34.

 

I

hre Arme und Beine schmerzten, weil die Stricke ins Fleisch schnitten. Katharina rätselte über den Mann, der mit ihr gesprochen hatte. Er war kein Deutscher, aber er beherrschte die Sprache nahezu perfekt, und die Art, wie er sich ausdrückte, kam ihr ungewöhnlich vor: So sprach kein Handlanger! Er war der Kopf, der hinter allem steckte …

Irgendwann öffnete sich die Tür, durch die sie hereingekommen war, und man befreite sie von den Fesseln und der Augenbinde. Sie befand sich in einem niedrigen Raum mit Rundbogengewölbe. Die bräunlichen Wände, von zwei in Nischen angebrachten Fackeln beleuchtet, waren aus Lehm. Vor ihr stand ein junger Mann mit langen, fettigen Haaren, der kaum noch Zähne im Mund hatte. Er führte sie durch verschiedene Gänge. Sie mussten gebückt gehen. Fackeln beleuchteten auch hier den Weg. Außerdem fielen Katharina in regelmäßigen Abständen Schächte auf, aus denen eisige Luft strömte. Der Mann öffnete eine Tür und sie betraten einen Raum, dessen Wände gemauert und mit Teppichen behangen waren. Es gab einen Kamin, in dem Flammen an Holzscheiten züngelten, bequeme Sitzmöbel, einen Tisch und sogar ein Bett. Die Decke war vergleichsweise hoch und bildete ein Kreuzgewölbe. Katharinas Führer verschwand, um mit einem Korb zurückzukehren. Er deckte den Tisch, holte zwei Becher hervor, die silbrig glänzten, wenn sie das Licht der Flammen auffingen; zwei Teller kamen dazu, aus dem gleichen Material gefertigt.

Dann erschien der Südländer; sie erkannte sofort seine Stimme, als er zur Tür hereinkam und sie begrüßte. Er trug eine purpurfarbene Toga über ansonsten schwarzer Kleidung; eine stattliche Erscheinung (wie sie fand), das Gesicht nicht unsympathisch – wären sie sich unter anderen Umständen begegnet, hätte sie ihn interessant gefunden, vielleicht sogar das Gespräch mit ihm gesucht.

»Man wird uns eine Kleinigkeit zu essen bringen«, sagte er. »Sicher habt Ihr Hunger?«

Er begleitete sie zum Tisch und rückte ihr den Stuhl zurecht, als sie sich setzte. Sie vermutete, dass er in seinem Heimatland der Oberschicht angehörte. Wäre ich fähig, ihn zu töten?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie ließ wie nebenbei ihren Blick über den Tisch wandern, suchte nach einem Messer oder etwas, das sie als Waffe benutzen konnte, aber es gab nichts, nur Löffel. In einem Korb lagen Weißbrote, eine Glaskaraffe enthielt Wein von einem dunklen, fast schwarzen Rot, und der Bedienstete brachte eine dampfende Schüssel mit Bratenfleisch, das in kleine Stücke zerteilt war, und Gemüse.

»Wein?«, fragte Bologna und füllte ihren Becher, als sie nickte. Katharina überlegte, ob die Karaffe als Waffe geeignet war. Allerdings müsste es überraschend geschehen. Dann würde sie ihm einschenken. Bologna hob seinen Becher. Na gut, dachte sie und stieß mit ihm an.

Sie nippte am Wein. Der Diener verschwand, und sie waren allein. Hatte er die Tür von außen abgeschlossen? Sie hatte nichts gehört! Stand er Wache? Zumindest waren ihr keine Schritte aufgefallen, die sich entfernten. Aber die Tür war dick und mochte die Geräusche von außen schlucken. Oder ihr Gastgeber war sich seiner Sache zu sicher.

»Das Essen schmeckt gut«, sagte sie.

Falls man ihr etwas ins Essen getan hatte, konnte sie es nicht ändern. Aber wahrscheinlich war das nicht der Fall, und das gemeinsame Essen musste einen bestimmten Grund haben; sie begann auch, diesen Grund vage zu ahnen.

 

Bologna interessierte sich schon für Katharina, bevor er sie zum ersten Mal sah. Er kannte sie aus den Berichten seiner Informanten, er hatte erfahren, dass sie Lehrerin war, lesen und schreiben konnte und eine gebildete Frau war. Sie fiel aus dem Rahmen, war etwas Besonderes. Bologna hatte die meiste Zeit seines Lebens unter Männern verbracht, und die wenigen Frauen, mit denen er ein Verhältnis hatte, ließen sich bezahlen. Es war keine darunter, die eine Schule besucht hatte. Eine Frau, die Kinder im Lesen und Schreiben unterrichtete – das machte ihn neugierig, und vom ersten Moment an hatte er gehofft, sie kennen zu lernen. Aber er musste vorsichtig sein. Zwar gab es genug Kleriker, die sich um das Zölibat einen Dreck scherten, aber er kannte Fälle, in denen »unsittlicher Lebenswandel«, wenn er ans Licht kam, die Träume von Aufstieg und Reichtum platzen ließ. Er wollte seine Karriere nicht gefährden.

Allerdings war er weit weg von Rom, und Katharina faszinierte ihn. Als er sie zum ersten Mal sah und mit ihr sprach, eröffnete sich ihm etwas völlig Neues. Nachdem er sie verhört hatte, wurde ihm klar, dass er sie begehrte. »Ich nehme sie mit nach Rom«, hatte er laut zu sich selbst gesagt. Das häufige Alleinsein führte dazu, dass er Selbstgespräche führte.

Er beobachtete sie beim Essen, wie sie den Löffel hielt, wie sie ihm manchmal einen Blick zuwarf, und ihn erstaunte die Langsamkeit ihrer Bewegungen, ihre Eleganz. Sie trug ein weites, schwarzbraunes Kleid, das bis zum Hals reichte, und er versuchte sich ihren Körper vorzustellen. Dabei entsprach sie in keiner Weise dem Schönheitsideal, dem die Maler und Bildhauer huldigten.

»Kennt Ihr andere Städte außer Mainz?«, fragte er.

»Nein.«

Bologna hob seinen Becher und bewegte ihn hin und her, so dass er funkelte und aufblitzte. »Ich muss Euch mit nach Rom nehmen.«

»Was soll dort mit mir geschehen?«

»Der Sklavenhandel ist ein einträgliches Geschäft. Aber ich könnte das verhindern.«

Katharina legte den Kopf in den Nacken und blickte zu einem der Wandteppiche, auf dem ein Mann mit Königskrone zu sehen war; er schaute aus einem Fenster seines Palastes hinunter auf einen Teich, in dem eine nackte Frau badete, während ihre Dienerin beim Ufer stand: David und Batseba. Katharina kannte die Erzählung; Batseba war die Frau des Uria, aber David würde ihren Mann töten lassen, um sie zu heiraten und mit ihr Salomo zu zeugen, den Weisen.

»Nicht ohne Gegenleistung, nehme ich an?«

»Es ist Eure freie Entscheidung.«

Wie würde er reagieren, wenn sie ablehnte? Versuchte er es erst auf die sanfte Art, um dann, wenn das nicht fruchtete, zu rabiaten Methoden zu greifen? Es pochte in ihren Schläfen. Sie hatte die ganze Zeit nach einem schwachen Punkt bei ihm gesucht. Was würde geschehen, wenn sie zusagte? Immerhin war er ein interessanter Mann und besaß Macht und Einfluss. Er konnte seiner Geliebten einiges bieten. Auch war Rom der Ort ihrer Sehnsucht; sie hatte immer von einer Reise dorthin geträumt.

»Was erwartet Ihr von mir?«