2.

 

J

etzt stellen wir dich dem Kommandanten der Stadtwache vor«, sagte Steininger. »Das ist ein wichtiger Mann, aber kein einfacher Charakter. Du arbeitest häufig mit ihm zusammen.«

Es regnete immer noch in Strömen, als Thomas und Steininger den Bischofssitz verließen. Die roten Sandsteinquader, aus denen er errichtet war, schienen die Feuchtigkeit aufzusaugen wie ein Schwamm. Sie befanden sich im Zentrum von Mainz, nur einen Steinwurf vom Dom entfernt. Das fürstliche Palais und das Gerichtsgebäude, Thomas’ neuer Arbeitsplatz, grenzten an die Kathedrale und lagen vor einem offenen Platz, der im Volksmund das »Höfchen« hieß. Der Wind vom Fluss blies ihnen eisige Kälte ins Gesicht. Thomas schaute zum Himmel, wo sich hinter unzähligen grauen und schwarzen Wolken ein geheimnisvolles Leuchten verbarg. Sie zogen ihre Kapuzen über den Kopf. Bei jedem Schritt sanken Thomas’ Stiefel in den aufgeweichten Boden, und mehrmals glitt er aus.

Sie überquerten den Marktplatz direkt vor dem Dom, wo Handel getrieben wurde. Die Bauern aus der Umgebung und die Mainzer Händler schützten ihre Stände mit Brettern und Planen und rückten dicht zusammen. Das sah von fern aus, als habe der Martinsdom über die Menschen einen Flügel ausgebreitet. Verglichen mit den umliegenden Gebäuden wirkte die Kathedrale gewaltig, als wolle sie in den Himmel ragen. Ihren Turm zum Höfchen hin umgab ein Gerüst; dem Wetter zum Trotz arbeiteten dort zwei Bauleute an einem Wasserspeier. Etwas abseits vom Markt standen Karren, Pferde und Ochsen.

»Das dort drüben«, sagte Steininger und deutete nach links auf die gegenüberliegende Seite, »ist die Münze.« Thomas sah durch die hohen Fenster Männer, die mit Hämmern auf Prägestöcke schlugen. Vielleicht stellten sie gerade Gulden her.

Der Marktplatz verengte sich. In Richtung zum Rhein hin schloss eine weitere Kirche direkt an den Dom an. »Sankt Maria ad gradus«, erläuterte Steininger, »auch Liebfrauenkirche genannt. Und gegenüber: Das ist die Herberge zum Spiegel.« Dort betraten ein Mann und eine Frau gerade die Gaststube, aus der Stimmengewirr schlug. Die Leute saßen an schweren Holztischen beim Essen und tranken Bier.

Sie näherten sich der Stadtmauer, beim Hafen gelegen. Der Wehrturm, auf den sie zusteuerten, hieß laut Steininger die »Fischpforte«. Thomas erinnerte sich an seinen ersten Eindruck von Mainz, den er vom Fluss aus bekommen hatte: die unzähligen Türme. Sie unterbrachen in kurzen Abständen die Stadtmauer; und der Stadtkern wirkte vom Rhein aus wie eine einzige Ansammlung von Kirchen und Klöstern mit Türmen jeder Größe. Sie bogen nach links ab und folgten einer Gasse parallel zur Befestigung.

»Das Heilig-Geist-Spital«, sagte Steininger, auf einen Steinbau mit imposantem Giebel weisend. »Darauf sind wir besonders stolz. Hier werden die Kranken und Siechen gepflegt. Wir überlassen sie nicht ihrem Schicksal, wie das in anderen Städten geschieht.«

Im Schutz der Mauer war der Wind erträglicher und auch der Regen prasselte nicht so ungeschützt auf sie ein. Bald darauf erreichten sie ihr Ziel, den »Eisenturm«, in dem die Wache untergebracht war. Über einem weit geschwungenen Torbogen zählte Thomas fünf Geschosse. Man hatte die Außenwände weiß gestrichen, nur die Umrandungen der Fenster und die Ecken der Wände rot. Steininger öffnete die Tür zur Wache. Der mit einer gewölbten Decke versehene Innenraum war ebenfalls weiß getüncht. An einer Wand sah Thomas einen überlebensgroßen Ritter in voller Rüstung mit Helmbusch, Schwert und Schild abgebildet, neben ihm das Mainzer Wappen.

Sie hatten den Raum kaum betreten, als sich Thomas und seinem Begleiter ein überraschender Anblick bot: Ein Mann in Uniform ging drohend auf einen kleineren Mann zu, den Kopf angriffslustig nach vorne geschoben wie ein Kampfhahn.

»Ihr habt sie laufen lassen. Ich sehe es deinem Gesicht an!«, schrie der Uniformierte. Sein Kopf war so rot wie der des Fürsten vorhin im Audienzsaal.

Der kleine Mann, der offenbar zur Wachmannschaft gehörte, wurde blass und wich zurück. »Wir hatten keine Chance«, stotterte er. »Sie waren längst weg. Jemand muss sie gewarnt haben.«

»Erzähl mir keine Märchen. Wer soll sie gewarnt haben? Wie viele Gelegenheiten wollt ihr euch noch entgehen lassen?«

Der Wachmann schrumpfte weiter zusammen. »Das Feuer war noch nicht kalt. Eine Stunde früher, und wir hätten sie erwischt. Es war Pech!«

»Pech?!« Der Kommandant blickte seinem Untergebenen aus kürzester Entfernung in die Augen. »Dummheit war das!« Nachdem er die letzten Sätze leiser gesprochen hatte, fing er wieder an zu schreien. »Das sind höchstens fünf Leute, die seit Wochen die Gegend terrorisieren, und ich habe euch zu zehnt losgeschickt. Ihr seid unfähig! Selbst mit meinem kaputten Bein wäre ich schneller gewesen!«

Steininger klopfte an die bereits geöffnete Tür, und der Kommandant blickte zur Seite. Er ließ von seinem Wachmann ab, dem die Unterbrechung sehr gelegen kam.

»Steininger«, sagte er. »Ich habe es nur mit Idioten zu tun. Sie haben die Bande laufen lassen. Ich möchte ihnen allen den Hals umdrehen.«

»Der Bischof tobt wegen der Geschichte«, sagte Steininger, »weil sie seine Autorität untergräbt. – Aber ich möchte Euch einen Mann vorstellen, mit dem Ihr in Zukunft viel zu tun haben werdet.« Steininger zeigte auf Thomas. »Das ist unser neuer Richter: Thomas Berger.«

Der Kommandant blickte Thomas mit seinen großen, hellblauen Augen an und sagte eine Weile nichts. Schließlich streckte er zögerlich die Hand aus. »Ich heiße Busch. Busch wie Baum.«

Thomas liebte solche Sprüche. Sie gaben sich die Hand.

»Ist das Eure erste Richterstelle?«, fragte Busch.

»Ich habe längere Zeit in Köln am Gericht gearbeitet …«

»Als oberster Richter?«

Thomas kopierte Buschs Lächeln. »Als sein engster Mitarbeiter.«

Er machte sich keine Illusionen. Es war die gleiche Reaktion wie vorhin beim Kurfürsten. Man traute ihm nichts zu. Es war ungerecht, er spürte Wut in sich aufsteigen. Aber er musste schlau sein, behutsam vorgehen und mit Menschen wie Busch auskommen.

»Busch!«, sagte Steininger und hielt dem Kommandanten seinen Zeigefinger vors Gesicht. »Ich möchte, dass Ihr und Berger gut zusammenarbeitet. Er hat in Bologna studiert. Helft ihm, wo Ihr könnt. Gerade in den ersten Wochen wird Eure Erfahrung für ihn wertvoll sein.«

Thomas hatte sich also nicht getäuscht, und Steininger hatte Buschs Reaktion ganz ähnlich gedeutet wie er selbst.

»In Bologna? Das ist natürlich was Besonderes. Und von Adel, nicht wahr?«

Es schien Thomas, als könne er Buschs Gedanken lesen. Er stand einem viel zu jungen Mann gegenüber, der studiert hatte einer von diesen Burschen, die alles besser wussten.

»Mein Vater ist Kaufmann«, sagte Thomas.

»Wisst Ihr«, sagte Busch, »bei uns in Mainz geht es rau zu, aber herzlich. Ich möchte dem Studenten der Rechte aus Bologna etwas zeigen …«

»Er ist kein Student, sondern unser Richter!«, sagte Steininger.

»Ich weiß. Trotzdem möchte ich, dass er einen Blick ins Nebenzimmer wirft.«

Der Kommandant öffnete eine Tür, sie betraten den angrenzenden Raum, und er machte eine ausladende Handbewegung. »Unsere gute Stube!«

Der Raum war groß, lag größtenteils im Dunkeln und enthielt seltsame Instrumente, die Thomas nicht gleich zuordnen konnte. Busch stieß die Tür weit auf. »Hereinspaziert!«, rief er. »Nur nicht so schüchtern! Hier soll sich jeder wohl fühlen.«

Er ging in die Mitte des Raums, und die beiden Besucher folgten ihm. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Busch blieb bei einem Holzblock stehen, in dessen schwarzem Holz am seitlichen Rand eine Axt steckte. »Unsere alten Rechtsbräuche sind nicht die schlechtesten«, sagte Busch. »Ich möchte, dass der junge Mann sieht, wie wir ausgestattet sind. Wenn man ein Haus betritt, das man noch nicht kennt, schaut man sich nach den Möbeln um und will den Geschmack des Hausherrn erforschen. Der Student der Rechte möge einen Blick auf diesen einfachen, wirkungsvollen Richtblock werfen, über den so mancher Kopf rollte.« Er fuhr mit der Hand liebevoll über eine Vertiefung im Richtblock. »Die ist für das Kinn«, erklärte er und nickte Thomas zu.

»Nett!«, sagte Thomas. Er sah eine Streckbank, und an den Wänden hingen Fesseln, Peitschen, Zangen und andere Foltergeräte.

»Wie gefällt Euch das?«, fragte Busch. »Zugegeben, manche Sachen werden nicht mehr benutzt, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Man könnte sie ja noch mal brauchen. Zum Beispiel das Rad dort drüben an der Wand ist alt und verrostet, hat uns früher aber gute Dienste getan. Unsere Säge dagegen ist noch gut in Schuss und auch dieser Rahmen aus bestem Eichenholz: Kopfüber werden die Übeltäter hier eingespannt, damit sie nicht so viel Blut verlieren, wenn wir sie vom Schritt aus durchsägen. Nichts für zarte Gemüter, aber abschreckend

»Hübsch!«, sagte Thomas.

»Mit diesem hochwertigen Gerät werden Frauen die Brüste zerrissen; das kann man mit kaltem oder glühendem Metall machen. Direkt daneben, das ist eine Schädelquetsche, sie arbeitet im Prinzip ganz ähnlich wie eine Kelter. Der Kopf wird in den Metallrahmen gespannt und mit einem glockenförmigen Gebilde immer größerem Druck ausgesetzt.«

»Nicht übel«, sagte Thomas spottend. »Aber die Kölner sind besser ausgestattet.«

»Köln, Köln«, brummte Busch. »Wir sind hier in Mainz.« Sein Gesicht verfinsterte sich. Er wurde einsilbig.

Schließlich verabschiedeten sich Thomas und Steininger und traten wieder ins Freie, wo der Regen nachließ. Sie überquerten erneut den Marktplatz, diesmal in entgegengesetzter Richtung. Einige Bauern aus der Umgebung bauten ihre Stände ab. Es roch nach fauligem Gemüse.

Steiningers Stimme klang besorgt. »Thomas, du bist unvorsichtig. Du solltest Busch nicht verärgern. Er ist einflussreich. Du bist auf ihn angewiesen.«

»Ich war doch freundlich zu ihm.«

»Er und der alte Richter verstanden sich blendend. Die beiden vertraten die gleiche Philosophie.«

»Ich hätte in Busch keinen Denker vermutet«, erwiderte Thomas.