28.

 

B

ologna hielt den Kopf in beide Hände gestützt und starrte in die Flamme der Öllampe, die vor ihm auf dem Holztisch stand. Er befand sich wieder im Kloster. Der größte Teil des Raums lag im Dunkeln, während die Gegenstände in seiner Nähe lange Schatten warfen. Er dachte daran, dass seine Leute den Richter hatten entkommen lassen. Auch die Pläne waren ihm durch die Lappen gegangen, bis auf ein Fragment, das vom Mehrfarbendruck handelte und nicht viel nützte. Es war absehbar, dass der Richter versuchen würde, Gutenberg zu warnen.

Bologna rieb sich die Schläfen. Noch mehr regte er sich darüber auf, dass seine Männer zeitweise Katharina Roth aus den Augen verloren hatten. Sie war ihnen aus dem Kaufhaus entwischt. Hennings Fehler, der dachte, ein Mann reiche aus, sie zu überwachen! Was hatte sie im Kaufhaus gesucht? Sie war wieder zu Hause, bei ihren Eltern. Waren die Pläne jetzt bei ihr? Wahrscheinlich würde sie aus Angst das Haus nicht mehr verlassen.

Er würde einen letzten Versuch machen, an die Pläne zu kommen. Notfalls musste es auch ohne sie gehen. Überhaupt machte es keinen Sinn mehr, die Hauptaufgabe länger hinauszuschieben. Gutenberg wusste wahrscheinlich, dass man ihn ausspioniert hatte. Aber über das wirkliche Ausmaß der Gefahr, in der er schwebte, war er nicht im Bild.

Der Mord an Klara kam ihm in den Sinn: Wer steckte dahinter? Und wer hatte einen Grund, den Baumeister zu töten? Gab es einen Konkurrenten, der die Früchte ernten wollte, die Bologna gesät hatte?

Aber außer ihm und Henning wusste niemand Bescheid. Und für Henning kam das alles genauso unerwartet wie für ihn selbst. Hoffentlich eine Eifersuchtsgeschichte, die mit Gutenberg nichts zu tun hatte.

Fastnacht stand vor der Tür. Auf diesen Termin hatte Bologna alles zugeschnitten. Gutenberg würde seine Leute nicht in der Werkstatt halten können. Bolognas Informanten hatten sich umgehört, in den Wirtshäusern herumgetrieben und mit Gutenbergs Leuten Bier getrunken. Sie gaben nichts über die Erfindung preis, auch nicht, wenn sie betrunken waren. Aber sie hatten erzählt, wie sehr sie sich auf Fastnacht freuten und dass die Arbeit dann ruhte. Offenbar hatte Gutenberg nur schweren Herzens zugestimmt. Aber er wusste, dass er seinen Leuten nicht zu viel zumuten durfte. Der Hof und die Werkstatt würden unbewacht sein. Zumindest bis die Männer vom Feiern zurückkamen – also nicht vor den frühen Morgenstunden. Das waren wenige Stunden, in denen sie handeln mussten. Bologna hatte die Aktion genau geplant. Henning würde sie durchführen.

Was das Versteck betraf, musste er Henning dankbar sein; das hatte er gut eingefädelt. Wenn alles gelang und wenn der Papst starb – dann endlich begann seine große Zeit …

 

Wenige Menschen begegneten Thomas, der allein in seiner Mönchskutte durch die Kälte stapfte. Er und Katharina waren bei anbrechender Dunkelheit aus dem Kaufhaus entkommen. Die Flucht verlief so problemlos, dass Thomas dem Frieden nicht traute. Er hatte sie zum Haus der Eltern begleitet, wo sie sich trennten. Mittlerweile kannte Thomas seinen Weg durch die Gassen besser. Die Synagoge bot einen Orientierungspunkt, und er näherte sich Gutenbergs Hof ohne Umwege.

Thomas erreichte die Gasse, in der das Anwesen des Erfinders lag, betrat sie aber nicht. Bei der Werkstatt eines Seilmachers blieb er stehen. Es war mittlerweile finster, aber trotzdem bemerkte er bald einen Mann, der den Eingang zu Gutenbergs Wohnhaus bewachte.

Vielleicht war es einer der Männer, die ihn letzte Nacht überfallen hatten. Gab es noch weitere Aufpasser? Thomas unterdrückte Rachegedanken; er musste kühlen Kopf bewahren.

Gutenbergs Anwesen grenzte an zwei Gassen. Hatten sie in jeder eine Wache aufgestellt? Thomas ging zweimal ums Eck in die Gasse, die parallel zu derjenigen verlief, in der er den Mann gesehen hatte. Der hintere Teil des Gebäudekomplexes schien unbewacht zu sein. Er ging auf den lang gestreckten, bis zum ersten Stock mit Holzschindeln verkleideten Bau zu, dessen oberer, aus Fachwerk errichteter Teil reparaturbedürftig wirkte. Selbst in der Dunkelheit konnte er bemerken, dass an einigen Stellen der Lehm abbröckelte und die tragenden Balken sich bedenklich nach außen wölbten. Bei einem der Fenster zu ebener Erde entdeckte er Lichtstreifen, die durch einen geschlossenen Fensterladen fielen. Thomas klopfte.

»Wer ist da?«, fragte eine helle Stimme, und er erkannte, dass es Maria war.

Er nannte seinen Namen, während er sich umschaute. Sie öffnete den Laden einen Spalt breit, stieß ihn wieder zu, und das Licht verschwand. Es dauerte lange, bis durch die Bretter des Ladens erneut Helligkeit drang, und diesmal erkannte Thomas Gutenbergs Stimme. Thomas erklärte ihm, dass er verfolgt werde, dass man den Haupteingang bewache und dass er durchs Fenster einsteigen müsse – denn eine Tür gab es auf dieser Seite nicht. Der Laden öffnete sich, Thomas sah das Gesicht des Mädchens mit den großen, ungläubigen Augen und neben ihr Gutenberg, der eine Kerze in die Höhe hielt. Thomas zog sich an der Fensterbank hoch; Gutenberg fasste ihn an beiden Armen und half ihm ins Zimmer.

»Was ist passiert?«, fragte Gutenberg. »Ich habe Maria für verrückt erklärt.«

»Macht den Laden zu«, sagte Thomas. »Dann erzähle ich alles.«

Gutenberg verriegelte den Laden. Sie ließen Maria in der Kammer, die als Nähstube diente, zurück, durchquerten einen Flur und traten vor das Gebäude in den Innenhof. Zum ersten Mal sah Thomas die Werkstatt von weitem, einen Flachbau, in dem noch Licht brannte.

»Vor dem Wohngebäude hält ein Mann Wache«, sagte Thomas.

»Allein?«

»Ja.«

»Dann hole ich meine Leute!«

»Das wäre vorschnell! Lasst uns reden.«

Sie gingen über den Hof und an der Werkstatt vorbei. »Man kundschaftet Euch aus«, sagte Thomas. »Wann Ihr kommt, wann Ihr geht, wer Euch besucht. Es gibt jemanden, der das alles ganz genau wissen möchte.«

»Als hätte ich nicht Ärger genug am Hals.« Gutenbergs Stimme klang mürrisch. »Mein Geldgeber setzt mich unter Druck. Wahrscheinlich bin ich bald ruiniert.«

Sie betraten auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs das Wohngebäude und gingen in den Raum, in dem Thomas und Gutenberg sich bereits früher aufgehalten hatten. Gutenberg machte kein Licht und stellte sich an den Fensterladen. Es gab dort eine Ritze, durch die er nach draußen spähen konnte. Lange Zeit war es still. Dann sagte Gutenberg: »Da steht er! Ich sehe ihn.«

Thomas hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und das Bein ausgestreckt.

»Manchmal wünschte ich«, sagte Gutenberg müde, »ich hätte von der Erfindung die Finger gelassen. Es ist eine verrückte Mischung aus Dummheit und Mut, die mich vorantreibt.«

Thomas erwiderte nichts. Im Grunde konnte der letzte Satz auch für ihn gelten.

»Hätte ich eine ungefähre Vorstellung von den Problemen gehabt, die auf mich zukommen«, fuhr Gutenberg fort, »gäbe es keine Werkstatt.«

»Es ist vielleicht besser, dass wir nicht in die Zukunft schauen können.«

»Mag sein. – Und jetzt erzählt, was die Verkleidung soll!«

Thomas berichtete, was seit ihrem letzten Treffen vorgefallen war.

»Ihr bleibt vorerst bei mir, hier seid Ihr sicher«, sagte Gutenberg. Thomas war dankbar, dass er den Vorschlag machte, denn er hatte ihn ohnehin darum bitten wollen.

»Maria soll Euch gleich ein Bad machen und sich um das Bein kümmern. Sie kennt ein paar gute Hausmittel.«

»Klara Roth lebte von dem Geld, das sie von ihren Liebhabern bekam«, sagte Thomas. »Einer Eurer Männer gehörte ebenfalls zu diesem Kreis. Er kam regelmäßig zu ihr und verriet ihr die Geheimnisse der Werkstatt. Sie fertigte Aufzeichnungen und Skizzen an. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Sie machte das entweder mit seinem Einverständnis – oder aber er wusste nichts davon. Möglicherweise war er sich über die Folgen seiner Leichtfertigkeit nicht im Klaren und weiß nichts von der Verschwörung, die gegen Euch läuft.«

»Davon wird die Sache nicht besser«, sagte Gutenberg. »Außerdem halte ich das für unwahrscheinlich.«

»Es ist nur ein Gedankenspiel: Nehmen wir mal an, dass er ein Verräter wider Willen ist; dass Klara Roth ihn für ihre Zwecke benutzte und er die Folgen nicht absah. Möglicherweise handelte sie im Auftrag eines andern. Als ich den Fall untersuchte, bewachte man mich auf Schritt und Tritt. Man hat auch ein Dienstmädchen bestochen, das ein paar Tage für mich arbeitete und die Pläne bei mir sah. Wir müssen herausfinden, wer der Kopf ist, der hinter allem steckt.«

»Deshalb hole ich jetzt meine Leute«, sagte Gutenberg, »und wir werden den Herrn auf der Gasse bitten, hereinzukommen! Hier ist es wärmer. Wir stellen ihm ein paar Fragen. Er wird wissen, wer ihn beauftragt hat.«

»Ich glaube, dass wir uns damit keinen Gefallen tun. Wahrscheinlich weiß er nichts oder wenig. Und wir verraten, dass wir gewarnt sind. Bevor wir etwas unternehmen, sollten wir genau überlegen, was wir tun. Ich frage mich, ob Ihr den Unbekannten nicht kennt, den wir suchen?«

Gutenberg starrte unverwandt auf die Straße hinaus. »Wie kommt Ihr darauf?«

»Beweisen kann ich es nicht. Aber ich habe versucht, mir ein Bild von seiner Persönlichkeit zu machen. Ich halte ihn für gebildet. Er versteht etwas von Büchern, hat studiert. Er ist intelligent und hat die Bedeutung der Erfindung erkannt. Er weiß mehr, als die Gerüchte besagen, aber zu wenig, um auf eigene Faust eine Werkstatt einzurichten. Ihm fehlen die handwerklichen und technischen Kenntnisse. An Organisationstalent fehlt es ihm nicht.«

»Jetzt geht er auf und ab«, sagte Gutenberg. Er schien Thomas nur mit halbem Ohr zuzuhören. »Ein guter Organisator also?«

»Wegen des großen Aufwands, den er betreibt. Ich denke, er hat zehn oder zwanzig Leute, die für ihn arbeiten.«

»Und einer ist dort draußen.«

»Er hat überall seine Fäden gespannt, wie ein Netz.«

»Und er hat Geld«, sagte Gutenberg. »Viel Geld, denn er muss die Leute bezahlen.«

»Aber perfekt ist seine Organisation trotzdem nicht«, sagte Thomas. »Es ist einiges schief gelaufen. Es gab zwei Tote und eine Menge Aufsehen. Und die Pläne sind verschwunden!«

»Außerdem ist ihm der Richter durch die Lappen gegangen«, sagte Gutenberg. »Wir können annehmen, dass unser Unbekannter langsam unruhig wird. Aber was wäre passiert, wenn er die Pläne bekommen hätte! Hätte er sich damit zufrieden gegeben? Könnte er dann eine Werkstatt einrichten? Ich behaupte: Nein!«

»Weshalb nicht?«

»Weil Aufzeichnungen nicht genügen. Sie können die praktische Anschauung und Erfahrung nicht ersetzen. Wer eine Werkstatt aufbauen will, muss von mir selbst lernen, wie das geht. Er braucht meine Hilfe.«

»Wer kommt in Frage? Es muss jemand sein, der die Aktion von langer Hand geplant hat. Man treibt nicht solchen Aufwand auf ein paar Gerüchte hin. Unser Mann weiß mehr als die Leute auf der Straße – und das nicht seit gestern! Jemand vielleicht, der früher für Euch gearbeitet hat und nun nicht mehr zur Truppe gehört?«

»Da fällt mir niemand ein.«

»Es muss ja nicht in Mainz gewesen sein!«

»Ich verstehe nicht …«

»Ihr habt lange in Straßburg gelebt. Habt Ihr schon dort an der Erfindung gearbeitet?«

»Ja und nein. Es waren erste Versuche, Anfänge …«

»Aber mit dem Ziel, Bücher zu drucken?«

»Das schon. Aber die Erfolge waren spärlich.«

»Hattet Ihr damals andere Mitarbeiter als heute?«

»Selbstverständlich.«

»Was ist aus ihnen geworden? Wohnen sie noch in Straßburg?«

»Woher soll ich das wissen? Viele hatten damals Angst vor den Armagnaken und verließen die Stadt.«

»Ihr habt also keinen Kontakt mehr zu den Leuten?«

»Nein. Wahrscheinlich haben sie sich in alle Winde zerstreut.«

Plötzlich schwieg Gutenberg, und obwohl Thomas ihn nur als dunklen Schatten beim Fenster sah, spürte er, dass der Erfinder nachdachte.

»Mit wem habt Ihr damals Eure ersten Versuche unternommen, Bücher zu drucken?«

»Was nützen Euch die Namen?«, sagte Gutenberg. »Es gab keine Werkstatt wie heute. Ich brauchte Geld und tat mich mit einigen Männern zusammen, die ich für meine Idee begeistern konnte. Straßburger Bürger.«

»Haltet Ihr es für denkbar, dass einer der ehemaligen Kompagnons Euch die Erfindung abjagen will, nachdem er erfahren hat, dass sie mittlerweile funktioniert?«

»Es ist möglich, kommt mir aber sehr abwegig vor. – Und nun genug geredet«, sagte Gutenberg. »Was Ihr jetzt dringend braucht, ist ein Bad. Ich sage Maria Bescheid. Bleibt hier und beobachtet die Gasse, bis ich zurückkomme. Ich hole meine Männer, und wir fangen uns den Vogel. – Keine Widerrede!«

Er verschwand und kam nach einiger Zeit mit dem Mädchen zurück. »Maria begleitet Euch ins Badehaus.«

Maria führte Thomas über den Hof in einen anderen Teil des Gebäudes; in einem schmalen Zwischenbau standen im Erdgeschoss zwei Wannen. Sie griff sich einen großen Kessel.

»Bleibt hier, bis ich das Wasser heiß gemacht habe.«

Sie kam und ging mehrmals und füllte eine der Holzwannen abwechselnd mit heißem und kaltem Wasser. Eine Öllampe, die als Ampel von der Decke hing, schimmerte im Wasser.

»Ihr könnt Euch schon reinsetzen.«

Thomas genoss es, die verschmutzte Kutte und die vor Dreck starrende Hose in eine Ecke zu werfen und stieg ins Bad. Maria schüttete ihm aus einer großen Holzkelle Wasser über den Kopf. Thomas erinnerte sich an seine besten Tage in Italien, wo es herrliche Badehäuser gab, mit gekachelten Böden und Marmor an den Wänden. Aber nie hatte er ein Bad so sehr genossen wie im Moment.

»Ich bin einiges gewohnt«, sagte Maria. »Aber so verdreckt habe ich noch keinen erlebt.«

»Dann haben wir was gemeinsam.«

Als Maria weg war, hörte Thomas von fern Lärm. Sie kam mit dem gefüllten Kessel zurück, und er fragte, was passiert sei. »Der Kerl ist entwischt«, sagte sie.

Jedes Mal, wenn sie neues Wasser brachte und es in die Wanne goss, schüttelte sie den Kopf. »Noch nie«, murmelte sie.