1.
Mainz, im Februar 1454
B
evor der Richter seine neue Stelle antrat, musste er sich beim Mainzer Kurfürsten vorstellen, einem der mächtigsten Männer im Reich. Im Extremfall würde Thomas Berger über Leben und Tod entscheiden. Die Stelle verdankte er Steininger, einem Freund seines Vaters. Wichtige Posten wurden fast immer aufgrund von Beziehungen vergeben. Er war jung und die Chance einmalig.
In der Vorhalle zum Audienzsaal warteten bewaffnete Ritter, Geistliche in Ordenstracht, Kaufleute und zwei Frauen in kostbaren Gewändern; die Stimmen klangen gedämpft. Gegen die Fenster prasselte heftiger Regen. Obwohl es noch nicht Mittag war, schien Dämmerung zu herrschen, denn die Wintersonne fand keinen Weg durch die Wolkendecke. Ein Mann ging auf und ab, und seine Schritte hallten von den Wänden wider.
Steininger, der wichtigste Mitarbeiter des Kurfürsten, hatte Thomas zum Palast begleitet. »Vielleicht hätten wir besser einen anderen Zeitpunkt gewählt«, sagte er, während sie warteten. Thomas warf einen unruhigen Blick auf Steininger, der alt geworden war; sie hatten sich lange nicht gesehen. Thomas kam der Gedanke, dass die Audienz möglicherweise keine reine Formsache sei, wie sein Begleiter behauptete.
Schon öffnete sich die eiserne Flügeltür zum Saal, und fünf Männer traten heraus: Zunftherren, Mitglieder des Stadtrats. Ihre Gesichter wirkten blass. Sie sprachen kein Wort, während sie die Treppe hinuntergingen.
Der Türsteher in seiner blauen und roten Uniform kam mit eiligen Schritten auf Steininger zu. »Er erwartet euch«, sagte er und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Vorsicht! Das Gespräch war unerfreulich. Er ist gereizt.«
Als sie auf den glatten, schlammbedeckten Steinplatten fast die Tür erreicht hatten, neigte Steininger den Kopf zu Thomas: »Antworte nur, wenn er dich anspricht. Ansonsten überlass das Reden mir!«
Sie betraten den großen, eher niedrigen Saal, der von drei Säulen getragen wurde. Die Wände waren mit Teppichen geschmückt, auf denen Jagdszenen und Wappen zu sehen waren. An einer Seite des Raums befanden sich fünf Fenster mit bunten Scheiben. Eines zeigte das Mainzer Wappen, zwei weiße Räder vor rotem Hintergrund; andere bildeten Bischöfe ab. Aber weil es draußen dunkel war, wollten die Farben nicht leuchten; Regenbäche liefen über das Glas. Nahe bei einem gelb und rötlich flackernden Kamin, die linke Gesichtshälfte vom Feuer beschienen, saß auf einem Thron Dietrich von Erbach. Er war Erzbischof von Mainz und oberster Kurfürst im Heiligen Römischen Reich. An einem Tisch neben Erbach rollte ein älterer Mann eine Pergamenturkunde zusammen, an der rote Siegel hingen; er führte bei wichtigen Verhandlungen Protokoll. Zwei Geistliche standen beim Bischof und diskutierten mit ihm. Steininger und Thomas blieben in gebührendem Abstand stehen, denn der Bischof schien sie nicht zu bemerken.
Erbach hatte einen Wutanfall gehabt, sie hatten sein Geschrei vorhin trotz der geschlossenen Tür gehört, und sein Kopf sah aus, als habe er ein halbes Fass Wein geleert. Thomas hörte Wortfetzen wie »Zünfte«, »Verbrecherbande« und »an den Galgen«. Endlich blickte der Bischof herüber und winkte Steininger zu sich, ohne Thomas zu beachten.
»Steininger! Hast du gehört, was der Stadtrat ausgebrütet hat?«
Der Kurfürst war ein kleiner, feister Mann. Er trug über einem weißen Gewand einen prächtigen Mantel mit Goldbesatz und einen Bischofshut, der viel zu groß für seinen fast kahlen Kopf wirkte. Sein Bischofsstab, der am oberen Ende zu einem P geformt und mit Edelsteinen geschmückt war, lehnte seitlich am Thron. Der Kurfürst rutschte unruhig hin und her. Ohne Steiningers Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Wir sollen Weinsteuer zahlen!«
»Eine bodenlose Frechheit!« Steininger schüttelte den Kopf. »Erst haben sie die Stadt ruiniert – und jetzt sollen wir für die Schulden aufkommen …«
Thomas kannte die Hintergründe nicht, aber offenbar gab es für Erbach und Steininger keine schlimmere Vorstellung, als Weinsteuer zu zahlen. Der Untergang der Welt hätte kaum größeres Entsetzen ausgelöst.
»Was wollen die noch alles?!«, rief Dietrich von Erbach. »Die Stadträte überschätzen ihre Macht. Sie wollen sich an den König wenden. Sie behaupten, Mainz habe den Status einer freien Reichsstadt, die nur ihm untersteht …« Er lachte gekünstelt. »Sie übersehen nur eins: Der König will von ihnen nichts wissen. Sie stehen nämlich bis zum Hals bei den Frankfurtern in der Kreide.« Der Fürst legte seinen Kopf schief und hob die Brauen. »Wen hast du da mitgebracht, Steininger?«
»Das ist unser neuer Richter!«
Erbach wandte sich Thomas zu, der abseits stand. Keiner sprach. Thomas sah, wie die hellen, sehr wachen Augen seines neuen Arbeitgebers ihn musterten. Thomas war groß gewachsen, hatte schwarze, lockige Haare, die ein rötliches Barett bedeckte, und dunkle Haut.
»Unser Richter …« Dietrich von Erbach streckte die Hand aus. Thomas kniete nieder und küsste den bischöflichen Ring.
»Steininger hat Euch eingestellt …« Dietrich zog die Stirn in Falten. »Wie war gleich Euer Name?«
»Thomas Berger.«
Der Bischof kniff die Lippen zusammen. »Ihr verdankt Eure Stelle Steininger. Er war mein Stellvertreter während meiner Romreise. Ich habe ihn beauftragt, wichtige Entscheidungen zu treffen, auch Personalentscheidungen. Das Richteramt ist außerordentlich wichtig.« Der Bischof schaute Thomas herausfordernd an. »Steininger sagte, Ihr stammt aus Italien.«
»Ich bin in Palermo geboren.«
»Eure Eltern sind Italiener?«
»Nur meine Mutter.«
»Was macht Euer Vater?«
»Er ist Kaufmann.«
»Und sein Sohn wollte nicht in seine Fußstapfen treten?!«
»Ich möchte meinen eigenen Weg gehen«, sagte Thomas.
Er hatte keine Erfahrung darin, bei Hof zu erscheinen. Zu Hause in Köln waren die Umgangsformen leger. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er vor einem Fürsten. Er hatte das Gefühl, dass Erbach ihn nicht mochte.
»Weshalb möchtet Ihr Richter werden?«, fragte Erbach.
»Mein Vater hat den größten Teil seines Lebens auf Reisen verbracht«, sagte Thomas. »Er ist einige Male nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ein solcher Beruf liegt mir nicht.«
Erbachs Kopf hatte die Farbe gewechselt. Das ist rosa, dachte Thomas, der in seiner freien Zeit gern malte. Ein ganz eigenartiges Rosa.
»Kein Grund,. Jurist zu werden«, sagte Erbach. »Das Amt bringt Verantwortung mit sich und extreme Belastungen!«
Die Aussicht, in Italien zu studieren, war für Thomas’ Berufswahl ausschlaggebend gewesen. Aber das würde den Kurfürsten nicht interessieren. »Ich habe viele Jahre studiert und freue mich darauf, Verantwortung zu übernehmen«, log Thomas.
Der Fürst wandte sich an seinen Schreiber, der ihm wortlos einen Pergamentbogen reichte. Erbach kniff die Augen zusammen und überflog das Dokument. »In Bologna studiert«, murmelte er. »Man sagt, dies sei die bedeutendste Rechtsschule im Abendland. Ich persönlich halte wenig vom römischen Recht. Wir haben unsere eigenen Traditionen, und die wollen wir pflegen.«
Etwas Ähnliches hatte Thomas befürchtet. So langsam kam der Bischof zur Sache.
»Vergesst die graue Theorie«, fuhr Erbach fort, »die man Euch in Italien eingetrichtert hat. Was in Büchern steht und was im tatsächlichen Leben geschieht, sind zwei Paar Schuhe. Im Alltag ist Härte gefragt und Strenge!«
Thomas wurde klar, dass der Bischof selbst ihn nie eingestellt hätte. Thomas schaute zur Seite, wo der Freund seines Vaters stand. Steininger konnte mit dem Verlauf des Gesprächs nicht zufrieden sein. Wenn Thomas scheiterte, würde das auch seinem Ansehen beim Bischof schaden.
»Euer Vorgänger war ein exzellenter Mann«, nahm Dietrich den Faden wieder auf. »Zwischen uns bestand Einigkeit in allen Grundsatzfragen. Ich möchte gern mehr über Euer Rechtsverständnis erfahren. Nach welchen Grundsätzen wollt Ihr das Amt ausüben?«
Nachdem der Kurfürst gesagt hatte, was er vom römischen Recht hielt, war die Frage mehr als heikel. Zwischen Thomas’ Rechtsvorstellungen und denen des Kurfürsten gab es wenig Gemeinsamkeit. Steininger hatte ihn schlecht vorbereitet. Er ist alt geworden, dachte Thomas. Er hat so viele Falten bekommen. Thomas spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er bemühte sich, die Frage des Kurfürsten diplomatisch zu beantworten. »Wenn die bisherigen Rechtsbräuche vernünftig sind«, sagte er, »werde ich sie fortführen.«
»Die Situation ist angespannt«, erwiderte Erbach, »und erlaubt keine Experimente. Sicher hat Euch Steininger über alles informiert.«
Hatte er nicht! Thomas’ Verärgerung wuchs. Steininger ergriff das Wort, um die Situation zu retten. »Er sollte auch aus Eurem Mund hören, was ihn erwartet!«
Der Schreiber hatte den Kopf gehoben und musterte Thomas kritisch, der sich fragte, in was für eine Geschichte er hineingeraten war. Und woran erinnerte ihn dieses Rosa?
»In Mainz findet zurzeit ein Kampf statt zwischen dem Stadtrat und mir. Er will Rechte an sich reißen, die mir gehören.« Der Bischof sprach jetzt ruhig und überlegt. »Im Stadtrat herrschen die Zunftmeister. In einem blutigen Kampf haben sie das Patriziat besiegt. Aber sie haben durch Arroganz und Misswirtschaft die Finanzen der Stadt ruiniert. Die Zinszahlungen fressen die Steuereinnahmen. Ich habe die Situation genutzt und die bischöfliche Macht gestärkt. Auch Eure Stelle war umkämpft.«
Das klang nach einem schleichenden Krieg zwischen zwei Lagern, die sich nicht versöhnen würden. Thomas wusste aus Köln, dass das Verhältnis zwischen dem Erzbischof und den Bürgern oft problematisch war. Aber was er nun hörte, hatte eine andere Dimension, und er war fremd hier, kannte die Strukturen und Verhältnisse nicht. Lief es darauf hinaus, dass er zwischen die Fronten geriet?
»Das strenge Gericht beziehungsweise die Blutgerichtsbarkeit liegt in meinen Händen«, erklärte Erbach. »Eure Stelle untersteht mir, nicht dem Stadtrat. Die Kompetenzen der städtischen Richter beschränken sich auf Bagatellfälle. Als es galt, Eure Stelle neu zu besetzen, wollte sich der Stadtrat einmischen und die Blutgerichtsbarkeit an sich ziehen. Steininger hat schnell gehandelt, indem er Euch die Stelle gab und damit den Stadtrat düpiert!«
Davon hatte Steininger kein Wort erwähnt. Das flaue Gefühl in Thomas’ Magengrube verwandelte sich zunehmend in ein Stechen. Ihm wurde plötzlich die überstürzte Eile klar, mit der er die Stelle antreten musste, und er verstand nun Steiningers Schweigen. Der Freund seines Vaters hatte ihm einen Bärendienst erwiesen. Nicht nur, dass Konflikte mit dem Bischof absehbar waren: Thomas würde den gesamten Stadtrat gegen sich haben. Das heißt, er hatte ihn schon gegen sich, obwohl sie ihn noch gar nicht kannten.
»Es war bisher üblich«, setzte der Kurfürst seine kleine Rede fort, »dass mich der oberste Gewaltrichter bei allen Fällen, die von Belang sind, konsultiert. Ihr braucht nicht wegen Kleinkram zu kommen. Aber wenn etwas auf dem Spiel steht«, und hierbei schaute er Thomas wieder eindringlich an, »denkt an den obersten Rechtssatz dieser Stadt: Das Gesetz bin ich!« Dabei tippte er sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Brust.
Thomas’ spontaner Impuls war, sich auf den Rückweg nach Köln zu machen. Seine Assistentenstelle am dortigen Gericht war noch nicht neu besetzt. Wie sollte er mit einem Mann zusammenarbeiten, der so redete, wie Thomas sich einen selbstherrlichen römischen Imperator vorstellte? Der nächste Gedanke galt seiner Karriere. Wenn er kampflos das Feld räumte, war er erledigt. Nur ein Wahnsinniger konnte eine Mainzer Richterstelle ablehnen. Auch in Köln, bei seinen alten Kollegen, würde er kein Verständnis finden, und noch weniger bei seinem Vater. Aber selbst wenn er die Meinung anderer Leute außer Acht ließ und nur auf sich hörte, wäre es ihm wie Feigheit oder Flucht vorgekommen, den Rückzug anzutreten.
Thomas nahm nur am Rande wahr, wie Steininger väterlich den Arm um seine Schulter legte. »Wenn du seinen Rat befolgst, steht dir eine glänzende Zukunft bevor!«
Thomas traute seinen Ohren nicht: Von was für einer glänzenden Zukunft redete dieser Mann? Er saß auf einem Pulverfass! Es war nur eine Frage der Zeit, wann es in die Luft flog …