23.

 

E

inige Stunden später hatte Thomas seine persönlichen Sachen zusammengesucht. Auch die Pläne waren darunter, die er in einem Leinenbeutel unterbrachte. Er zog aus, ohne eingezogen zu sein. Die Erlebnisse der letzten Tage hatten etwas Irreales an sich. Einen Moment fragte er sich, ob jemand vielleicht die Morde inszeniert hatte, um ihn so schnell wie möglich loszuwerden.

Es war Nachmittag. Er verließ das Gebäude und trat auf die Straße. Etwas hielt ihn zurück, die Stadt sofort zu verlassen. Er dachte an die Hinrichtung. Er hatte sie nach Steiningers Besuch vom Fenster aus verfolgt …

Schaulustige drängten sich dicht an dicht. Mühsam machte die Stadtwache einen Weg für drei Ochsenkarren frei, die unter den Galgen anhielten. Dabei kam Bewegung in die Menge. Als drei gefesselte Männer, umgeben von Bewaffneten, zum Richtplatz geführt wurden, begannen die Schmährufe. Es dauerte lange, bis sich die Wachmänner durchgearbeitet hatten und jeder der Verurteilten neben einem der Karren stand. Erst dann trat der Henker auf. Die Schaulustigen wichen vor ihm zurück und drängten sich an die Gefesselten heran, beschimpften und bespuckten sie. Thomas kamen die Kreuzigungsszenen in den Sinn, wie sie auf Altarbildern zu sehen waren.

Schließlich stieg der Kommandant der Stadtwache auf ein kleines Podest, so dass er über die Köpfe hinausragte. Er hob beide Arme, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Busch trug eine andere Uniform als sonst, er wirkte festlich gekleidet. Als er endlich zu Wort kam, zählte er das Sündenregister der drei Landstreicher auf, das nicht nur die beiden Morde umfasste.

Busch beschrieb ausführlich, wie man die drei gefangen genommen hatte. Diese Aktion schien von höchster Dramatik gewesen zu sein und konnte nur aufgrund der Verdienste einer Person (Busch selbst) so vorzüglich gelingen. Danach pries er die Verdienste des Bischofs, dessen unerbittliche Haltung Sicherheit und Recht für die Bürger garantierten. Thomas beobachtete die drei Männer, die neben den Karren standen. Man hatte ihnen die Arme auf den Rücken gebunden. Zwei hielten die Köpfe gesenkt. Nur einer blickte um sich und schien nicht bereit, sich in sein Schicksal zu fügen.

Als Busch fertig war, hielt sich die Begeisterung in Grenzen, zustimmendes Gemurmel, ein paar Rufe. Die Leute waren nicht gekommen, um Reden zu hören. Drei Landstreicher, dachte Thomas. Das war nicht ungeschickt, denn die drei hatten keine Angehörigen, niemand würde sie verteidigen und niemand vermissen.

Als sie auf den Karren stiegen, wurde es laut. Man warf Steine und schlug mit Stöcken nach ihnen. Die Wachleute mussten eingreifen.

Thomas hielt nach Katharina Ausschau, konnte sie aber nirgendwo sehen. Der Henker ließ sich Zeit, damit das Volk auf seine Kosten kam. Er war schwarz gekleidet und hatte das Gesicht eines Mannes, der gern und reichlich isst. Er stieg auf den ersten Wagen und legte einem der drei eine Schlinge um den Hals und band ihm ein Tuch vor die Augen. Der Henker stieg vom Wagen. Er ging nach vorn und nahm einen Stock. Seine Bewegungen wirkten routiniert, würdevoll, als zelebriere er ein Hochamt. Er schlug dem Ochsen mit dem Stock in die Seite.

Unwillig setzte sich das Tier in Bewegung. Der Wagen machte einen Ruck, die Räder rollten an, entzogen dem Gefesselten den Boden, auf dem er stand, er fiel, zappelte mit den Beinen, schrie auf, dann fasste das Seil sein Genick, und er baumelte in der Luft. Der Galgen wackelte kurze Zeit beängstigend, aber er hielt.

Es gab beim Hängen, wie Thomas wusste, zwei Todesarten. Jenen, die Glück hatten, brach gleich das Genick, und sie hatten einen schnellen, vergleichsweise schmerzlosen Tod. In manchen Fällen aber brach das Genick nicht, und dann war der Tod lang und qualvoll. Das Opfer erstickte. Der erste Landstreicher rührte sich nicht mehr. Sein Körper schwang noch ein wenig hin und her, aber das kam von der Fallbewegung.

Von dem Karren ganz links ging der Henker zum rechten Karren und wiederholte die Prozedur. Das Volk war stiller geworden. Bald baumelte ein zweiter Körper in der Luft. Auch diesmal verlief alles problemlos.

Jetzt ging der Henker zum Galgen in der Mitte. Dort stand jener, der von den dreien der größte war. Er hatte lange Haare, die wild in alle Richtungen standen. Er wollte sich nicht die Schlinge über den Kopf ziehen lassen. Er schrie den Henker an und wollte vom Karren springen. Gleich waren zwei Wachleute bei ihm und hielten ihn fest, während der Henker den Strick in die gewünschte Position brachte. Es gelang ihnen nicht, dem Mann ein Tuch um die Augen zu binden. Dann stiegen der Henker und die Wachen vom Wagen.

»Ich bin unschuldig!«, schrie der Mann.

Der Henker versetzte dem Ochsen einen kräftigen Schlag. »Ich verfluche den Bischof. Ich verfluche alle seine Helfer!«, schrie der Landstreicher.

Er verlor den Boden unter den Füßen und fiel. Aber der Ruck mit dem Seil war nicht kräftig genug. Der Mann zappelte in der Luft und sein Kopf lief rot an, seine Gesichtsmuskeln arbeiteten. Kein Laut war mehr zu hören, nicht mal ein Räuspern. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er sich nicht mehr bewegte …

 

Als Thomas seine Wohnung erreichte und die Tür aufschließen wollte, hörte er von drinnen Gerlindes Stimme. Er hatte das Mädchen ganz vergessen. Sie legte Holz aufs Feuer, als er ins Zimmer trat. Gerlinde richtete sich auf und lächelte ihm zu.

»Ich bin entlassen«, sagte Thomas und warf den Beutel auf den Tisch.

Sie schaute ihn verständnislos an.

»Ich bin nicht mehr Richter«, sagte er. »Genau genommen war ich es nie. Der Kurfürst hat mich aufgefordert, die Stadt zu verlassen.«

»Und ich?«, fragte sie leise.

»Das tut mir sehr Leid.«

»Ich hab immer Pech.« Sie hielt die linke Hand an den Rücken, als habe sie dort Schmerzen, mit der anderen fuhr sie sich über die Stirn; ein dunkelgrauer Aschenfleck blieb dort zurück.

»Du erhältst deinen Lohn«, sagte Thomas, »und eine Entschädigung. – Ich hätte dich gern behalten.«

»Also stehe ich wieder ohne Arbeit da.«

»Ich bin sicher, dass du etwas Neues findest.« Wahrscheinlich musste ihr das wie eine Floskel erscheinen, so wie es ihm vorhin bei Steiningers Worten gegangen war. Er schnürte den Beutel auf und verteilte seinen Inhalt auf dem Tisch. Auch die Pläne waren darunter. Aus den Augenwinkeln verfolgte Gerlinde jede seiner Bewegungen.

Sie ging einige Schritte auf ihn zu, bis sie unmittelbar vor ihm stand. Sie blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen. »Das sagt sich so leicht. Und wenn ich noch ein paar Tage bleibe? Ihr reist sicher nicht gleich ab?«

»Ich muss allein sein. Du bekommst dein Geld und noch etwas dazu.«

Er legte den Mantel ab, zog seinen Geldbeutel hervor und gab ihr einige Münzen. Er war nicht kleinlich. Dann bat er sie, ihn allein zu lassen. Sie fragte, ob sie nicht wenigstens am nächsten Tag noch mal kommen solle, aber er lehnte es ab. Gerlinde zog ihren Mantel an. Thomas begleitete sie zum Eingang, aber sie zögerte. Sie schien den Abschied aufschieben zu wollen, blickte verstohlen zum Tisch und ging schließlich doch. Als sie die Wohnung verlassen hatte, verriegelte er die Tür.

Ihm fiel kurz darauf ein, dass er vergessen hatte, sie nach dem Schlüssel zu fragen. Auch sie hatte – wahrscheinlich wegen der Aufregung – nicht daran gedacht. Es spielte keine Rolle, sie würde ihn sicher morgen vorbeibringen. Ihn beschäftigte Wichtigeres.

War seine Laufbahn ruiniert? Er ärgerte sich über die Ungerechtigkeit, als deren Opfer er sich fühlte. Auch war der Fall für ihn nicht abgeschlossen. Er konnte nicht einfach nach Köln zurückkehren. Wie sollte er seinen Eltern gegenübertreten und allen, die ihn kannten? Er versuchte, sich das vorzustellen, und die Bilder, die er vor sich sah, quälten ihn. Man würde ihm die Schuld geben. Er konnte sich die Gedankengänge seines Vaters gut ausmalen. Vielleicht würde er versuchen, ihn ins Geschäft einzubinden. Aber wenn Thomas es genauer bedachte, lehnte er sogar den Gedanken ab, in eine andere Stadt zu reisen. Er würde bleiben! Das war eine Frage der Selbstachtung. Er wollte den Fall, den man ihm aus der Hand genommen hatte, auf eigene Faust erfolgreich abschließen.

Man hatte drei Unschuldige hingerichtet. Es bestand für ihn kein Zweifel, dass die drei Männer mit den Morden nichts zu tun hatten. Sie waren Sündenböcke, die man dem Volk geopfert hatte, um es zu beruhigen. Die Obrigkeit betrieb Augenwischerei, um ihre Autorität zu wahren.

Aber was war das für eine Obrigkeit, die zu solchen Mitteln griff? Was war das überhaupt für ein maroder Staat? Ein morsches Gebälk, das in allen Ecken knarrte, das baufällig war und vom Einsturz bedroht! Weiter erkannte er, dass es nicht nur um seine Demütigung ging und den Wunsch, sich zu rehabilitieren, sondern es stand viel mehr auf dem Spiel. War Gutenbergs Erfindung nicht ähnlich wichtig wie die Erfindung des Rads, der Schifffahrt, des Pfluges? – Vorausgesetzt, er würde Erfolg haben …

Thomas erkannte: Es ging um alles, woran er glaubte!

 

Eine neue Situation war entstanden. Bologna, der in seiner Kammer auf und ab ging, wog die Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Der Richter war nicht mehr im Amt! Und dann berichtete ihm vor wenigen Minuten das Mädchen, dass Thomas die Pläne aus dem Amt mit in seine Wohnung gebracht habe. Was sollte er tun, falls der entlassene Richter abreiste und sie mitnahm? Jetzt bedeutete weiteres Zögern Gefahr. Er hatte davor zurückgeschreckt, einen Mann zu überfallen, der ein hohes öffentliches Amt bekleidete. Aber die Karten waren neu gemischt!

Es war für ihn unendlich wichtig, hinter Gutenbergs Geheimnis zu kommen. Wenn er aufsteigen wollte, lag hier der Schlüssel. Denn er war mehr Politiker als Geistlicher; zumindest sah er sich selbst so. Was machte das Wesen eines Politikers aus? In seinen Augen zwei Dinge: Gestaltungswille und das Streben nach Macht!

Und wenn er sich die uralte Hierarchie, der er angehörte, als eine Leiter vorstellte, dann strebte er nach der obersten Sprosse!

Es gab Zeiten, da hatte die römische Kurie ganz Europa regiert. Ein deutscher Kaiser war im Büßerhemd vor Papst Gregor VII. erschienen, in Canossa. Da begann der Aufstieg des Papsttums zur Weltmacht. Das Schisma, das Exil in Avignon, schließlich das Konstanzer Konzil hatten Rom geschadet, und doch: War der Papst nicht immer noch der mächtigste Mann im Abendland? Bologna glaubte daran, dass die päpstliche Macht zu altem Glanz zurückfinden konnte.

Bologna schwebte eine Restauration vor, angepasst an die Bedingungen der Gegenwart. Anstatt die neuen Entwicklungen zu bremsen – wie sie es bisher getan hatte –, musste die Kirche sich an ihre Spitze stellen, musste die Nase im Wind haben und den Gegenkräften immer einen Schritt voraus sein.

Gleich würde er mit seinen Männern reden und ihnen die nötigen Instruktionen erteilen. In Gedanken ging Guido Bologna noch einmal jeden Punkt durch. Nach menschlichem Ermessen hatte der Richter nicht den Hauch einer Chance …