16.

 

E

r kam gerade vom Kurfürsten. Eigentlich hätte Thomas eingeschüchtert sein müssen, aber er kochte vor Wut. Sie verdrängte alle anderen Empfindungen.

Er ging über den Marktplatz, und es war bereits dunkel. Zu dem Nebel kam jetzt wieder Regen, der manchmal in Schneeregen überging. Thomas verfluchte den Schlamm und das Wetter. Vor allem aber verfluchte er den Kurfürsten. Er war so aufgebracht, dass er kaum wahrnahm, was um ihn her vorging. Eine alte Frau, die seinen Weg kreuzte, bemerkte er nicht. Er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, die Kapuze seines Mantels überzuziehen, und Tropfen liefen ihm über das Gesicht. Das brachte ihn wieder zu sich. Fragmente des gerade zurückliegenden Gesprächs kehrten als Erinnerung zurück. Dass ihm jemand folgte, dass er beobachtet wurde – es fiel ihm in seiner Erregung nicht auf.

Mit der Frage: »Wie lange seid Ihr jetzt in Mainz?«, hatte ihn der Fürst begrüßt.

»Es müssen wohl vier Tage sein.«

»In dieser Zeit ist in meiner Stadt ein Mord verübt worden, und ein Mann ist verschwunden. Was habt Ihr unternommen?«

»Die Suche nach dem Baumeister läuft noch …«

»Mit welchem Ergebnis?«

»Wir haben ihn bisher nicht gefunden.«

»Außerdem ist eine junge Frau ermordet worden. Ihr habt es nicht für nötig gehalten, mich über den Stand der Dinge zu informieren.«

»Ich wusste nicht …«

»Glaubt Ihr, so was passiert hier jeden Tag? Es geht um die Sicherheit meiner Bürger! Als ginge mich das nichts an!«

»Ich hatte …«

»Keine Ausreden!«

Sie führten das Gespräch unter vier Augen im Arbeitszimmer des Fürsten. Darüber war Thomas froh, ersparte es ihm doch eine öffentliche Demütigung. Noch nie hatte ihn ein Vorgesetzter so behandelt. Und der Kurfürst hatte, zumindest offiziell, nach dem Kaiser das zweithöchste Amt im Reich inne. Er war Reichskanzler und präsidierte bei der Königswahl. War es nicht auch Steiningers Schuld? Der hätte ihm sagen müssen, wie wichtig es war, den Kurfürsten auf dem Laufenden zu halten, er hätte vermitteln müssen. Aber Thomas hatte Steininger seit dem ersten Treffen mit Erbach nur noch einmal gesehen.

Im Arbeitszimmer des Fürsten bedeckten mehrfarbige Fliesen – größtenteils unter einem Teppich verborgen – den Boden, und ein Schrank mit Schnitzwerk dominierte den Raum. Der Tisch, hinter dem Erbach saß, war breit und ausladend, einige Bücher lagen darauf, in Leder gebunden, darunter ein Codex Justianus, wie Thomas am Buchrücken mit Goldprägung erkannte. Daneben lag eine zerbrochene Gänsekielfeder.

Der Bischof legte die Spitzen der Finger aneinander und blickte Thomas herausfordernd ins Gesicht. Er trug diesmal kein bischöfliches Ornat, sondern war wie ein Adliger gekleidet, nach der neuesten Mode. »Meine Autorität steht auf dem Spiel«, sagte er.

Thomas erwiderte nichts, er war eingeschüchtert und ärgerte sich über sich selbst. Ihm geschah Unrecht, aber er verteidigte sich nicht gut.

»Wer ist für den Mord an Klara Roth verantwortlich?«

»Das weiß ich nicht.«

»Es ist Eure Aufgabe, in Zusammenarbeit mit Busch den Schuldigen zu finden …«

»Ich verfolge jede Spur.« Thomas fand seine Antwort erbärmlich.

»… und hinzurichten!«, ergänzte Erbach. »Wer steht unter Verdacht?«

»Bis jetzt noch niemand. Ich …«

»Das ist unmöglich. Ich erwarte, dass Ihr Eure Aufgabe ernst nehmt!«

»Ich versichere Euch …«

»Ihr solltet mich ausreden lassen. Ich bin mit Eurer Arbeit unzufrieden. Ihr habt nichts unternommen.«

»Das stimmt nicht«, sagte Thomas eine Spur zu laut. »Ich kann keinen Mörder aus dem Hut zaubern.«

»Werdet nicht unverschämt! Wenn ein Mord geschieht, muss spätestens zwei Tage später jemand am Galgen hängen – sonst denken die, sie können mir auf der Nase ’rumtanzen! Ich muss gegenüber dem Stadtrat Stärke zeigen …«

»Und falls der Betreffende unschuldig ist?«

»Zumindest haben wir dann ein Exempel statuiert. Abschreckung nenne ich das.«

»Aber das Gesetz …«

Der Kurfürst machte eine verneinende Geste mit der rechten Hand. »Ich bestimme, was Gesetz ist – und Ihr habt versagt!«

Thomas saß Erbach gegenüber auf einem niedrigen Stuhl und wäre am liebsten aufgesprungen. Er fühlte sich hilflos. Er war einem Mann ausgeliefert, der wahrscheinlich deshalb Bischof von Mainz war, weil er aus einer adligen Familie stammte, die für das Amt zahlen konnte. Außerdem lenkte ihn ein Detail davon ab, sich wirklich auf das Gespräch zu konzentrieren. Der Bischof hatte sich nach dem Essen den Mund nicht richtig abgewischt, um die Lippen glänzte Fett, und er musste Wein getrunken haben, denn vom rechten Mundwinkel zog sich ein roter Streifen hinunter zum Kinn; auch auf dem weißen Obergewand waren Rotweinspritzer zu sehen.

»Ich glaube, Ihr habt mich immer noch nicht verstanden«, fuhr Erbach fort. »Ich sehe es an Eurem Blick. Verabschiedet Eure Ideale! Von wegen Gerechtigkeit! Ich bin lange genug Bischof und weiß, wie man das Volk regiert. Wenn ein Verbrechen geschieht, muss die Reaktion auf dem Fuß folgen! Da darf es kein Zaudern geben und kein Zögern! Kann man den Täter fassen: an den Galgen mit ihm! Wenn nicht, greift man sich irgendeinen Landstreicher und knüpft ihn auf! Danach kräht kein Hahn, und es trifft nie den Falschen. Sobald er baumelt, sind die Leute zufrieden, und man verschafft sich Respekt.«

Thomas hatte, bevor er nach Mainz kam, viel von Erbach gehört. Er war Bischof einer der ältesten und bedeutendsten Diözesen nördlich von Rom. Erbach galt als besonnen, als ein Mann der schlichten und vermitteln konnte, wenn es zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten zu Konflikten kam. Es hieß, dass er als Mediator manchen unnötigen Rechtsstreit und sogar Krieg verhindert habe. Seine Verwaltung galt als vorbildlich organisiert. Er hatte nach seinem Amtsantritt die Kanzlei neu geordnet, und in einem Archiv, das im deutschsprachigen Raum seinesgleichen suchte, waren wichtige Schriftstücke und Urkunden jederzeit abrufbar. Menschen, deren Urteil Thomas traute, hatten so von Erbach gesprochen.

»Niemals!«, rief Erbach. Niemals was? Thomas hatte den Faden verloren. Er musste sich verteidigen und rechtfertigen!

»Ich lasse nicht zu, dass man mich zum Narren hält!«, tobte der Fürst, dessen Kopf rot angelaufen war. »Wie wollt Ihr jetzt vorgehen?«

»Ich bin dem Mörder auf den Fersen«, sagte Thomas. »Auch wenn ich ihn noch nicht gefunden habe, kommen die Ermittlungen gut voran. Ich habe den Tatort und die Leiche untersucht, und vieles deutet darauf hin, dass es sich nicht um einen Raubmord handelt. Es ist eine alte Erfahrung, dass die meisten Verbrechen mit Eifersucht, Neid oder Hass zu tun haben und sich aufklären lassen, wenn man das Umfeld des Opfers erforscht. Ich habe herausbekommen, dass Klara Roth Affären mit verschiedenen Männern hatte.«

Der Kurfürst zog die Brauen hoch. »Mit wem hatte sie Affären?«

»Mit Bewohnern von Mainz«, antwortete Thomas ausweichend.

Der Bischof klopfte mit der Hand auf die Lehne seines Stuhls. »Namen!«

»Eine Spur führt zu einem Mitglied des Stadtrats, eine andere ins geistliche Milieu …«

»Stadtrat jederzeit gerne«, sagte Erbach. »Aber die Geistlichkeit bleibt aus dem Spiel.«

Thomas begriff endgültig, worum es dem Bischof ging. »Ich werde behutsam vorgehen, und es dringt nichts an die Öffentlichkeit. Aber ich brauche Zeit. Ich bitte Euch …«

Der Bischof schüttelte den Kopf. »Ihr habt es immer noch nicht begriffen. Wir müssen schnell handeln!«

»Was nützt es denn«, fragte Thomas, »wenn wir einen Bettler aufhängen, und der Mörder läuft frei herum und sucht sein nächstes Opfer?«

»Der Blick zum Galgen wird ihn eines Besseren belehren!«

»Darauf können wir uns nicht verlassen!«

»Ihr seid jung, und trotzdem wisst Ihr alles besser. Ich habe das Gerede satt. Hört mir sehr gut zu! Ich werde Euch jetzt sagen, was Ihr zu tun habt, und Ihr richtet Euch danach! Andernfalls verliert Ihr Euer Amt. – Und ich hoffe, Ihr wisst, was das bedeutet? Wenn ich den Daumen nach unten halte, seid Ihr erledigt. Auf der anderen Seite kann diese Stelle für Euch ein Sprungbrett sein. Ein Empfehlungsschreiben von mir öffnet alle Türen; vor allem für einen Mann in Eurem Alter.«

»Gebt mir vier Wochen«, sagte Thomas. »Wenn ich bis dahin den Täter nicht habe, gehe ich freiwillig.«

»Nein.«

»Drei Wochen!?«

»Nicht mal eine.«

»Aber das ist Wahnsinn.«

»Noch so eine Bemerkung, und Ihr könnt Eure Sachen packen.«

Die waren noch nicht mal ausgepackt.

»Und hier ist meine Anordnung: In drei Tagen wird eine groß inszenierte, öffentliche Hinrichtung stattfinden. Oder Ihr seid Eure Stelle los!«

 

Thomas verließ den Marktplatz und wählte den kürzesten Weg zu seiner Wohnung. Ihm fiel ein, dass er gelegentlich beim Schuster vorbeischauen musste. Er hatte bisher kaum Zeit gehabt, sich ein Brot zu kaufen. Thomas erreichte den Turm. Die Häuser gegenüber der Stadtmauer wirkten ärmlich. Außer einem Mann, der mit einem Stock zwei Ochsen vor sich hertrieb, war die Gasse leer. Hier und da sah man etwas Lichtschein hinter den geschlossenen Fensterläden. In einer Rinne sammelten sich Exkremente. Thomas öffnete die Tür zu seiner Wohnung.

Innen war es fast so kalt wie draußen. Selbst der Nebel schien seinen Weg durch die Ritzen gefunden zu haben. Thomas streifte seine nassen Stiefel von den Füßen und setzte ein Feuer in Gang; aber es dauerte lange, bis die Flammen Kraft gewannen. Thomas setzte sich vor den Kamin und legte die Stiefel neben das Feuer.

Wie sollte er innerhalb von drei Tagen den Mörder finden? Da musste ihm schon ein gewaltiger Zufall zu Hilfe kommen. Er würde bald als Versager dastehen. Wen interessierten schon die Hintergründe einer Entlassung?

Es klopfte an der Tür. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, dass es Katharina sein könnte. Wenn er seine Stelle verlor, konnte er eine gemeinsame Zukunft mit ihr in den Wind schreiben.

Er ging zur Tür. »Wer ist da?«

Eine Frauenstimme antwortete. Er schob den Riegel zurück. Vor ihm stand eine junge Frau, die er nicht kannte.

»Ich heiße Gerlinde«, sagte sie. »Ich suche Arbeit und möchte mich Euch vorstellen.«

»Du hast einen schlechten Moment gewählt.«

»Darf ich hereinkommen? Nur kurz! Bitte!«

Thomas dachte daran, dass er in drei Tagen möglicherweise selbst ohne Arbeit dastand. »Unter anderen Umständen gerne. Aber momentan …«

»Müssen wir uns zwischen Tür und Angel unterhalten?« Sie zog fröstelnd einen blauen Mantel enger um die Schultern und machte einen Schritt auf ihn zu. Er zögerte, aber sie tat ihm Leid, und so ließ er sie herein. Er half ihr aus dem Mantel, und sie setzten sich an den Tisch. Sie trug ein bräunliches Leinenkleid mit tiefem Ausschnitt, das ihre schlanke Figur betonte. Ihr helles Haar trug sie offen.

»Ich wohne erst ein paar Tage hier«, sagte Thomas und zeigte auf eine Kiste.

»Ich kann einen Haushalt führen, und das ist der Grund, weshalb ich zu Euch komme.«

»Leider hättest du kaum einen schlechteren Zeitpunkt wählen können.« Eine Hilfe hätte er brauchen können. Aber machte es Sinn, sie anzustellen, falls er nächste Woche nicht mehr im Amt war? »Wer hat dir gesagt, dass du bei mir Arbeit bekommst?«

»Niemand. Wenn man keine Arbeit hat, kommt man von selbst auf solche Ideen«, sagte sie. »Ihr könnt Erkundigungen über mich einziehen. Ich habe für die Familie eines Arztes gearbeitet. Früher war ich in Frankfurt. Man war überall zufrieden mit mir.«

»Das ist nicht das Problem.«

»Niemand kauft die Katze im Sack, ist es das? Aber nehmt mich ein paar Tage zur Probe.«

Normalerweise ein vernünftiger Vorschlag, wie er fand. »Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen …«

»Ihr geht kein Risiko ein«, beharrte sie. »Ich arbeite eine Woche zur Probe für Euch. Danach trefft Ihr eine Entscheidung. Das ist üblich. Das war bei meinen bisherigen Anstellungen nicht anders. Wenn Ihr Nein sagt, werde ich das ohne Murren akzeptieren. Euch entsteht nicht der geringste Nachteil. Wenn das kein gutes Angebot ist!«

Thomas zögerte immer noch mit der Antwort, während er unwillkürlich einen Blick auf ihren Ausschnitt warf.

»Ärgert es Euch nicht, wenn Ihr nach Hause kommt, und die Wohnung ist kalt? Feuer machen ist mühselig, keine Arbeit für einen Richter.« Sie spürte, dass ihre Argumentation zu wirken begann. »Ich werde Euch auch morgens ein Feuer machen, bevor Ihr aufsteht.«

»Das wäre schon eine Hilfe.«

»Ich mache Euch Frühstück, und wenn Ihr nach Hause kommt, wird ein Essen auf Euch warten.«

»Also gut«, sagte Thomas, »versuchen wir’s.«

»Ich kümmere mich um alles, was im Haushalt anfällt. So könnt Ihr Euch auf Eure Arbeit konzentrieren!«

»Einverstanden. Aber ich kann dir nichts versprechen.«

»Das ist nicht nötig.«

Er fand sie sympathisch und attraktiv. »Wann willst du anfangen?«

»Gerne sofort.«

»Sagen wir also morgen.«

Er fragte sie ein paar Dinge. Sie gab bereitwillig Auskunft und machte einen guten Eindruck auf ihn.

»Da ist noch etwas«, sagte sie. »Ich wohne in einer kleinen Dachkammer, muss aber dort bald raus. Falls Ihr mich nehmt, könnte ich dann bei Euch wohnen?«

»Darüber reden wir morgen. Ich bin nachmittags am Gericht. Dann besprechen wir alles weitere.«

»Bis morgen also.« Sie stand auf, und er brachte sie zur Tür. Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln, in dem er eine Spur von Trauer zu entdecken glaubte.