38.

 

D

er Tag und die Nacht verliefen ruhig. Das Fest ging weiter; schon am nächsten Morgen hörte man Rhythmen in den Straßen, nach denen Frühaufsteher sangen und tanzten, trotz roter Augen, rauer Stimme und müder Beine. Nichts konnte auffälliger sein, als keine Verkleidung zu tragen; nur Geistliche waren davon ausgenommen, und so hatte Thomas die Mönchskutte anbehalten. Falls seine Verfolger ihn entdeckten, würde sich der Ausflug als riesige Dummheit entpuppen.

Umzüge waren in Vorbereitung, und Höhepunkt des Treibens würde am Abend ein großes Feuer auf dem Marktplatz sein, mit der symbolischen Vertreibung der bösen Geister. Es hatte in der Nacht geschneit, aber der Schnee war nicht liegen geblieben, und der Boden sog die Feuchtigkeit auf, so dass die Schuhe noch tiefer im Schlamm versanken und sich nur mit schmatzendem Geräusch lösten.

Gutenberg hatte Thomas den Weg zu Hennings Haus genau beschrieben, und er folgte einer schmalen Gasse Richtung Markt. Vor einer Schenke standen Männer mit Bierkrügen in der Hand, die ihn zu sich riefen; schließlich galten Ordensbrüder als trinkfest – aber er winkte ab. Durch eine Querstraße zogen bunt gekleidete Musiker, und der Schall ihrer Posaunen und Pauken übertönte für eine Weile alle anderen Geräusche.

Thomas überquerte den Marktplatz, auf dem es von Menschen wimmelte. In der Mitte des Platzes errichteten junge Männer einen Scheiterhaufen. Die aus Stroh gefertigte Hexe, die man am Abend verbrennen würde, saß geduldig auf einem Stuhl und erwartete ihr Schicksal. Als Feen verkleidete Mädchen tanzten bei der Puppe, während sich ein Mann ohne Beine auf einem Wägelchen durch den tiefen Boden quälte und Almosen sammelte.

Nicht weit vom Hafen fand Thomas das von Gutenberg beschriebene Haus; die Fassade und das Dach wirkten reparaturbedürftig. Hennings Werkstatt lag im unteren Teil des Gebäudes, aber die Läden waren verschlossen.

Thomas klopfte gegen die Tür und wartete. Als sie sich öffnete, stand er einer Frau mit grauen Haaren gegenüber, die ihn in seiner Ordenstracht ohne sonderliche Überraschung musterte.

»Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte sie, ehe er sich vorstellen konnte.

Woher wusste sie, dass er ihren Mann suchte? Warum sollte er nicht von Haus zu Haus gehen und um eine Gabe betteln? »Wo finde ich ihn?«, fragte Thomas.

»Das weiß ich nicht.« Sie sprach monoton und beherrscht. Thomas hatte das Gefühl, dass sie die Wahrheit sagte. Gleichzeitig schien es ihr auf fast erschreckende Weise gleichgültig zu sein, wo sich ihr Mann aufhielt.

»Hat er nichts gesagt?«

»Nein.«

Sie mochte Anfang fünfzig sein, und ihre Augen blickten leer und apathisch, aber wenn sich Thomas nicht täuschte, war sie früher eine schöne Frau gewesen.

»Wann ist er gegangen?«

»Wer seid Ihr? Und warum wollt Ihr das wissen?«

Ein Kind drängte sich neben die Frau, das ihr ähnlich sah. Fasziniert betrachtete es den Besucher. »Mama, wer ist das?«

»Geh wieder rein!«

»Ich möchte zu deinem Vater«, sagte Thomas.

»Der ist weg.«

»Geh rein!«

»Was heißt weg?«

»Schon lange weg«, erwiderte das Kind und lief ins Haus.

Thomas schaute Hennings Frau in die Augen. »Lasst mich vorbei. Ich möchte kein Aufsehen machen.«

Er ging entschlossen auf sie zu, sodass sie zurückwich und er das Haus betreten konnte. Sie standen sich im Eingangsbereich gegenüber, und durch eine offene Tür sah er in die Werkstatt. Der Raum lag wegen der geschlossenen Läden weitgehend im Dunkeln, trotzdem erkannte er eine aufgeräumte Werkbank, die aussah, als habe dort seit Ewigkeiten niemand gearbeitet.

Thomas zog die Kapuze seiner Mönchstracht vom Kopf.

»Jetzt erkenne ich Euch«, sagte die Frau. »Ich habe Euch einmal mit Steininger gesehen.«

»Dann könnt Ihr Euch vielleicht denken, weshalb ich hier bin.«

»Beim besten Willen nicht.«

»Ihr wisst, dass ich zwei Mordfälle untersuchte?«

»Das weiß jeder in der Stadt.«

Ihrer Sprache nach kam sie aus Süddeutschland, Thomas kannte Kaufleute aus der Augsburger Region mit einem ähnlichen Dialekt. Er vermutete, dass sie aus einer gehobenen städtischen Schicht stammte, möglicherweise dem Patriziat. Jedenfalls kam es ihm vor, als habe sie bessere Tage gesehen.

»Eines der Opfer war Klara Roth. Nun habe ich von einem Zeugen erfahren, dass Euer Mann kurz vor Klaras Tod bei ihr war.«

Plötzlich kam Leben in ihre Augen, und sie wirkte interessiert. »Davon hat er mir nichts gesagt.«

»Der Zeuge behauptet, Klara habe ihrem Mann eine Kette gegeben, damit er sie repariert. Er soll ihr die Kette dann vorbeigebracht haben.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.«

Thomas war überrascht. »Weshalb?«

»In der Regel kommen die Kunden zu meinem Mann und holen sich ihre Sachen wieder ab. Es ist nicht üblich, dass er sie ihnen vorbeibringt. Und Klara wohnte weit abseits. – Ich dachte, der Mordfall sei aufgeklärt, die Täter gefasst.«

»Man hat Unschuldige hingerichtet.«

»Und Ihr wurdet entlassen.«

»Das ist richtig.«

»In wessen Auftrag kommt Ihr dann?«

»In eigenem Auftrag«, sagte Thomas.

»Was soll dieser Aufzug? Ihr habt kein Recht, mich auszufragen.«

»Ich will die Wahrheit herausfinden. – Kommt es häufig vor, dass Euer Mann mehrere Tage verschwindet?«

»Wenn seine Geschäfte es erfordern.«

»Ist das momentan der Fall?«

»Er hat gesagt, dass er geschäftlich weg muss.«

Thomas hatte befürchtet, dass sie auf seine Fragen nicht mehr antworten würde. Er hatte nicht das Recht, sie zu verhören, das war völlig richtig. Und der Aufzug, in dem er erschien, machte alles andere als einen seriösen Eindruck. Trotzdem verhielt sie sich nicht abweisend: als habe sie geahnt, dass die Morde nicht aufgeklärt waren und als ahne sie noch etwas anderes, Schlimmeres.

»Ich finde sein Verhalten ungewöhnlich«, sagte Thomas.

Sie nickte. »Er hat sich sehr verändert.«

Ihre Kleider wirkten abgetragen, der graue Rock war an manchen Stellen fadenscheinig.

»Die Werkstatt hat wohl bessere Tage gesehen?«

»O ja, viel bessere.« Ihr Blick schweifte kurz ins Leere. Weshalb schwieg sie nicht einfach?

Thomas glaubte nicht, dass sie ihm etwas vorspielte. Hatte sie resigniert? Thomas spürte, dass seine Fragen bei ihr etwas auslösten. Sie schien sie sogar mit einer gewissen Neugier zu erwarten.

»Heute muss selbst die Kirche sparen«, sagte sie, »die immer unser wichtigster Auftraggeber war. Wir sind eine achtköpfige Familie. Wir konnten nichts zur Seite legen, auch nicht in den guten Jahren. Es ist nur ein kurzer Weg bis zur Armut.«

»Ich hörte, Ihr habt früher in Straßburg gelebt.«

Sie zeigte keine Überraschung. »Auch das war eine schwere Zeit. Das ganze Leben …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Thomas verstand, was sie sagen wollte. Er fühlte sich an einen Psalm erinnert, der häufig in Predigten zitiert wurde: »Und wenn es köstlich war, dann war es Mühe und Arbeit …« So oder ähnlich hieß es doch?

»Hat Euer Mann mit Euch über Gutenberg gesprochen?«

Ihre Aufmerksamkeit wuchs. »Warum fragt Ihr das?«

Thomas gab keine Antwort.

»Er spricht häufig von ihm.« Jede seiner Fragen bestätigte einen Verdacht, den sie hegte – so schien es ihm. Über die genauen Umstände tappte sie aber im Dunkeln. Wenn sie Bescheid wüsste, dachte Thomas, wäre ihr Verhalten anders.

»Was sagt er über Gutenberg?«, fragte er.

»Wenig Schmeichelhaftes!«

»Er ist wütend auf ihn?«

»Er hasst ihn.«

»Weshalb?«

»Weil er Erfolg hat. – Gehen wir in die Küche!« Sie wandte sich um und ging auf eine offen stehende Tür zu. Er folgte ihr. Die Küche lag ebenerdig. Es roch nach Kohl, und über dem Feuer hing ein schwarzer Kessel. Sie setzten sich auf dreibeinige Schemel an einen Holztisch. Auf der dunklen, abgenutzten Tischplatte lagen Gemüsereste und ein Messer. Durch ein schmales Fenster schaute man in den winterlichen Garten.

Hennings Frau saß so, dass ihre rechte Gesichtshälfte und die grauen Haare den Schein vom Feuer auffingen, während der Rest des Gesichts im Schatten lag und nur die Augen hervorleuchteten.

»In Straßburg hat mein Mann zeitweise für Gutenberg Spiegel hergestellt«, nahm sie das Gespräch wieder auf. »Da war er noch gut auf ihn zu sprechen. Das änderte sich, als Johannes keine Arbeit mehr für ihn hatte. Da nannte mein Mann ihn eingebildet und hochnäsig. Aber es war enttäuschte Liebe, denn in Wahrheit bewunderte er Gutenberg; dessen geistige Beweglichkeit; seine Fähigkeit, aus sich heraus Ideen zu schöpfen, die vor ihm noch keiner gedacht hat. Johannes ist ein erstaunlicher, ein außergewöhnlicher Mann.«

»Sie kennen ihn gut?«

»Etwas«, sagte sie nur und lächelte eigentümlich. »Er war früher, noch in Straßburg, manchmal bei uns zu Gast. Er kann andere Menschen für seine Ideen begeistern. So findet er auch immer Geldgeber. Fust hat ihm eine enorme Summe geborgt, trotz der schlechten Wirtschaftslage. Als mein Mann versuchte, von Fust eine vergleichsweise lächerliche Summe zu bekommen, hat er ihn zum Teufel gejagt.«

»Wo habt Ihr Euren Mann kennen gelernt?«, fragte Thomas.

»In Augsburg. Er war Geselle und machte die übliche Wanderschaft. Meine Eltern haben mir von der Heirat zunächst abgeraten. Aber schließlich habe ich doch meinen Willen bekommen.«

Thomas kam es vor, als hätte sie gern noch »leider« hinzugefügt. Ihre Eltern hielten die Verbindung für nicht standesgemäß, sofern Thomas ihre Herkunft richtig einschätzte. Dass eine Frau trotzdem ihren Willen durchsetzte, geschah selten. Wie lange mochten sie mittlerweile verheiratet sein? Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig? Und aus der einstigen Liebesheirat war eine Ehe geworden, die nur noch der Form halber existierte; eine Zweckgemeinschaft, der Kinder zuliebe und weil die Kirche Trennungen verbot. In Wirklichkeit aber hatten sich die ehemaligen Partner nichts mehr zu sagen. Gab sie ihm die Schuld an ihrem Abstieg? Verachtete sie ihn?

»Will Euer Mann Gutenberg schaden? Traut Ihr ihm das zu?«

Jetzt betrachtete er ihr Gesicht sehr aufmerksam, aber sie sagte nur: »Ja. Ich traue es ihm zu!«

Offenbar hatte sie einen Punkt erreicht, an dem sie es sinnlos fand, sich zu verstellen.

»Traut Ihr ihm auch Gewalt zu?«

Sie nickte.

»Jemand will hinter das Geheimnis von Gutenbergs Erfindung kommen«, sagte Thomas.

»Haben die Morde damit zu tun?«, fragte sie.

»Sehr wahrscheinlich.«

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, denn sie hatte verstanden. »Mord traue ich ihm allerdings nicht zu«, sagte sie.

»Ich glaube, dass es einen Mann gibt, der ein Komplott gegen Gutenberg organisiert; der andere für sich arbeiten lässt; er hat bezahlte Helfer, und er hat Leute fürs Grobe.«

»Ich weiß nichts Konkretes«, sagte sie. »Wenn mein Mann in Verbrechen verwickelt ist, habe ich damit nichts zu tun. Ich werde nicht für ihn lügen. Ich bin nicht seine Komplizin.«

»Was fiel Euch auf?«

»Zum Beispiel das Geld. Er hatte plötzlich hundert Gulden. ›Wo kommen die her?‹, fragte ich. ›Ein großer Auftrag.‹ sagte er, ›das ist der Vorschuss. ›Und wer ist der Auftraggeber?‹ Darüber machte er lediglich vage Andeutungen. Ein reicher Kirchenmann angeblich. Ich habe sofort gemerkt, dass er lügt. Habe auch noch keinen getroffen, der im Voraus bezahlt. Und dann diese komischen Fragen …«

Thomas nickte ihr aufmunternd zu, und sie fuhr fort: »Ob ich mir vorstellen könne, Mainz zu verlassen? ›Wohin?‹, fragte ich. Auch da blieb er wieder sehr unbestimmt. ›Richtung Süden.‹ sagte er nur. Augsburg? Nein. Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, und schließlich sagte er, das habe noch Zeit. Was er sich davon verspreche, hakte ich nach. – Ein besseres Leben. Wir könnten alle Sorgen hinter uns lassen. Ich wollte wissen, weshalb er so optimistisch sei. Das könne er noch nicht sagen. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was dahinter steckt. Aber jetzt brauche ich nur eins und eins zusammenzuzählen.«

Sie unternahm nicht den geringsten Versuch, ihren Mann in Schutz zu nehmen. Hatte sie keine Angst, mit den Kindern allein dazustehen, falls ihm etwas geschah? Jeder kannte das Schicksal der Witwen, die mit ihren Kindern in Armut lebten.

»Mir fiel auf, dass er die letzten Tage sehr aufgeregt war. Er bereitete etwas vor. Ich spürte das.«

»Sind Leute zu ihm gekommen?«

»Ist mir nicht aufgefallen. Aber er war häufiger weg als sonst. Als dann die Morde geschahen, hatte ich gleich so eine Ahnung.«

»Hat er Freunde?«

»Nein. Aber letztens war ein Mann bei ihm – das könnte ein Italiener gewesen sein!«