43.

 

Mein Gott!«, sagte Gutenberg. »Das schöne Missale.« Mit einem Tuch rieb er am Einband und befreite ihn vom Schmutz. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf Henning, der an die Druckerpresse gefesselt war. Sein Kopf lag auf seiner Brust.

»Ein herrlicher Band. Wertarbeit! Manchmal kommen mir Zweifel …«

»Woran?«, fragte Thomas.

»In ein paar Jahren gibt’s das nicht mehr. Wer macht sich die Mühe, einen Einband mit Metall zu schützen, wenn alle Welt Bücher besitzt?«

Liebevoll fuhr Gutenberg mit der Hand über die harten Kanten. »Sagt selbst: Sind sie nicht wundervoll?!«

Henning saß auf einem Stuhl. Thomas hatte seine Platzwunde am Kopf mit Stoffstreifen verbunden und ihm das Gesicht mit Wasser abgerieben; trotzdem klebte in den Haaren noch Schlamm, und ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm über die rechte Gesichtshälfte.

»Ich glaube, er kommt gerade zu sich«, sagte Thomas.

Gutenberg legte den Lappen zur Seite. »Dann gnade ihm Gott!«

Henning hob den Kopf und blinzelte verwirrt. Seine Stirn legte sich in Falten, während er sich umschaute. Als sein Blick auf Gutenberg haften blieb, weiteten sich seine Augen schlagartig.

Gutenberg ging zur Presse und blieb vor dem gefesselten Henning stehen. Er tätschelte ihm die Wange und lächelte freundlich. »Du wirst jetzt reden«, sagte er. »Entweder freiwillig – oder ich helfe dir ein wenig nach.«

Henning rührte sich nicht und sagte kein Wort. Nur sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab.

Gutenberg klappte mit Zeige- und Mittelfinger seine behaarte Ohrmuschel nach vorn. »Also nicht freiwillig«, sagte er nach einer Weile. »Wie du möchtest!«

Henning verzog das Gesicht wie ein Junge, der schmollt. »Ich lasse mich nicht erpressen.«

»Erpressen«, wiederholte Gutenberg. »Da bringst du mich auf eine Idee!«

Ehe Thomas eingreifen konnte, packte er Henning an den Haaren, klemmte seinen Kopf zwischen die Metallplatten der Presse und zog am Hebel. »Du sagst mir Bescheid, sobald du deine Meinung änderst.«

Henning sträubte sich, während Gutenberg langsam den Druck erhöhte. Hennings Gesicht nahm eine rötliche Färbung an. Thomas fasste Gutenberg am Arm. »Das reicht erst mal.«

»Wir werden dir jetzt ein paar Fragen stellen«, sagte Gutenberg. »Du solltest sie beantworten. Wenn ich merke, dass du lügst, wäre das nicht gut. Erste Frage: Für wen arbeitest du?«

Henning bewegte das Gesicht, als versuche er den Kopf zu schütteln. »Für niemanden.«

»Du lügst«, sagte Gutenberg. »Vor dem Tor standen Männer. Sie haben die Flucht ergriffen, als sie merkten, dass die Sache schief läuft. Ich würde mich bedanken, wenn ich solche Mitarbeiter hätte. Da du kein Geld hast, sie zu bezahlen, stelle ich die Frage ein letztes Mal: Wer ist dein Auftraggeber?«

Henning schwieg. Gutenberg zuckte mit den Schultern. Ruckartig bewegte er die Presse. Henning schrie und sein Gesicht färbte sich purpurn.

»Es ist jemand, den Ihr in Straßburg kennen lerntet«, sagte Thomas unvermittelt.

Henning keuchte mehr, als dass er sprach. Es hörte sich an, als bekomme er gleich keine Luft mehr. »Das ist richtig.«

»Ein Geistlicher, nicht wahr?«, fuhr Thomas fort. »Ein hoher Würdenträger.«

»Ja. Johannes, ich ersticke.«

»So schnell geht das nicht, mein Lieber«, sagte Gutenberg. »Ich möchte gern den Namen wissen.«

Adern traten an Hennings Schläfen hervor, und die Augen schienen ihm aus dem Kopf zu quellen. Er flüsterte etwas.

»Wir können dich nicht verstehen«, sagte Gutenberg.

»Bologna.«

»Du sollst uns nicht an der Nase herumführen. Das ist der Name einer Stadt.«

»Guido Bologna.« Hennings Stimme wurde immer schwächer. »Johannes, lass mich los! Ich erzähle alles.«

Gutenberg überlegte einen Moment. Dann fuhr er langsam die Metallplatten auseinander. Henning befreite seinen Kopf und rang nach Luft. Er bekam einen fürchterlichen Hustenanfall. Es dauerte eine Weile, bis er sich fing und wieder sprechen konnte. Dann erzählte er von Straßburg. Er berichtete, wie er Bologna kennen gelernt hatte.

»Ich erinnere mich an diesen Bologna«, sagte Gutenberg plötzlich. »Er war längere Zeit in Straßburg. Ich bin ihm bei einer Hochzeit begegnet. Er interessierte sich für meine Arbeit und wir führten ein Gespräch.«

»Bologna und ich blieben in Briefkontakt«, sagte Henning. »Immer wieder fragte er nach deiner Erfindung und dem Stand der Dinge. Als ich berichtete, dass du mit dem Druck der Bibel begonnen hast, machte er sich auf den Weg und kam nach Mainz.«

Henning erzählte, wie sie Helfer anwarben, sich in den unterirdischen Gängen einrichteten, die er früher zufällig entdeckt hatte und von denen niemand wusste – und wie er Klara Roth dazu gebracht hatte, ein Verhältnis mit Baum anzufangen. Alles sei nach Wunsch verlaufen.

»Warum musste Klara dann sterben? Wer hat sie getötet?«, fragte Gutenberg.

Henning schwieg nun wieder. Auch Gutenberg sagte nichts. Aber er deutete mit dem Zeigefinger auf die Presse.

»Klara wollte aussteigen«, sagte Thomas. »Sie hat den Kopf verloren. Sie hat sich verliebt.«

Überrascht hob Henning den Kopf. »Woher wisst Ihr das?«

»Stimmt es?«, fragte Gutenberg.

Henning nickte unmerklich. »Mein Leben ist ohnehin ruiniert«, sagte er. »Ja. Sie hat sich verliebt.«

»In wen?«

»In deinen Drucker. In Hermann.«

»Ich glaube dir kein Wort.« Gutenberg lachte. »Das ist der beste Witz, den ich seit langem höre. Du willst mir doch nicht weiß machen, dass die kleine Hure … ausgerechnet in Hermann … der schon rot anläuft … der von Frauen nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts …«

»Glaubst du vielleicht, ich hätte meinen Augen getraut!?«, schrie Henning.

Gutenberg packte ihn mit einer Hand am Wams und deutete mit der anderen auf die Presse. »Behalt deine Lügenmärchen für dich. Du sagst jetzt die Wahrheit, oder wir wiederholen das kleine Spiel von vorhin.«

»Sie und dein Drucker wollten heiraten! Sie wollte Kinder von ihm.«

»Weil er anders war als alle Männer, die sie kannte«, sagte Thomas. »Ein Mann, über den die andern lachten, aber dessen Liebe zu ihr aufrichtig war. Seine Unbeholfenheit rührte sie. Sie bereute, dass sie ihn ausgehorcht hatte.«

»Sie wollte aussteigen«, sagte Henning. »Sie wollte mir die Pläne nicht geben. Sie schäme sich, hat sie mir gesagt.«

»Und in einem Anfall von Wut schlugt Ihr zu«, sagte Thomas.

»Ich habe die Kontrolle verloren. Ich wollte sie nicht töten.«

Thomas betrachtete Hennings Hände. »Dann habt Ihr versucht, den Verdacht von Euch abzulenken.«

»Ich geriet in Panik«, sagte Henning. »Sie muss beim Sturz gegen die Bettkante geprallt sein und sich das Genick gebrochen haben.«

»Ihr habt den ganzen Raum nach den Plänen durchsucht und nichts gefunden«, sagte Thomas. »Dann fiel Euch ein, dass man seit Wochen von der Räuberbande redet, die Reisende und einsam gelegene Häuser überfällt. Daraufhin habt Ihr das ganze Zimmer verwüstet. Und das Messer diente dazu, von der wahren Todesursache abzulenken. Es war ein besonderes Messer. Es gehörte dem Baumeister. Er hatte es Klara geschenkt.«

»Ich wusste, dass Metz einer von Klaras Liebhabern war, aber ich wusste nicht, dass sie das Messer von ihm hatte.«

»Aber Metz ist Euch auf die Spur gekommen. Wie ist das geschehen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Henning.

»Hat er Euch beobachtet, als Ihr bei ihr wart? War er vielleicht kurz nach Euch am Tatort und hat den Streit mitbekommen?«

»Ich werde das nie erfahren.«

»Was geschah weiter?«

»Metz und ich, wir kannten uns kaum, und dann, am Tag nach Klaras Tod, kam er zu mir und fing ein Gespräch an. Das war sehr eigenartig, denn er stellte Fragen über mein Privatleben und machte komische Bemerkungen. Ich habe ziemlich schnell verstanden, wo der Hase lang läuft. Er wollte sehen, ob ich nervös werde. Und, mein Gott, ich wurde nervös! Ich fing an zu stottern, redete wirres Zeug; eins passte nicht zum andern.«

»Er durchschaute Euch.«

»Wir haben uns gegenseitig belauert. Es war wie ein Spiel. Er wusste, dass ich sie umgebracht hatte, und ich wusste, dass er es wusste. Er zögerte nur deshalb, mich zu verraten, weil er selbst Dreck am Stecken hatte; weil er ein Ehebrecher war und um seinen Ruf fürchtete. Er hat mich beobachtet, ist mir nachgeschlichen – und hat mich ein zweites und ein drittes Mal angesprochen. Er wurde immer direkter. Schließlich drohte er damit, dass Ihr – als Richter – Euch für mich interessieren könntet. Er nahm keine Rücksicht mehr auf die Nachteile, die ihm dadurch entstehen würden.«

»Deshalb musste er sterben.«

»Niemand wusste bis dahin, dass ich Klara häufig besucht hatte. Und ich bin ein schlechter Lügner. Wenn das mit Klara rauskommt, sagte ich mir, bin ich verloren. Ich kann keinem Verhör standhalten. Ich habe kein kaltes Blut. Und so stark ich körperlich bin, so schwach sind meine Nerven. Ich plante mein erstes, mein einziges wirkliches Verbrechen!«

»Seid Ihr ihm gefolgt, nachdem er bei mir war?«

»Ich lauschte am Fenster und verfolgte euer Gespräch; von mir war nicht die Rede. Ich war also noch mal davongekommen. Aber wie lange würde das gut gehen? Als Metz das Haus verließ und ziellos durch die Gegend lief, entschloss ich mich, ihn zu töten.«

»Und du hast zugesehen, wie man drei Unschuldige hinrichtet?!« Gutenberg sprach leise.

»Bis zum letzten Moment habe ich geschwankt, ob ich mich stellen soll. Aber es ist verrückt, wie sehr man am Leben hängt!«

Gutenberg schmiegte das Kinn in die linke Hand und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wir bringen dich zu Busch, sobald es hell wird. Dann nennst du die Namen eurer Helfer und zeigst ihm das Versteck. – Und denk an die kleine Kammer, auf die er so stolz ist.«

Gutenberg fragte Henning weiter aus, der die Details des Komplotts enthüllte. Sie hatten geplant, die Geräte aus der Werkstatt unterirdisch zu lagern. Wenn sich die erste Aufregung gelegt hätte, wollten sie alles über die Alpen nach Rom schaffen und dort eine Druckerei einrichten.

»Was wird aus meiner Familie?«, fragte Henning. »Wenn ihr mich zu Busch bringt, wird man mich hängen.«

»Das hättest du dir früher überlegen müssen.«

»Ist das dein letztes Wort?«

Gutenberg schwieg und verließ kurz darauf die Werkstatt. Thomas blieb allein mit Henning zurück, der den Kopf auf die Brust fallen ließ. Nach einer Weile kam Gutenberg zurück. Er sah müde aus.

»Ich bin froh, dass es nicht Hermann war«, sagte er. Seine Unterlippe hing ein wenig herab. »Einmal haben seine Kollegen ihn betrunken gemacht. Ich lief in dieser Nacht zum Hafen, weil ich nicht schlafen konnte. Hermann kam aus der Schenke, die vorm Stadttor liegt. Er lief auf die Kaimauer zu und fiel ins Wasser. Ich sah seine rudernden Bewegungen. Er kann nicht schwimmen. Ich sprang hinterher und brachte ihn an Land. Seitdem fühle ich mich für ihn verantwortlich. Ich bin für ihn der Vater, den er nie hatte …«

Gutenberg räusperte sich und schaute sich in der Werkstatt um. Er trat zu dem kleinen Schmelzofen, wo die Metalllettern gegossen wurden. Dort lagen einige Buchstaben herum. Er las sie auf, ging hinüber zum Setzkasten und sortierte die Lettern ein. Thomas kam das in der Situation sinnlos vor.

»Ich bin so froh, dass es nicht Hermann war«, wiederholte Gutenberg.

»Gilt Euer Angebot noch?«, fragte Thomas. »Ich möchte gern in der Werkstatt mitarbeiten – und die Kunst lernen, wie man Bücher macht!«

Gutenberg drehte sich um und legte seine Stirn in Falten. »Ihr könntet meinen Korrektor entlasten und den Setzern helfen.«

Thomas war angespannt; er konnte sich nicht wirklich freuen. Aber in ein paar Tagen, da war er sich sicher, würde ihn die Euphorie, die in jedem Neubeginn steckt, packen.

Es klopfte an der Tür, und Maria kam in die Werkstatt. Sie trug noch ihr Nachthemd, über das sie nachlässig einen Mantel geworfen hatte. Ihr Gesicht wirkte verschlafen, und das Haar stand wirr in alle Richtungen.

»Ich habe Lärm gehört«, sagte sie. »Ist alles in Ordnung?«

»Wir haben einen neuen Mitarbeiter«, sagte Gutenberg und deutete auf Thomas.

»Was ist mit dem?«, fragte Maria und blickte zu Henning.

»Das erzählen wir dir gleich in aller Ruhe.«

»Mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich muss was essen«, sagte Maria.

»Wir brauchen alle eine Stärkung. Lasst uns hinübergehen!«

Sie überprüften Hennings Fesseln und gingen zu dritt über den Hof zum Wohnhaus. In der Küche machte Thomas ein Feuer, und Maria stellte Käse und Brot auf den Tisch. Gutenberg, immer noch beunruhigt, machte einen Kontrollgang und brachte einen Krug Wein aus dem Keller mit.

Sie saßen zu dritt am Tisch, aßen und berichteten Maria, was geschehen war. »Der Henning«, sagte sie und wollte es nicht glauben.

Thomas beobachtete Gutenberg und Maria; er verstand nicht, warum Gutenberg die Beziehung zu ihr geheim hielt. Thomas gehörte jetzt zu Gutenbergs Familie, auch wenn er noch nicht ermessen konnte, was das bedeutete. Für ihn begann ein neuer Lebensabschnitt. Danach hatte er immer gesucht mehr unbewusst als bewusst. Eines Tages würde er selbst Bücher machen. Er dachte an das Gespräch mit Gutenberg über die deutsche Bibel …

Es klopfte an der Haustür und Thomas wurde aus seinen Träumereien herausgerissen. Gutenberg zuckte zusammen, stand auf und ging zum Fensterladen, wo er durch einen Spalt nach draußen schaute.

»Wer ist das?«, fragte Maria.

Gutenberg gab keine Antwort. Er ging zur Tür und entriegelte das Schloss. Dann stand plötzlich Katharina im Zimmer. Es kam Thomas unwirklich vor, wie eine Szene aus einem Traum. Er ging auf sie zu, und sie umarmten sich.

»Na, na«, sagte Gutenberg. »Doch nicht in aller Öffentlichkeit!«

Maria stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Du musst es ja nicht gleich unter die Presse schieben!«, fauchte sie.