässt dieses Buch keine Ruhe«, sagte Katharina.

»Dann schauen wir es uns noch mal an.«

Thomas stellte den umgeworfenen Tisch auf, während Katharina das Buch holte und auf die Holzplatte legte. Sie hatten vorhin schon darin geblättert, ohne etwas zu finden, was sie weitergebracht hätte.

»Etwas an diesem Buch kommt mir merkwürdig vor, aber ich kann nicht genau sagen, was es ist?«

»Der Text und die Bilder wurden gedruckt«, sagte Thomas. Das war ihm schon vorhin aufgefallen, aber er hatte der Tatsache kein Gewicht beigemessen.

»Was heißt das?«

»Das ist eine besondere Methode, ein Buch herzustellen. Stellt Euch vor, jemand hat die Umrisse eines Heiligen auf ein Blatt Papier oder Pergament gemalt. Jetzt geht er hin und überträgt seine Darstellung seitenverkehrt auf eine ebene Holzplatte.«

»Weshalb seitenverkehrt?«

»Er nimmt sich ein Schnitzmesser und entfernt alles, bis auf die Linien, aus denen das Bild besteht: Sagen wir also, man sieht die Umrisse des Heiligen. Unser unbekannter Künstler bestreicht die Linien, die erhöht aus der Holzplatte hervortreten, mit schwarzer Farbe und presst die Platte auf ein Stück Papier. Dort erscheint ein Abdruck des Bildes: nicht seitenverkehrt, sondern so, wie es auf der Vorlage aussah. Und auf diese Art kann man vom Heiligen Christopherus, vom Heiligen Martin oder der Jungfrau Maria in kürzester Zeit mehr Bilder produzieren als zehn Maler das von Hand in der gleichen Zeit tun könnten. Kein schlechtes Geschäft übrigens!«

»Ich habe von diesen Büchern gehört«, sagte Katharina, »aber noch nie eins gesehen.«

»Die Technik gibt es schon länger«, sagte Thomas. »Man kann auf diese Art viele, fast identische Exemplare eines Buches herstellen. Man trägt so lange neue Farbe auf und stellt Abzüge her, bis der Holzstock bricht oder die Buchstaben nicht mehr leserlich sind. Leider nutzt sich Holz schnell ab.«

Er merkte, dass das Thema sie interessierte. »Es gibt also irgendwo Bücher«, sagte Katharina, »die diesem hier gleichen wie ein Ei dem andern? Und bei all diesen Büchern sehen die Illustrationen, die Initialen, die Buchstaben sich zum Verwechseln ähnlich? Eine verrückte Vorstellung, fast ein wenig beängstigend! Für mich war ein Buch immer etwas Einmaliges, Besonderes. Ich weiß, dass man Münzen mit Hilfe von Prägestempeln vervielfältigen kann. Und im Tuchgewerbe, in Flandern und England, soll es große Hallen geben mit Webstühlen, wo Frauen wie Sklaven arbeiten und Kleidungsstücke herstellen, die alle gleich aussehen. Aber ein Buch so herzustellen, dass es zum Massenartikel wird – der Gedanke erschreckt mich!«

So ähnlich war es Thomas gegangen, als er zum ersten Mal von der neuen Methode gehört hatte. »Andererseits ist die Idee faszinierend«, sagte er. »Man muss sich doch nur einmal in den großen Städten umschauen: Der Bedarf an Büchern wird mit jedem Jahr größer, und es gibt nicht genug Schreiber, ihn zu decken.«

Katharina blätterte in dem Totentanz. »Ich frage mich nur, was an diesen Totentänzen so schön sein soll. Mich stoßen sie eher ab.« Sie betrachtete eine Illustration: Ein Skelett vollführte mit den Beinen Tanzbewegungen und hielt eine Flöte an die bleckenden Zähne des Totenschädels. Galt die Melodie, die das lebensfrohe Skelett spielte, einer jungen Frau am rechten Bildrand? Sie hatte eine üppige Figur, war ansehnlich, nach Art wohlhabender Bürgerstöchter gekleidet und wirkte wie das pralle Leben selbst.

»Man will uns erinnern«, sagte Thomas, »dass der Tod unser heimlicher Begleiter ist – wenn wir am wenigsten mit ihm rechnen, steht er bereit und kann uns rufen!«

»Eine unerträgliche Vorstellung!« Katharina blätterte weiter. Das Skelett war musikalisch und wechselte das Instrument, war mal mit einem Dudelsack zu sehen, mal mit einer Geige, dann wieder mit einer Trompete; ebenso wechselten die Figuren am rechten Bildrand, ein reicher Kaufmann war zu sehen, ein Bettler, ein König, eine Nonne: Die Melodie galt allen!

Der Text, in deutscher Sprache gereimt, sprach davon, dass der Tod ohne Ansehen der Person oder des Standes seine Ernte hielt.

»Ich wusste gar nicht, dass sich meine Schwester mit so was beschäftigte«, sagte Katharina. »Sie war immer so … voller Leben!« Dann stutzte sie: »Das ist aber von Hand geschrieben!« Sie zeigte auf ein paar Worte am Rand einer Seite. Neben dem tanzenden Skelett zeigte die Abbildung einen Schreiber, er stand am Pult und kopierte ein Buch, den Kopf nach vorn gebeugt, eine Feder in der Hand; neben dem Buch, in das er schrieb, befand sich ein Tintenhorn, rechts von der Abbildung standen zwei Worte.

Katharina versuchte sie zu entziffern. »Schwarze Kunst!«, buchstabierte sie unsicher. Dann schaute sie überrascht auf.

»Ist das die Schrift Eurer Schwester?«, fragte Thomas.

»Ganz ohne Zweifel.«

Sie schauten wie gebannt auf die beiden Worte. »Die Sache wird rätselhaft«, sagte Thomas. »Mit dem Begriff ›Schwarze Kunst‹ würde ich Magie und Teufelskram verbinden. Nicht weil ich selbst daran glaube – aber die meisten Menschen, die ich kenne, sind abergläubisch.« Er verkniff sich die Bemerkung, dass die Kirche manchmal ein Interesse daran hatte, den Aberglauben zu schüren. »Hat Eure Schwester sich mit Magie und ähnlichen Dingen beschäftigt?«

Katharina blätterte weiter im Buch und betrachtete die Skelette und ihre Musikkünste: »Viele Leute haben sie für eine Hexe gehalten. Natürlich konnte sie genauso wenig zaubern wie Ihr oder ich. Aber sie hat was von Kräutern verstanden und ihre Wirkungen studiert. Sie kannte die Schriften der Hildegard von Bingen, und es ging ihr darum, Kranken zu helfen, sie von ihren Gebrechen zu heilen. Die meisten Leute setzen Naturkenntnis mit Hexerei gleich …«

Während Katharina sprach, schaute Thomas hinüber zur Leiche. Er nahm die Kerze vom Tisch, trug sie hinüber zur Toten und kniete neben ihr auf den Boden. Er hatte die Tatwaffe inspiziert und die Gegenstände im Wohnraum, aber noch nicht die Leiche selbst. Klara Roth trug ein dünnes, gelblichweißes Kleid aus Leinen, auf dem sich ein großer Blutfleck abzeichnete. Er zerriss das Kleidungsstück und suchte nach Spuren von Misshandlung. Das Gesicht der Toten wirkte, als schlafe sie. Er konnte nichts entdecken und drehte sie auf die Seite. Da sah er zwei blaue Flecken unterhalb der rechten Brust: Vermutlich hatte sie dorthin Schläge bekommen. Thomas fiel die eigenartige Haltung des Kopfes und Nackens auf. Er betastete die Halswirbelsäule und schaute zu Katharina auf. »Ihr Genick ist gebrochen«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das vom Sturz gekommen ist.«

Katharina kam zögerlich näher. »Was soll das heißen?«

Er untersuchte den Hals und entdeckte eine blutunterlaufene Stelle. »Ich glaube, hier hat sie einen Schlag hinbekommen.«

Er blickte sich im Zimmer um, konnte aber nichts entdecken, was dafür in Frage kam. »Ich kann es nicht beweisen, aber ich halte es für möglich, dass sie an diesem Schlag gestorben ist.«

»Aber das würde bedeuten, dass sie schon tot war, bevor man sie erstach! Warum soll man eine Tote erstechen?«

»Es macht nur dann Sinn, wenn meine Vermutung von vorhin zutrifft, dass der Täter uns irreführen will.« Thomas stand auf. »Nehmen wir an, der Mörder stammt aus der Stadt und weiß von den Gerüchten um die Räuberbande. Er nutzt das aus und täuscht einen Raubmord vor. Vielleicht kennt er Busch und weiß, dass der sich nicht die Mühe machen wird, die Leiche zu untersuchen, weil seine Meinung sowieso schon feststeht. Busch denkt nicht daran, seine eigene Meinung zu hinterfragen.«

Es war im Moment aber noch zu früh, Schlussfolgerungen zu ziehen. Thomas dachte an seinen Mentor in Köln, der ihn gelehrt hatte, dass es wichtig ist, sich von den Lebensumständen eines Mordopfers ein detailliertes Bild zu machen. »Sammele Fakten, so viel du kannst!«, hatte er immer gesagt. »Halte nichts für unbrauchbar! Der Teufel versteckt sich in den kleinen Dingen.«

Thomas legte eine Decke über die Leiche, und sie gingen zurück zum Feuer. »Erzählt mir von Eurer Familie!«, bat er Katharina.

»Was wollt Ihr wissen?«, fragte sie.

Er spürte, dass es ihr unangenehm war, darüber zu sprechen. »Mich interessiert vor allem, warum Eure Schwester das Elternhaus verlassen hat, um hier allein zu wohnen. Das ist sehr ungewöhnlich für eine junge Frau!«

Katharina zuckte mit den Schultern und zögerte, ehe sie auf seine Frage einging. »Klara war sehr eigen, schon als Kind, und mit den Jahren wurde sie immer aufsässiger. Sie konnte sich nie mit der Aufgabe abfinden, die einer Frau gewöhnlich zugedacht wird. Sie hätte es als schrecklich empfunden, ihr Leben als Hausfrau und Mutter zu verbringen. Sie sei nicht bereit, sich einem Mann zu unterwerfen, hat sie einmal gesagt, als wir über das Thema sprachen.«

»Habt Ihr häufiger darüber gesprochen?«

Katharina lächelte. »In dem Punkt ähnelten wir uns, und das verband uns auch am stärksten. Sie konnte sich zum Beispiel furchtbar über Predigten aufregen, die wir zu dem Thema hörten. ›Das Weib sei dem Mann untertan‹ und so weiter.«

Das war ein Lieblingsthema der Priester, und Thomas hatte Ähnliches von der Kanzel oft genug selbst gehört. »Gab es darüber Streit mit dem Vater?«, fragte er.

»Nicht zu knapp!«, erwiderte Katharina. »Für meinen Vater hat die Welt eine fest gefügte, gottgewollte Ordnung. Er wäre beinahe Theologe geworden und nimmt die Bibel wortwörtlich: Für ihn wurde die Welt in sechs Tagen erschaffen, und Eva entstammt Adams Rippe. Klara wurde verrückt, wenn sie das hörte …«

»War sie Atheistin?«

»Das will ich nicht sagen, aber die kirchliche Lehrmeinung verachtete sie. Vater verehrt den Apostel Paulus, der behauptet, der Mann sei das Haupt der Frau. An diese Formulierung kann ich mich gut erinnern. Klara hat sich maßlos geärgert, weil Vater ähnlich denkt.«

»Seid Ihr und Eure Schwester besonders streng erzogen worden?«

»Ich glaube nicht, dass er strenger zu uns war, als andere Väter zu ihren Töchtern. Vater hat immer das letzte Wort und duldet keine Kritik. Andererseits ist er nachsichtiger als viele Väter. Aber Klara begehrte auf – und irgendwie steckte sie mich damit an.«

»Wie ist sie an dieses Haus gekommen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Gab es Menschen, die ihr besonders nahe standen? Eine gute Freundin?«

»Ich glaube nicht.«

»Hatte sie einen Liebhaber?«

Katharina zuckte verlegen mit den Schultern.

»Es ist wichtig!«

»Ich weiß darüber nichts«, sagte sie schließlich, aber Thomas hatte das Gefühl, dass sie etwas verschwieg. Er beschloss, sie bei einer passenden Gelegenheit nochmals danach zu fragen.

»Ich glaube«, sagte er, »wir sollten uns auf den Rückweg machen. Hier gibt es vorläufig nichts mehr zu tun.«

Sie zogen ihre Mäntel an und löschten das Feuer. Thomas klemmte sich das Buch unter den Arm, warf einen letzten Blick in den Raum und öffnete die Tür; sofort trieb ihm der Wind den unermüdlichen Regen ins Gesicht. Er schloss die Tür, und sie machten sich auf den Rückweg; es war mittlerweile so dunkel, dass sie die Hand vor Augen kaum sahen. Er würde veranlassen, dass man die Tote unverzüglich in die Stadt brachte.