29.

 

K

atharina lag wach und grübelte. Würde ihr Vater sie verstoßen, falls sie ein Kind bekam? Ihr Traum, auf eigenen Füßen zu stehen, wäre geplatzt. Und Thomas hatte seine Stelle verloren. Ihr Vater sprach abfällig von ihm. Sie malte sich eine Szene aus, wie sie ihrem Vater eine Schwangerschaft gestehen musste, und bekam Schweißausbrüche. Die Zeit bis zum Morgen zog sich quälend in die Länge.

War Thomas mittlerweile bei Gutenberg? Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Niemand konnte wissen, dass sie die Pläne hatte, auch wenn man sie überwacht hatte und ihr gefolgt war. Sie wusste immer noch nicht, wie sie die Vorgänge im Kaufhaus deuten sollte. Vielleicht war nur ein Lagerarbeiter im obersten Stock gewesen, und sie hatten sich umsonst geängstigt. Thomas allerdings war überfallen worden. Bestand auch für sie selbst Gefahr?

Katharina stand auf, zog sich an und ging ins Erdgeschoss, um in der Küche zu frühstücken. Mit dem heutigen Tag begann die Faschingszeit, noch nicht der große Trubel, der stand erst morgen an; heute würden noch viele Leute zur Arbeit gehen. Aber überall liefen die Vorbereitungen. Früher hatte sie mitgefeiert und Spaß am Ausnahmezustand gehabt. Aber sie wollte nicht nach draußen. Sie hatte Angst.

Sie verbrachte den Tag im Haus und half ihrer Mutter bei verschiedenen Arbeiten. Es fiel ihr schwer. Draußen hörte sie Trommeln, Blasinstrumente und Lieder. Sie spürte die Unruhe in der Stadt; ihre Geschwister verkleideten sich und zogen maskiert los. Ihre Schwester nannte sie einen Spielverderber und langweilig, ehe sie das Haus verließ. Das ärgerte Katharina. Schließlich blieben sie und ihre Mutter allein zurück. Der Vater war im Kaufhaus.

Katharina ging auf ihr Zimmer und hielt das Fenster geschlossen. Sie hatte das Gefühl, ihr falle die Decke auf den Kopf. Der Aufruhr in den Straßen, das rhythmische Lärmen der Trommeln, die Spannung, die in der Luft lag, übertrugen sich auf sie. Sie ging ruhelos auf und ab. Am liebsten wäre sie ein paar Schritte gelaufen, in den Faschingstrubel eingetaucht, um Atmosphäre zu schnuppern. War das wirklich gefährlich? Wenn sie noch lange im Haus blieb, würde sie verrückt werden! Sie kam sich wie eingesperrt vor. Trotzdem blieb sie bei ihrem Vorsatz.

Das Schlimme war, dass sie mit keinem darüber reden konnte. Am wenigsten mit ihrem Vater. Er durfte nicht erfahren, dass sie sich mit Thomas getroffen hatte.

Plötzlich kam ihre Mutter die Stufen hinaufgepoltert.

»Katharina!«, rief sie außer Atem.

Katharina öffnete die Tür und schaute aus dem Zimmer.

»Besuch für deinen Vater! Behringer ist da!« Das war ein Kaufmann aus Lübeck, der beste Freund ihres Vaters. Alle paar Monate tauchte er aus heiterem Himmel auf. »Lauf doch schnell ins Kaufhaus und sag ihm Bescheid!«

Katharina zögerte. Mit welcher Begründung sollte sie das ablehnen? Die kurze Entfernung zum Kaufhaus – da konnte nicht viel passieren …

Außerdem waren unzählige Menschen unterwegs. Sie würde in der Nähe von Leuten bleiben, die sie kannte. Katharina zog ihren Mantel und ihre Schuhe an und verließ das Haus.

Eine Gruppe von Musikern zog quer über den Marktplatz, gefolgt von Tänzern. Dunkelgraues Licht lag über der Stadt, Schneewolken. Katharina beschloss, in der Nähe des Doms zu bleiben und ein wenig durch die benachbarten Gassen zu laufen. Es waren so viele Menschen auf den Beinen, dass es ihr ungefährlich vorkam. Ihre anfängliche Angst wich. Die Straßen zum Markt waren voller Masken. Katharina war als Einzige nicht verkleidet; dadurch fiel sie auf, und das war ihr unangenehm.

»Hallo, Katharina!« Es dauerte, bis sie einen Gleichaltrigen erkannte. Er löste sich aus einer Gruppe von Tänzern, fasste sie bei den Armen und drehte sich mit ihr zum Rhythmus der Musik, die vom Markt kam. Er hatte ihr vor einiger Zeit den Hof gemacht. Sein Atem roch nach Wein, und mit einer geschickten Bewegung entzog sie sich und verschwand in einer Menschentraube. Sie fühlte sich besser, als sie ihn los war, und auch das Alleinsein fiel ihr unter Menschen leichter als im Zimmer.

Die Stadt war außer Rand und Band, es gab keine Standesunterschiede mehr. Es kam ihr vor, als habe man von einem stark erhitzten Topf den Deckel genommen, damit er nicht mit lautem Knall durch die Luft flog. Was sich im Lauf von Wochen und Monaten angestaut hatte, entlud sich in Tanz, Gesang und grotesken Szenen. Eine Frau hatte ihre Röcke in die Luft geworfen und zeigte, begleitet von rhythmischen Bewegungen, was sich darunter verbarg. Ein Teufel riss sich daraufhin die Maske vom Gesicht und küsste ihren Hintern.

Alles strömte zum Marktplatz. Die Nacht kam schnell um diese Jahreszeit. Die Schneewolken verdichteten sich. Katharina blieb hier und da stehen und schaute sich um. Eine unterirdische Welt hatte ihre Bewohner freigelassen, und sie war die Einzige, die nicht dazugehörte. Sie wusste nicht mehr, was stimmte. Welche Welt war die wirkliche? Zeigten die Menschen heute ihr wahres Gesicht, das sie sonst hinter einer Maske versteckten?

Der Marktplatz war voller Menschen, so viele versammelten sich nicht einmal zu Prozessionen. Die Trommeln wurden lauter, die Rhythmen überlagerten und verwirrten sich, setzten aber nie aus, so dass sich Katharina schließlich in eine Art Trance versetzt fühlte.

Niemand stand still, man tanzte, man sprang, man war ausgelassen. Der Lärm schwoll an, bis er ohrenbetäubend wurde. Jemand kam von hinten und zog Katharina eine Maske übers Gesicht. Sie erschrak und drehte sich um. Ein Mann umklammerte ihre Hüften. Sie ließ sich herumwirbeln. Der Tänzer trug Hörner und eine schwarze Maske. An den Häuserwänden, die den Markt umgaben, hatte man Fackeln in Eisenringen befestigt, Schatten huschten vorüber, verlängerte und verzerrte Abbilder der Körper, die in der Nähe der Flammen tanzten. Die Anspannung der letzten Tage hatte Katharina zugesetzt. Während sie ein paar Schritte tanzte, löste sich die Anspannung. Ging es den andern nicht ähnlich? Ihre Tanzpartner wechselten. Als einer nach Katharinas Brust fasste, stieß sie ihn weg. Überall Fahnen, und ein Betrunkener rannte wie irr durch die Menge und brüllte Unverständliches.

Ein groß gewachsener Mann, als Wilder verkleidet, fasste Katharina bei den Hüften, tanzte ein paar Schritte mit ihr und warf sie in die Luft, als gehöre das zum Tanz. Plötzlich landete sie auf seiner rechten Schulter. Sie strampelte mit den Beinen, und die Umstehenden lachten. Der Wilde Mann drehte sich im Kreis, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Niemand kam ihr zu Hilfe, es gab höchstens ein paar begeisterte Zurufe. Katharina wurde von panischer Angst gepackt. Sie schlug um sich und wollte sich befreien, aber es war zwecklos. In ihrer Verzweiflung biss sie dem Wilden ins Ohr. Er schrie auf und ließ sie fallen. Sie rannte los, bis sie ihn aus den Augen verloren hatte.

Katharina stand unter Schock. Einen Moment lang hatte sie gedacht: Der verstellt sich gar nicht, der ist wirklich so. Und ihr wurde klar, dass heute alles erlaubt war, dass ihr nicht nur niemand zu Hilfe kam, sondern die Sympathien galten dem Ungeheuer; man spornte es noch an, ordentlich zuzupacken und weiterzumachen. Sie beschimpfte sich selbst wegen ihres Leichtsinns.

Katharina beschloss, auf schnellstem Weg zum Kaufhaus zu gehen. Sie hatte den Marktplatz fast überquert. In diesem Augenblick wurde sie an den Armen und Beinen gepackt. Man hob sie hoch. Diesmal waren es zwei. Sie erkannte den Wilden wieder, der sie an den Armen festhielt, während ein kleinerer, stämmiger Mann in der Maske eines Dämons ihre Beine umklammerte. Die wenigen, die der Szene Beachtung schenkten, lachten. Einer fasste nach Katharinas Rock, um ihn hochzuziehen.

Sie wehrte sich, so gut sie konnte, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Der Wilde Mann warf sie über die Schulter, hielt aber diesmal ihre Hände fest, und der Dämon sorgte dafür, dass sie mit den Beinen nicht um sich treten konnte. Ihr Kopf hing auf einem zottigen Fell, das widerlich roch. Wenn sie den Kopf nach links drehte, sah sie ein schwarzes Gestrüpp aus Bart und Haaren, aus dem das Weiß der Augen hervorleuchtete. Die beiden trugen sie aus der Menge heraus in eine Seitengasse.