21.

 

B

ologna und Henning saßen an einem Tisch, auf dem ein Becher stand und ein Krug mit Rotwein. Sie wussten, dass Thomas bei Gutenberg war und dass Katharina Nachforschungen über Gutenbergs Mitarbeiter angestellt hatte. Gerlinde hatte ihnen zusätzlich von Plänen berichtet, die Thomas nach Hause gebracht hatte. Sie hatte Zeichnungen gesehen und das Wort Setzkasten lesen können.

»Jetzt wissen wir endlich, woran wir sind«, sagte Bologna.

»Wir müssen an die Pläne kommen. Aber ein Überfall würde zu viel Wirbel verursachen. Er ist Richter, er vertritt das Gesetz.«

Der Goldschmied blickte ihn mit großen Augen an. »Wir wollten unauffällig arbeiten. Wie sollen wir jetzt vorgehen, Guido?«

»Wir wissen jetzt, dass es die Pläne gibt! Bisher waren wir auf Vermutungen angewiesen. Wir wissen sogar, wer sie hat und wo sie sich momentan befinden. Das Mädchen hat den Schlüssel zur Wohnung. Wir sollten auf diese Lösung setzen. Sie wird uns die Pläne besorgen. Mit einem Überfall lösen wir eine Hysterie aus. Schon jetzt patrouillieren ständig Bewaffnete durch die Gassen!«

»Vielleicht gibt der Richter Gutenberg die Pläne und der vernichtet sie.«

»Die Pläne werden beim Richter bleiben, denn er ermittelt in zwei Mordfällen, und es handelt sich um Beweismaterial.«

»Aber er kann Gutenberg davon erzählen.«

»Selbst wenn Gutenberg gewarnt ist – was nützt ihm das? Glaubst du, er wird deshalb seine Werkstatt aufgeben oder die Flucht ergreifen?«

»Aber er wird nach dem Verräter suchen«, sagte Henning aufgebracht.

»Und der wird sich nicht ohne weiteres zu erkennen geben! Da kommen mehrere Leute in Betracht. Von uns kann er Gutenberg nichts erzählen, weil er von uns nichts weiß.«

»Langsam verstehe ich, warum du so gelassen bleibst! Denn von dir weiß tatsächlich keiner was. Ich habe ja die Verhandlungen mit Klara geführt!«

»Darum geht es nicht.«

»Doch! Genau darum geht es. Aber ich sage dir nur eins, Guido: Glaub nicht, dass ich den Sündenbock spiele.«

»Dein Name wird nie fallen.«

»Und wenn du dich irrst?«

»Dann mach dich für ein paar Tage aus dem Staub.«

»Und mein Anteil?«

»Ändert sich nicht!«

»Ich mag deine römischen Methoden nicht.«

»Morgen haben wir die Pläne. Dann zerstreuen sich deine Bedenken – und der eigentliche Tanz kann beginnen …«

 

Thomas machte sich zeitig auf den Weg. Dicke Schneeflocken fielen vom dunklen Himmel. Sie tauchten aus dem Nichts auf, ehe der Wind sie gegen seinen Mantel wehte. Schließlich stand er vor dem Haus des Erfinders und klopfte an die Tür. Diesmal musste er nicht lange warten, und es war Gutenberg selbst, der ihm öffnete. Sie gingen in die Stube, die Thomas vom ersten Besuch kannte. Gutenberg entzündete eine Kerze. Sie setzten sich in die Nähe des Kamins, in dem ein Feuer flackerte. Thomas streckte seine nassen Stiefel der Wärme entgegen und rieb sich die rote Nase.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Gutenberg. »Einer meiner Männer hat mich verraten. Wir werden zusammenarbeiten.«

Thomas fühlte sich erleichtert, aber er wollte sich nicht zu früh freuen – noch hatte er nichts erreicht, und die Zeit lief ihm davon.

»Mich beschäftigt vor allem eine Frage«, sagte Gutenberg.

»Keiner meiner Mitarbeiter ist reich, und der Aufbau einer Werkstatt kostet viel Geld. Der Verrat macht nur dann Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass ein Geldgeber im Hintergrund steht.«

»Habt Ihr einen Verdacht?«, fragte Thomas.

»Es gibt Leute, die mich nicht mögen. Aber keiner ist reich genug, um eine Werkstatt zu finanzieren. Es muss jemand sein, der über sehr viel Geld verfügt! Ich habe Schulden aufgenommen in Höhe von etwa eintausendvierhundert Gulden.«

Thomas überschlug, dass sein Vater, der ein erfolgreicher Geschäftsmann war, wahrscheinlich nicht einmal ein Viertel davon aufbringen konnte.

»Zunächst müssen wir den Verräter finden«, sagte Gutenberg.

»Wir haben einen Kreis von zwölf Männern, der in Frage kommt«, sagte Thomas. »Einer von ihnen hatte ein Verhältnis mit Klara Roth. Übrigens: Jeder in der Stadt weiß, dass Ihr an einer Erfindung arbeitet. Nehmen wir an, jemand aus Mainz will hinter Euer Geheimnis kommen und benutzte Klara Roth für seine Zwecke. Sie verführte im Auftrag dieses Unbekannten einen Eurer Männer und entlockte ihm sein Wissen. Dann hat der Verräter eventuell keinen Kontakt zu jenem oder jenen, die im Hintergrund die Fäden ziehen.«

»Gut möglich«, sagte Gutenberg. »Diese Aufzeichnungen, von denen Ihr gesprochen habt … Ich würde sie gern sehen. Ich bin mit der Materie vertraut. Vielleicht kann ich aus den Angaben etwas herauslesen.«

Thomas hatte die Pläne zwischenzeitlich im Gericht deponiert. »Das ist ein guter Gedanke. Ich bringe sie morgen vorbei.«

 

Katharina lag noch im Schlaf, als sie ein Schellen hörte. Woher kam das? Sie erkannte die Stimme des städtischen Ausrufers. Katharina versuchte weiterzuträumen, aber sie merkte gleich, dass es nicht gelingen würde. Etwas Besonderes musste geschehen sein. Sie schaute auf die geschlossenen Läden und bemerkte, dass es nicht mehr so früh war, wie sie gedacht hatte. Fahles Licht sickerte durch die Ritzen. Sie stand auf, öffnete den Laden ihrer Kammer und legte sich wieder hin. Kalte Luft drang ins Zimmer. Sie konnte den Rufer zwar nicht sehen, aber gut hören. Es dauerte noch eine Weile, bis er zur Sache kam. Durch das offene Fenster sog Katharina die ersten Gerüche des Morgens ein. Etwas Verbranntes, wahrscheinlich Milch. Sie hörte Stimmen aus den angrenzenden und gegenüberliegenden Häusern. Ihr Fenster lag zum Innenhof, den jemand mit eiligen Schritten Richtung Marktplatz durchquerte.

Der Ausrufer wartete, bis sich genügend Zuhörer versammelt hatten. »Der Kurfürst gibt bekannt«, rief er schließlich, »dass die Verbrecher, die unsere Stadt in Atem gehalten haben, gefasst sind. Zwei Morde gehen auf ihr Gewissen.« An dieser Stelle musste er warten, denn das Gemurmel der Stimmen wurde zu stark. Katharina, auf dem Bett liegend, mit geschlossenen Augen, stellte sich vor, wie sie auf dem Platz die Köpfe zusammensteckten, und jeder dem andern ins Wort fiel. Der Ausrufer schellte, und schließlich wurde es wieder ruhiger.

Erst mit Verzögerung wurde Katharina klar, was sie gerade gehört hatte. Sollte Thomas über Nacht Erfolg gehabt haben? Oder die Stadtwache? Die Mörder meiner Schwester, schoss es ihr durch den Kopf.

»Die Soldaten unseres Fürsten«, fuhr der Rufer fort, »haben die drei Räuber gejagt und aufgegriffen. Sie liegen in Ketten und warten auf ihr Schicksal.«

»An den Galgen!«, forderte man.

Katharina richtete sich im Bett auf. Sie zog sich hastig an und eilte nach unten in den großen Wohnraum, wo sich das Familienleben abspielte. Er lag im ersten Stock, und man sah von dort auf den Marktplatz.

Die Fenster waren geöffnet, vor dem einen standen ihre beiden Schwestern, vor dem andern ihr Vater und ihre Mutter. Sie ging zu ihren Schwestern, die sie nicht weiter beachteten, und stellte sich auf die Zehenspitzen. Die Fenster der Häuser, die den Marktplatz säumten, waren fast alle geöffnet und Köpfe schauten hervor. An einigen verschlafenen Gesichtern und wirren Haaren erkannte Katharina, dass sie nicht die Einzige war, die der Ausrufer aus dem Bett geworfen hatte.

Eine Menschentraube umringte den Ausrufer. »Sie sind Schwerverbrecher«, fuhr er fort. Er trug ein blaues Wams mit kurfürstlichem Wappen, und aus dem Hut bog sich eine sichelförmige Feder. Nach zahllosen Dienstjahren wirkte seine Kleidung verblichen und fadenscheinig.

»Der Bischof hat über sie Rat gehalten und persönlich das Urteil gefällt. Sie sind des zweifachen Mordes schuldig!« Wenn der Ausrufer den Kopf zurückwarf, schwankte die Feder, und er mochte sich elegant und wie ein Edelmann vorkommen.

»Hängt sie! Hängt sie!«

Der Ausrufer wartete, bis Ruhe einkehrte. »Sie haben die Freiheit, die Sicherheit, den Ruf unserer Stadt gefährdet. Dafür müssen sie büßen. Deshalb wird die Höchststrafe über sie verhängt.«

Ein paar verhaltene Hochrufe auf Dietrich von Erbach waren zu hören.

»Sie werden hängen! Aber nicht auf dem Galgenhügel, sondern wegen der Schwere des Verbrechens und um ein Exempel zu statuieren hier auf dem Marktplatz. Ihr seid aufgefordert, alle gegen Mittag zu erscheinen. Sagt euren Nachbarn und allen, die es nicht wissen, Bescheid. Jeder soll sehen, was mit denen geschieht, die unsere Gesetze brechen.«

Er klemmte seine Schelle unter den Gürtel und wollte sich einen Weg durch die Menge bahnen, aber sofort umzingelten ihn Neugierige und überschütteten ihn mit Fragen.

Die Roths schauten einander überrascht an. »Jetzt haben sie Klaras Mörder«, sagte eine der Schwestern.

»Augenwischerei!«, verkündete Karl Roth mit väterlicher Bestimmtheit.

»Wie meinst du das?«, fragte seine Frau.

»Die Leute, die man hängt, haben mit Klaras Tod nichts zu tun.«

»Aber warum hängt man sie dann?«

»Weil Erbach ein paar Sündenböcke braucht.«

»Das kann er doch nicht machen«, sagte die jüngste Schwester.

»Ich habe das gerüchteweise schon gestern gehört, wollte es aber nicht glauben. Der Fürst hat drei Landstreicher festnehmen lassen, nach denen kein Hahn kräht, und lässt sie hängen, um die Volksseele zu beruhigen.«

Katharina ging wieder auf ihr Zimmer. Sie fragte sich, ob Thomas etwas mit der Verhaftung zu tun hatte. Bald darauf hörte sie ein Klopfen. Es kam vom Markt. Hammerschläge schallten durcheinander, überlagerten sich, dann gab es kurze Momente der Stille, ehe einer wieder anfing und die anderen folgten, vielstimmig, wie ein Orchester. Früher hatte sie gern Zimmerleuten bei der Arbeit zugesehen, wenn sie Balken aneinander fügten und mit kraftvollen Schlägen die Nägel ins Holz trieben.