36.

 

G

utenberg stand der Unglaube ins Gesicht geschrieben, nachdem Thomas ihn zu einem Gespräch unter vier Augen aus der Werkstatt geholt hatte – oder vielleicht war es auch Fassungslosigkeit. Er lief Gefahr, seinen wichtigsten Mitarbeiter zu verlieren; aber es gab auch eine menschliche Seite, und Thomas dachte an die Art, wie beide in seiner Gegenwart miteinander geredet hatten. Trotz des Konflikts spürte er die Nähe zwischen Meister und Mitarbeiter, sie waren sehr vertraut miteinander, mochten und respektierten sich.

»Ich gebe nichts auf das Gewäsch von Marktweibern!«, sagte Gutenberg. »Hermann ist halt etwas anders als die meisten, da entstehen dann sofort Gerüchte und Verleumdungen. Aber ich kenne ihn schon so lange, und er ist eine ehrliche Haut.«

»Trotzdem müssen wir ihm noch mal auf den Zahn fühlen. Ich möchte wissen, wie er reagiert, wenn wir ihn mit den Vorwürfen konfrontieren!«

»Er wird mir das ewig übel nehmen. Selbst wenn er nachts das Haus verlässt, muss er mit den Morden nichts zu tun haben. Vielleicht verbringt er seine Zeit im Hurenhaus.«

»Auch das lässt sich nachprüfen. Auf jeden Fall muss er Farbe bekennen.«

Schließlich konnte Thomas ihn überzeugen, und Gutenberg verließ das Gesellschaftszimmer, um Hermann aus der Werkstatt zu holen.

Hermann Baums Blick, als er den Raum betrat, ließ Thomas nichts Gutes ahnen. Von einem ausdruckslosen Puppengesicht konnte nicht die Rede sein; er war aufgebracht, und Thomas suchte instinktiv nach einer Fluchtmöglichkeit. Würde er rechtzeitig zur Tür kommen? Aber zwischen ihm und der Tür stand Hermann.

Thomas beschloss, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Ich habe über Euch ein paar Nachforschungen angestellt«, sagte er statt einer Begrüßung.

»Was Ihr macht, ist mir völlig egal«, erwiderte Baum.

»Euer Gedächtnis war bei unserem letzten Gespräch sehr schlecht«, sagte Thomas, »und ich möchte ihm ein wenig auf die Sprünge helfen.«

Thomas bemerkte, dass Baum seine Fäuste ballte, ehe er sich an Gutenberg wandte. »Johannes, ich kann diesen Kerl nicht ausstehen. Er ist unverschämt. Ich garantiere für nichts.«

»Du wirst dich zusammennehmen und ihm antworten!«

»Warum machst du mit ihm gemeinsame Sache?«

»Man hat beobachtet, dass Ihr seit einigen Wochen häufig nachts unterwegs seid.«

»Hör ihn dir an«, sagte Hermann zu Gutenberg. »Glaubst du, der ist noch normal?«

»Manchmal kehrt Ihr früh am Morgen in Eure Kammer zurück, aber an anderen Tagen bleibt das Bett leer …«

»Wer erzählt solche Lügengeschichten? Oder ist das alles nur erfunden?«

Hermann ging einen Schritt auf Thomas zu, der unwillkürlich zurückwich. Gutenberg schob sich zwischen die beiden. »Was er sagt, stimmt: Es gibt Leute, die das behaupten.«

»Das ist alles gelogen!«

»Ich gebe normalerweise nichts auf Gerüchte«, sagte Gutenberg. »In diesem Fall decken sie sich aber mit meinen Beobachtungen, und das macht mich stutzig. Ich sehe doch, wie du morgens in die Werkstatt kommst! Du siehst völlig zerknittert aus, und abends kannst du kaum noch die Augen aufhalten. Fehlt nicht viel, dass du im Stehen einschläfst.«

»Das ist der Dank, dass ich mich für dich quäle und plage! Warum hast du nichts gesagt?«

»Weil ich dir nichts vorzuwerfen habe. Du arbeitest immer noch für zwei.«

»Na also, ich habe dich einfach zu sehr verwöhnt.«

Thomas sagte: »In der Nacht, als Klara Roth getötet wurde, habt Ihr Euch heimlich aus dem Haus geschlichen. Euer Bett blieb leer bis zum nächsten Abend.«

Hermann Baum schwieg, während Thomas und Gutenberg ihn misstrauisch beobachteten. Es war unverkennbar, dass sich gerade Unsicherheit in seine Wut mischte. Für einen Moment glaubte Thomas in seinen geweiteten Augen Angst zu sehen. Dann bekam Baum sich wieder unter Kontrolle. Thomas spürte, dass sie ihn unter Druck setzen mussten.

»Warum gibst du keine Antwort?« Gutenbergs Stimme klang strenger als vorhin, und vielleicht hatte er etwas Ähnliches gedacht wie Thomas.

»Niemand hat mich gesehen, weil ich im Bett lag«, sagte Baum, dessen Kopf rot angelaufen war.

Gutenberg legte seinem Drucker die Hand auf die Schulter. »Hör zu, Hermann, wir kennen uns schon so lange! Ich merke, dass irgendwas nicht stimmt. Du bist nicht gut darin, etwas zu verheimlichen. Lass uns offen reden. Du warst nachts unterwegs. Das muss nichts Schlimmes bedeuten, aber ich will von dir die Wahrheit wissen.«

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt.«

»Warum schaust du mir dann nicht in die Augen, wenn du mit mir sprichst?«

»Auch in der Nacht, als der Baumeister starb«, fuhr Thomas fort, »habt Ihr Euch davongeschlichen. Mit dem Unterschied, dass Ihr diesmal vor Morgengrauen zurückkamt.«

»Kindermärchen!«

»Die Märchen erzählst du!«, fuhr ihn Gutenberg an. »Rück endlich raus mit der Sprache!«

Baum war zusammengefahren und Thomas überrascht von Gutenbergs plötzlicher Aggressivität. Gutenberg schien vor Baum keinerlei Angst zu haben, umgekehrt aber zog der Riese seinen Kopf ein. Man sah Gutenberg an, dass er kurz vor einem gewaltigen Wutausbruch stand.

»Wo treibst du dich nachts herum?«

Baum senkte den Kopf, gab aber keine Antwort. Gutenberg packte ihn an seinem Wams und schüttelte ihn durch. »Gehst du ins Hurenhaus?«

Bei einem Kampf hätte Gutenberg gegen Baum keine Chance gehabt; trotzdem war es Baum, an dessen Händen Thomas ein Zittern bemerkte. Wie ein Hund, der seinen Herrn fürchtet und nicht erwägt, ihn in Stücke zu reißen, obwohl er das mit Leichtigkeit könnte, dachte Thomas. Der Riese nickte unmerklich.

»Na also«, sagte Gutenberg und ließ ihn los. »Das nehme ich dir nicht übel, das machen alle. Du sagst uns jetzt, bei wem du warst, und wir prüfen das nach. Und wenn deine Angaben stimmen – dann Schwamm drüber. Ich bin schließlich kein Unmensch.«

Baum hielt immer noch den Kopf gesenkt. Sein Mund stand halb offen.

»Also, heraus mit der Sprache!«, sagte Gutenberg in freundlichem Tonfall. »Wie heißt sie? Die Geschichte bleibt unter uns.«

Hermann Baum gab keine Antwort. Gutenberg nannte verschiedene Frauennamen, aber er schüttelte jedes Mal den Kopf. Gutenbergs Gesicht, das sich zwischenzeitlich aufgehellt hatte, verfinsterte sich wieder. Plötzlich schrie er; es kam völlig unvermittelt, und Thomas staunte, mit welcher Geschwindigkeit sein Wohlwollen in Wut umschlagen konnte. »Wer war’s dann?«

»Klara Roth«, sagte Baum kleinlaut und verängstigt. Er wirkte wie ein hilfloser Junge. »Ich schwöre dir, Johannes, ich bin unschuldig!«

Gutenberg fasste ihn an beiden Ohren. »Du hast ein Verhältnis mit einer Frau, die unser Geheimnis kennt, die ermordet wird, und du willst mir weiß machen, da besteht kein Zusammenhang? Unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich!«

Baum ging zu einem Stuhl und setzte sich, den Oberkörper nach vorn gebeugt; trotz seiner Größe wirkte er auf Thomas wie ein Häufchen Elend.

»Sie hat sich an dich rangemacht und dir den Kopf verdreht! Und du hast ihr unser Geheimnis verraten! War es so?«

Baum hielt den Kopf weiter gesenkt, seine Schultern zuckten. Gutenberg setzte sich auf den Stuhl gegenüber und versuchte, seinem Drucker ins Gesicht zu schauen, der aber daraufhin das Kinn bis auf die Brust schob.

»Erzähl jetzt alles von Anfang an!«

Baum schaute auf. »Ich hatte mich in sie verliebt.«

»Weiter!«

»An meinen freien Nachmittagen schlendere ich gern zum Hafen«, sagte Baum. »Ich schaue zu, wie man die Fracht löscht und die Schiffe mit neuen Waren belädt. Da begegneten wir uns.«

Gutenberg, der es auf seinem Stuhl nicht länger aushielt, schritt in dem weiten Raum auf und ab. »Rein zufällig natürlich!«, sagte er mit einem Gemisch aus Spott und Wut in der Stimme.

»Jedenfalls stand sie auf einmal neben mir. Wir kamen ins Gespräch. Selbst ich habe von Zeit zu Zeit was geredet. Es kam mir vor wie ein Wunder. Dann hat sie gesagt, sie müsse nach Hause, Holz hacken. Da bot ich ihr meine Hilfe an.«

»Sancta simplicitas! Was passierte dann?«

»Wir spazierten zu ihrem Haus. Sie hat mich gefragt, was ich beruflich mache. Das ist doch normal. Ich habe ihr gesagt, ich sei Drucker. Damit konnte sie nichts anfangen. Ich erklärte ihr, dass ich für dich arbeite und dass wir eine neue Methode erfunden haben, wie man Bücher herstellt. Davon weiß schließlich die ganze Stadt. Ich habe ihr damit kein Geheimnis verraten.«

»Aber sie wollte mehr wissen! Sie interessierte sich für Details!«

»Nicht sofort«, sagte Baum. »Wir sprachen über ganz allgemeine Dinge. Sie hat mir gesagt, dass sie schon als Kind lesen lernte und erzählte mir von den Büchern, die sie kennt: Siegfried, Roland, Alexander. Ihr Interesse war nicht gespielt. Klara war eine ehrliche Haut.«

»Natürlich!«

»Sie hat mir ihre Bücher gezeigt, die in einer Truhe lagen. Sie berichtete von ihren Schwierigkeiten, an ein Exemplar der Metamorphosen des Ovid zu kommen. Ich versicherte ihr, dass in einigen Jahren, dank unserer Erfindung …«

»Dank meiner Erfindung!«

»Dass man Hunderte, ja Tausende Exemplare eines Buches in kurzer Zeit drucken kann, dass die Preise fallen werden! Sie wollte mir das nicht glauben. ›Auf eine solche Erfindung wartet die Menschheit seit Jahrtausenden‹, sagte sie. ›Ja‹, erwiderte ich, ›genauso ist es. Und ich bin dabei.‹«

»Angeber! Weiberheld!«

»Sie war begeistert.«

Plötzlich fing er an zu weinen, und Gutenberg machte ein saures Gesicht, dämpfte aber seine Stimme. »Lass das jetzt!«

Hermann Baum beruhigte sich wieder. Tränen liefen über seine Wangen. »Es war die schönste Nacht meines Lebens!«, schluchzte er, was Gutenberg mit hämischem Lachen quittierte.

»Du verstehst das nicht«, rief der Drucker. »Du hast schon so viele Frauen gehabt. Aber die Liebe ist eine ernste Sache.«

»Woher willst du wissen, was ich ernst nehme?«

Baum richtete sich auf und starrte mit seinen feuchten Augen auf die gegenüberliegende Wand, an der ein Kreuz aus Metall hing; Gutenberg selbst hatte es angefertigt. »Sie hat mein Leben verändert. Sie war der erste Mensch, der sich für mich interessierte. Wir haben uns dann häufiger getroffen. Ich schlich mich nachts aus dem Haus, wenn alle schliefen, und ging zu ihr. Oft haben wir nur geredet. Das hatte gar nichts mit deiner Erfindung zu tun.«

»Aber dann hat sie immer mal wieder Fragen nach deinem Beruf gestellt …«

»Ihr war das wichtig, weil es mit mir zu tun hatte.«

»Weißt du eigentlich, dass sie alles, was du ihr gesagt hast, sofort aufgeschrieben hat?«

»Das glaube ich nicht. Allerdings bat sie mich manchmal, kleine Zeichnungen zu machen, damit sie das, was ich erzähle, besser verstand. Es war harmlos, ich habe mir nichts dabei gedacht.«

»Das war nie deine Stärke.«

»Einmal habe ich ein Gießgerät aus der Werkstatt geschmuggelt, um es ihr zu zeigen.«

»Jetzt bringe ich dich wirklich um!« Thomas fasste Gutenberg, dessen Gesicht sich dunkelrot färbte, am Arm, aber er beruhigte sich schnell wieder.

»Sie fand das wahnsinnig spannend«, fuhr Hermann Baum mit Unschuldsmiene fort. »Ich musste ihr alles ganz genau erklären. Sogar für die Mischung der Metalle interessierte sie sich. Aber sie hat das nicht an andere weitergegeben. Vielleicht hat uns jemand belauscht.«

»Wusstet Ihr, dass Klara noch andere Liebhaber hatte?«, fragte Thomas.

»Das ist eine Lüge. Wir wollten heiraten.«

Erneut lachte Gutenberg auf eine Art, die nicht besonders freundlich klang. »Und eine Familie gründen mit süßen kleinen Kindern. Hermann, ich fürchte langsam, dass du die Wahrheit sagst. Ich weiß allerdings nicht, ob ich dir so viel Dummheit verzeihen kann. Es wäre fast leichter für mich, du hättest alles absichtlich getan.«

»Ihr habt uns immer noch nicht gesagt, warum Ihr in den beiden Nächten, als die Morde geschahen, nicht in Eurer Kammer wart?«

»In der Nacht, als Klara ermordet wurde, war ich in meiner Kammer. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Schandmaul und lügt das Blaue vom Himmel herunter. In der Nacht, als Metz starb, war ich tatsächlich unterwegs. Ich war aufgewühlt und verzweifelt über Klaras Tod, ich lief ziellos durch die Gegend. Aber weder ist mir der Baumeister begegnet noch sonst jemand.«

»Kam es vor«, fragte Thomas, »dass jemand bei Klara Roth war, wenn Ihr sie besuchtet?«

»Nein.«

»Nie?«

»Nur einmal, als ich sie überraschen wollte, da war der Goldschmied bei ihr.«

»Welcher Goldschmied?«

»Wie heißt er noch gleich? Der Henning! Ich habe draußen gewartet, bis er verschwunden war. Er hat ihr eine Kette gebracht. So ein Halsband, das hatte sie ihm zur Reparatur gegeben.«