37.

 

B

ologna dachte an den Papst, mit dessen baldigem Tod jeder rechnete. Falls das Kardinalskollegium seinen Mentor zum Nachfolger wählte, stand der Weg für ihn offen. Gar nicht weit von hier, überlegte Bologna, im Niederrheinischen, gab es die »Brüder vom Gemeinsamen Leben«; sie plädierten dafür, die Bibel in der Volkssprache zu lesen. Sie übersetzten den Text eigenmächtig und streuten ihn unters Volk. Angeblich wollten sie die Laienfrömmigkeit fördern. Bisher haben sie wenig Schaden angerichtet. Aber sie waren nicht allein, es gab andere, ähnliche Bewegungen. Was geschah, wenn antikirchliche Schriften zu Tausenden die Runde machten? Ein Flächenbrand drohte, wie ihn die Welt bis dato nicht kannte. So ein Aufstand konnte die Grundfesten der Kirche erschüttern. Die kommenden Jahre werden kritisch, und wir brauchen einen starken Papst. – Wäre ich der Aufgabe gewachsen?

Er hatte über seine geheimen Hoffnungen bisher mit niemandem gesprochen; keiner hätte ihn ernst genommen, man hätte entweder gelacht oder ihn als größenwahnsinnig bezeichnet. Aber war er das wirklich? Niemand kannte das Potenzial, das in ihm steckte. Schon sein bisheriger Weg hatte etwas Märchenhaftes an sich. Hätte sein Onkel ihn nicht damals ins Kloster gegeben, lebte er heute wahrscheinlich in Armut. Nur die Kirche bot einen Weg nach oben. Bologna hatte im Kloster auf der untersten Stufe begonnen und es weit gebracht.

Er musste zurück nach Rom, aber nicht mit leeren Händen, sondern im Besitz der Erfindung! Seiner Überzeugung nach stand die Welt am Anfang einer Revolution, die alle vorherigen übertreffen würde. Im Lauf der nächsten Jahre würde sich das Bild vom Menschen, von der Erde und vom Universum dramatisch verändern. Eine Kraft würde vor allen andern die neue Welt prägen: das Buch! Langfristig würde sich der Siegeszug des gedruckten Buches nicht aufhalten lassen; aber er konnte die Entwicklung verzögern, und das genügte seinen Zwecken. Wenn das Geheimnis der Druckkunst in seinen Händen war; wenn es ihm gelang, in Rom, an einem verborgenen Ort, eine Druckerei aufzubauen; wenn der neue Papst mit seiner Hilfe die öffentliche Meinung diktierte: dann stand Bolognas Aufstieg an die zweite Stelle im Kirchenstaat nichts im Weg.

Und wie viel hatte er dafür riskiert! Der Mord an Kardinal Martini war sein Werk gewesen! Wenn man Angelini zum Papst wählte, würde er es ausschließlich ihm zu verdanken haben, seiner Umsicht, seiner Planung. Bologna würde Kardinal werden und sich damit nicht begnügen: Auch Angelini, der zukünftige Papst, war nicht mehr der Jüngste …

Es klopfte an der Tür der Klosterstube, und Henning betrat den Raum. Bologna brauchte einen Moment, um sich auf seinen Besucher einzustellen, denn seine Gedanken hatten ihn fortgerissen.

»Ich komme aus der Stadt«, sagte Henning. »Die Vorbereitungen für Fastnacht sind in vollem Gang. Bis heute Abend, wenn der Scheiterhaufen brennt, wird keiner mehr nüchtern sein.«

»Wollen wir es hoffen. Was ist mit Gutenbergs Leuten?«

»Alles läuft wie erhofft«, sagte Henning. »Sie treiben sich in der Stadt herum. Sein Anwesen ist unbewacht.«

»Du hast also Recht behalten. Ich habe bis zuletzt daran gezweifelt, ob er so unvorsichtig sein wird.«

»Versetz dich in seine Lage! Seine Leute quälen sich Tag und Nacht für ihn. Er darf den Bogen nicht überspannen. Fastnacht lässt sich keiner entgehen. Er kann sie nicht zurückhalten.«

»Ist er allein in seinem Hof?«, fragte Bologna.

»Davon können wir ausgehen.«

Bologna ging zu seinem Reisekoffer, kramte eine Papierrolle hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. »Lass uns alles noch einmal durchsprechen!« Er entrollte den Papierbogen, bis eine Zeichnung zum Vorschein kam. »Das ist Gutenbergs Hof.« Henning half ihm, die Rolle festzuhalten. Bologna deutete auf eine schraffierte Fläche. »Das Wohngebäude. Gleich daneben das Hoftor, das er immer mit schweren Balken verriegelt. Hier ist von außen kein Durchkommen. Der Schwachpunkt liegt hier! An der Rückseite des Hofes, wo die kleine Sackgasse verläuft. Ich nehme an, dass er sich hauptsächlich im Wohngebäude aufhält, vielleicht in der Werkstatt. Hier auf der Rückseite, zur Sackgasse hin, gibt es keinen Eingang, nur Fenster, die er wahrscheinlich verschlossen hält. Aber das wird kein Problem sein.«

Sie hatten sich über den Plan gebeugt; Henning hob den Kopf, so dass ihre Augen nur um Handbreite voneinander entfernt waren. »Das sagst du so einfach. Du bleibst schließlich im Hintergrund und wartest, bis alles vorbei ist.«

»Dafür ist dein Anteil sehr hoch!«

Henning senkte den Kopf und starrte wieder auf den Plan. »Das Wegschaffen der Geräte liegt mir schwer im Magen«, sagte er. »Selbst wenn alle betrunken sind, wird das kein Kinderspiel.«

»Du bist nicht allein.«

»Aber von mir hängt alles ab.«

»Der Wagen fährt zum Tor und bleibt dort stehen«, sagte Bologna. »So ein Gefährt fällt bei dem Trubel gar nicht auf, man wird euch für Schausteller halten. Vereinbart ein Zeichen, damit du weißt, wann du ihnen von innen öffnest. Sobald du ihnen das Tor öffnest, fährt der Wagen in den Hof, und du machst es wieder zu. Ihr seid in der Überzahl und werdet mit Gutenberg leicht fertig. Räumt ihm die gesamte Werkstatt leer! Lasst nichts zurück!«

 

Gutenberg und Thomas standen im Zimmer des Korrektors, weil es dort nicht so kalt war wie in der Werkstatt. In einem Wandregal stapelten sich dickleibige Bücher; Pergament- und Papierstreifen lagen herum, zum Teil mit winzigen Buchstaben beschrieben. Auf dem Pult brannte eine Öllampe und kämpfte gegen das Halbdunkel.

»Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte Gutenberg, der den Mund verzog, als er ein Blatt zur Hand nahm, mit roten Zeichen am Seitenrand. »Aber ich musste meinen Leuten über Fastnacht freigeben. Die Festtage sind ihnen heilig, und nichts kann sie zurückhalten.«

»Immerhin sind wir zu zweit«, sagte Thomas, der sich neugierig im Raum umschaute. Sie hätten genauso gut im Haupthaus bleiben können, aber Gutenberg zog es an seinen Arbeitsplatz, als sei das der sagenumwobene Magnetberg.

»Ich habe alle Gebäudeteile abgeriegelt. Wir werden regelmäßig Kontrollgänge machen. In der Hauptsache müssen wir die Werkstatt bewachen. – Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Was wir von Hermann erfahren haben, beunruhigt mich!«

»Ich habe Zweifel an seiner Version«, sagte Thomas. »Vielleicht hat er uns nur einen Teil der Wahrheit erzählt.«

»Ich glaube, er war ehrlich.«

»Kann jemand wirklich so naiv sein, alle Geheimnisse auszuplaudern, ohne dass er dafür bezahlt wird?«

»Hermann schon. Jedenfalls wenn eine Frau im Spiel ist. Am liebsten würde ich ihm den Hals umdrehen, aber ich brauche ihn – sonst kann ich die Werkstatt gleich dicht machen. Ich frage mich, ob nicht vielleicht Henning was mit der Sache zu tun hat?«

»Wer ist dieser Henning? Kennt Ihr ihn gut?«

Gutenberg schüttelte den Kopf. »Ein wenig. Was heißt schon kennen? Man kann ja in keinen hineinschauen. Es gibt in unserem Lebensweg einige Parallelen. Wir sind uns erstmals während meiner Straßburger Zeit begegnet. Er hatte gerade eine Familie gegründet und nagte am Hungertuch.«

Thomas schaute überrascht auf. »Erzählt mir darüber!«

»Eines Tages – während ich noch an den Spiegeln arbeitete, mich gedanklich aber bereits mit dem Buchdruck beschäftigte stand Henning vor meiner Tür. Er habe gehört … Ob ich ihn nicht brauchen könne? Ich weihte ihn in mein Spiegel-Projekt ein. Finanziell beteiligen könne er sich nicht, sagte er, aber er verstehe sich auf Metalle, und wenn ich so viele Spiegel herstellen wolle, brauche ich sicher Hilfe. Ich war einverstanden, und er hat vielleicht ein halbes Jahr für mich gearbeitet. Er stellte die Spiegel in seiner Werkstatt her. Henning war zuverlässig und ein exzellenter Handwerker. Ich konnte mich nicht über ihn beklagen.«

»Eine rein geschäftliche Beziehung?«

»Ja, und das lag an seiner Art, mit der ich nicht zurechtkam. Er war immer am Jammern. Er haderte mit Gott und der Welt; fühlte sich vom Schicksal benachteiligt. Ich hatte bei Henning immer den Eindruck, als sei er neidisch auf mich.«

»Woran habt Ihr das gemerkt?«

Gutenberg hob die Schultern. »Er betonte auf übertriebene Weise seine einfache Herkunft. Wie schwer er es zeitlebens gehabt habe. Und dann bei anderen Gelegenheiten spielte er darauf an, dass ich ja aus einer Patrizierfamilie stamme. Als sei mir alles in den Schoß gefallen. Das sagte er nicht – aber er meinte es.«

»Was geschah, als das Projekt mit den Spiegeln beendet war?«

»Er bot mir an, weiter für mich zu arbeiten; wahrscheinlich hatte er mitbekommen, dass ich mich mit einer neuen Erfindung beschäftigte – aber ich hatte keine Verwendung für ihn.«

»Und später habt Ihr und Henning Euch in Mainz wieder gesehen?«, fragte Thomas.

»Er hatte mittlerweile vier oder fünf Kinder und lebte seit einiger Zeit in Mainz. Damals florierte seine Werkstatt. Aber in den letzten Jahren gingen die Aufträge zurück. Mainz ist hoch verschuldet, viele haben der Stadt den Rücken gekehrt.«

»Wie war Euer Verhältnis, als Ihr Euch wieder begegnet seid?«

»Nach außen freundlich, aber in Wahrheit distanziert.«

»Ihr seid Euch aus dem Weg gegangen?«

»Wenn wir uns begegneten, haben wir ein paar Worte gewechselt, mehr nicht. Natürlich hat er mitbekommen, dass ich eine Druckerei aufbaue. Das weiß hier in Mainz schließlich jeder. In Straßburg habe ich noch ein Geheimnis daraus gemacht, weil ich mir meiner Sache nicht sicher war. Hier in Mainz stellte ich zwei ehemalige Goldschmiede an, die für die Metalllettern zuständig sind; das hat er mitbekommen und vielleicht gehofft, dass ich auf ihn zugehe. Aber ich wollte ihn nicht ständig in meiner Nähe haben. Handwerklich hätte er das gekonnt. Aber menschlich passt er nicht in meine Truppe.«

»Es kann also sein, dass er einen heimlichen Groll hegt«, resümierte Thomas.

»Gut möglich.«

Sie schwiegen, und Thomas trat zum Pult des Korrektors, auf dem Gutenbergs rechter Arm lag, daneben einige bedruckte Seiten; die Arbeit des gestrigen Tages. Thomas deutete auf einen riesigen Buchstaben, der ein Bild enthielt. »Was ist das?«

»Eine Miniatur. Judith mit dem Haupt des Holofernes!«

Thomas trat näher, um die Miniatur erkennen zu können. Der enthauptete assyrische Feldherr lag auf seinem Bett, aus seiner offenen Halswunde schoss Blut; Judith stand in siegreicher Pose neben dem Lager, in einer Hand das blutige Schwert, mit der anderen hielt sie den bärtigen Kopf in die Höhe. Judiths Magd stand mit einem Sack bereit, in dem die Trophäe gleich verschwinden würde.

»Die gute Judith«, sagte Thomas. »Sie hat ihr Volk gerettet. Trotzdem finde ich sie immer ein wenig unheimlich.«

»Schade«, meinte Gutenberg. »Ich mag sie.«