8.

 

E

s war Zeit, mit dem Baumeister zu reden, und Thomas ging zurück zum Dom, der nicht weit entfernt lag. An die Kathedrale schlossen sich der Kreuzgang, Kapellen und das Domkapitel an. Auch der bischöfliche Palast und das Gerichtsgebäude standen so dicht beim Dom, als gehörten sie dazu.

Nach kurzem Suchen stieß Thomas auf die Hütten der Bauarbeiter; einfache, an die Wände der Kathedrale gelehnte Holzverschläge, aus denen Klopfen und Hämmern drang. Im Steingarten neben den Hütten lagerten Blöcke mit Ornamenten; aus manchen begannen sich halbfertige Figuren herauszuschälen. Thomas öffnete die Tür einer Hütte, aus der Rauch aufstieg, der vom Schornstein seitlich über das Dach wehte und sich im Regen verlor. Innen saßen drei Arbeiter mit Hammer und Meißel vor Steinblöcken und verliehen ihnen die Form von Quadern. Auf die Frage nach dem Meister schickte man ihn zu einer Hütte nahe beim Kreuzgang, die größer war als die anderen.

Thomas klopfte an die Tür dieser Baracke, und da er kein »Herein« hörte, trat er einfach ein. Zwei Männer, die ihn nicht beachteten, standen bei einem mit Plänen bedeckten Tisch, und Thomas erkannte an den Gesten gleich den Meister, der auf einen Plan deutete und seinem Assistenten etwas erläuterte. Sie waren so in ihr Projekt vertieft, dass Thomas sich räuspern musste, ehe sie aufblickten. Der Meister, ein hoch gewachsener Mann mit ernstem Gesicht und blonden, nach hinten gekämmten Haaren, die sich an den Schläfen zu lichten begannen, blickte Thomas fragend und irritiert an.

Offenbar hatte er die beiden bei einer wichtigen Besprechung gestört. »Ich möchte mit Friedrich Metz sprechen«, sagte Thomas.

»Das bin ich«, erwiderte der Meister.

»Können wir unter vier Augen reden?«

»Weshalb?« Sein Gesicht zeigte Verärgerung.

»Eine persönliche Angelegenheit.«

»Wer seid Ihr?«

»Der neue Richter.«

»Ich habe von Euch gehört.« Metz senkte den Kopf und sagte zu seinem Mitarbeiter: »Geh rüber zu Franz und schau nach, wie er mit dem Wasserspeier zurechtkommt. Achte darauf, dass der Rachen groß genug ist für ein Regenrohr.« Und nachdem der junge Assistent die Hütte verlassen hatte, fragte er: »Was wollt Ihr von mir?«

Er stand noch immer bei seinen Plänen, und Thomas ging auf ihn zu, bis er ihm auf der andern Seite des Tisches gegenüberstand. Interessiert warf er einen Blick auf die Zeichnungen: »Ich möchte Euch etwas zeigen!«

»Ihr habt Euch einen schlechten Moment ausgesucht.«

»Dann will ich Euch nicht unnötig aufhalten.« Thomas zog unter seinem durchnässten Umhang das Messer mit dem Elfenbeingriff hervor. »Kennt Ihr das?«

Ein kurzer Blick genügte Metz. »Wo habt Ihr das her?«

»Es gehört Euch?«

»Natürlich! Ich hab’s überall gesucht.« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Messer habe ich vor ein paar Wochen verloren.« Er streckte die Hand danach aus, und Thomas reichte ihm das Messer. Der Baumeister betrachtete es von allen Seiten. »Kein Zweifel«, murmelte er, »das ist es.« Er ging um den Tisch herum zu Thomas und deutete auf das Elfenbeinrelief. »Die heilige Barbara, die uns beschützt und zu der wir beten. Ich habe das Messer aus Straßburg, damals war ich auf Wanderschaft.«

Metz zog die Brauen zusammen. »Was sind das für Flecken?«

»Mit diesem Messer wurde Klara Roth getötet!«

Der Mann ließ das Messer so plötzlich auf seine Pläne fallen, als berühre glühendes Metall seine Finger.

»Seit wann vermisst Ihr es?«

Die Stirn des Baumeisters überzog sich mit Falten. »Das war irgendwann im Spätsommer.«

»Wo bewahrtet Ihr es normalerweise auf?«

»Zu Hause, in einer Kiste. Dort lag es seit Jahren. Es gehört zu den Dingen, die man irgendwann im Leben aufsammelt, weil man sie schön findet, und dann liegen sie unbeachtet in einer Ecke. Von daher weiß ich auch nicht, seit wann es wirklich weg war. Aufgefallen ist es mir, als ich in der Kiste, wo es immer lag, nach etwas anderem suchte.«

Thomas schaute zu einem zweiten Tisch in einer Ecke des Raums, auf dem ein aus Holz gearbeitetes Modell des Doms stand, dem Original verblüffend ähnlich; jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, es rot anzumalen. Bewegliche Holzbausteine stellten die verschiedenen Kapellen, den Kreuzgang und weitere Gebäude dar, die zum Umfeld der Kathedrale gehörten.

»Wer wusste, dass die Tatwaffe Euch gehört?«, fragte Thomas.

»Die Tatwaffe …«, wiederholte Metz. »Sehr wenige. Ich habe es nur selten bei mir getragen.«

»Als Euch im Sommer auffiel, dass das Messer weg war: Habt Ihr mit jemandem darüber gesprochen?«

Die Schultern des Baumeisters strafften sich, als ihm bewusst wurde, worauf die Frage hinauslief. »Ich habe meine Frau gefragt, ob sie das Messer verlegt hat.«

»Ich habe vor wenigen Augenblicken mit Eurer Frau gesprochen. Sie behauptet, das Messer nicht zu kennen.«

Metz schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Dann kann sie sich nicht erinnern. Ich weiß genau, wie ich das ganze Haus durchsucht und sie mehrmals darauf angesprochen habe. Aber sie hat mit den Kindern viel Arbeit. Wie soll ihr da jede Kleinigkeit im Gedächtnis bleiben?«

»Ich würde das nicht als Kleinigkeit bezeichnen.« Thomas zeigte auf das Messer. Es lag auf dem Plan eines Deckengewölbes, und die Spitze zeigte dorthin, wo auf der Zeichnung der Schlussstein abgebildet war.

»Mir ist klar«, sagte Metz, »dass Ihr mich verdächtigt.« Er ging hinüber zum Tisch in der Ecke und zeigte mit beiden Händen auf den Miniaturdom. »Das ist ein maßstabgetreues Modell der Kathedrale. Es hilft mir bei meinen Planungen. Mein Beruf verlangt von mir Weitsicht, ich kann es mir nicht leisten, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das nicht bis ins Detail durchdacht ist. Und dort die Pläne …« Er kam wieder zurück zum Tisch, wo Thomas noch stand, und hielt abwechselnd verschiedene Papierbögen mit Zeichnungen in die Höhe. »Was glaubt Ihr, warum ich mir diese Arbeit mache? Es ist fast fünfhundert Jahre her, dass Bischof Willigis hier eine Kathedrale errichten ließ. Sie brannte ab, sie wurde wieder aufgebaut. Was ist dagegen die Spanne eines Menschenlebens? Mein Beruf verlangt von mir, dass ich an künftige Generationen denke, dass ich vorausschaue und Visionen entwickle. Denkt Ihr wirklich …«, und während er das sagte, trat Metz näher zu Thomas heran, »ein Mann wie ich würde, wenn er einen Mord ausführen will, so stümperhaft vorgehen, dass der Verdacht sofort auf ihn fällt? Das Messer gehört mir, ja, aber das habe ich sofort zugegeben. Ich spiele Euch nichts vor! Glaubt Ihr im Ernst, wenn ich etwas mit der Tat zu tun hätte, dann würde ich das Messer zurücklassen? Im Gegenteil: Ich würde vor dem Mord einen Plan machen – einen detaillierten Plan – und nichts dem Zufall überlassen. Würde ich jemals so eine Tat begehen, wäre ich der Allerletzte, auf den der Verdacht fällt, das könnt Ihr mir glauben!«

Thomas musste sich eingestehen, dass ihn die kleine Verteidigungsrede des Baumeisters überzeugte. »Trotzdem«, sagte er, »muss ich Euch fragen, wo Ihr den vorgestrigen Abend und die vorgestrige Nacht verbracht habt.«

»Zu Hause, bei meiner Familie. Meine Frau kann das bestätigen!«

»Das hat sie bereits getan. Wie war Euer Verhältnis zu Klara Roth?«

»Wenn wir uns auf der Straße begegneten, grüßten wir uns.«

»Ihr habt sie nie in ihrem Haus besucht?«

»Ich bin zu beschäftigt, um in der Gegend herumzulaufen.«

Thomas streckte die Hand aus. »Das Messer muss ich behalten. Ihr hört von mir …«