19.

 

E

s war schon dunkel, als Thomas sich auf den Weg zu seiner Wohnung machte. Gerlinde hatte nachmittags am Gericht den Schlüssel geholt und versprochen, ihm ein warmes Essen zu kochen, worauf er sich freute. Seine Ermittlungen kamen schrittweise voran, aber der Tag war schnell verflogen, und er fürchtete, dass die verbleibende Zeit nicht ausreichte. Mehrmals stand er kurz davor, aufzugeben, aber er spürte, wie sehr ihm der Fall am Herzen lag. Er würde das tsel lösen, davon war er überzeugt, wenn er Klara Roths dritten Liebhaber fand.

Bestand zwischen dem Mord an Klara und dem Mord am Baumeister ein Zusammenhang? Jagte er einen Täter oder mehrere? Solange er keine weiteren Informationen besaß, ließen sich die vielen Fragen, die ihm durch den Kopf schossen, nicht beantworten. Er musste für alles offen sein.

Thomas watete langsam durch den Schlamm. Falls Gutenberg Klara Roths Liebhaber war und ihr zu viel verraten hatte, dann könnte er die Tat begangen haben, um seine Erfindung zu schützen. Wie aber sollte damit der zweite Mord in Verbindung stehen? Thomas wollte Katharinas Besuch am nächsten Morgen abwarten, ehe er Gutenberg verhörte.

Klara hatte geplant, die Pläne zu verkaufen. Ich gehe einmal davon aus, dass ein Auftraggeber existiert, dachte Thomas. Könnte er Klara ermordet haben, um sie nicht bezahlen zu müssen oder um sie zum Schweigen zu bringen? Aber das hätte er erst dann getan, wenn er im Besitz der Pläne war.

Auch Gutenbergs Mitarbeiter kamen als Täter in Frage; sie kannten das Geheimnis seiner Kunst. Thomas begann der Kopf zu schwirren, je länger er über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte.

Er erreichte seine Wohnung und fand die Tür offen. Im Kamin brannte ein Feuer, es war angenehm warm. Die Tür zur Küche stand ebenfalls offen, und von dort duftete es nach Fleisch und Gemüse.

Gerlinde schaute ums Eck. Sie lächelte, und er spürte, wie ihre Anwesenheit seine Laune aufhellte. »Ich war auf dem Markt«, sagte sie, »und habe erst mal eingekauft. Ihr hattet ja überhaupt nichts im Haus.«

»Keine Zeit«, erwiderte er. »Das riecht gut.«

»Ich bin gleich fertig. Wo möchtet Ihr essen?«

»Wir essen in der Küche.«

»Zusammen?«

»Ja.«

Er zog seine Schuhe aus und ging die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als er wieder nach unten kam, hatte sie in der Küche den Tisch gedeckt. Sie füllte zwei irdene Teller, und sie setzten sich.

»Wie gefällt dir die Arbeit?«, fragte Thomas.

»Die Wohnung ist nicht groß«, sagte sie. »Morgen werde ich die Zimmer putzen.«

Hoffentlich würde er seine Stellung behalten, dann konnte sie bei ihm bleiben. Das Essen schmeckte ihm gut. Er sagte es ihr, und sie freute sich darüber.

»Wie lange bist du schon in Mainz?«

»Seit vier oder fünf Jahren.«

»Kennst du einen Mann namens Gutenberg?«, fragte er.

»Nur flüchtig.«

»Sag mir bitte, was du über ihn weißt.«

»Er gehört zu den besseren Leuten. Manche behaupten, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist.«

»Aber warum?«

»Bamberger – der Arzt, bei dem ich gearbeitet habe – hielt ihn für größenwahnsinnig. Gutenberg hat eine Maschine erfunden. Fragt mich nicht, um was es geht. Hat irgendwas mit Büchern zu tun. Bamberger sagte, das kann nie im Leben funktionieren; Bücher werden seit Jahrtausenden von Hand geschrieben. Und er verstand was von der Sache, er besaß nämlich selbst Bücher. Oft stand er am Pult und las. Seine Frau sagte immer: ›Du machst dir die Augen kaputt. Hör auf damit.‹ Sie haben sich gestritten deswegen.«

Nach dem Essen räumte Gerlinde in der Küche auf, und Thomas saß am Tisch und machte Notizen.

Sie kam aus der Küche. »Ich gehe dann jetzt. Soll ich den Schlüssel behalten?«

»Behalte ihn! – Ich möchte dich noch etwas fragen. Ich muss herausfinden, mit wem Klara Roth Kontakt hatte. In einer Stadt, wo jeder jeden kennt, wird viel geredet. Hältst du es für denkbar, dass Gutenberg ein Verhältnis mit ihr hatte? Oder ist dir sonst etwas bekannt, was die beiden verbindet?«

»Glaubt Ihr, Gutenberg hat sie umgebracht?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Er schwieg und schaute sie fragend an.

»Ich weiß nur, dass Gutenberg nicht verheiratet ist. Und die Leute reden so allerlei über ihn.«

»Was reden sie denn?«

»Nichts Gutes.«

»Haben sie ihm ein Verhältnis mit Klara nachgesagt?«

»Davon weiß ich nichts. Aber es heißt, er habe allerlei Weibergeschichten.«

»Bis morgen dann!«

»Gute Nacht!«

 

Sie verließ die Wohnung und lief zu einem Haus, das im westlichen Teil der Stadt lag. Guido Bologna hatte ihr den Weg dorthin beschrieben. Es schneite jetzt wieder sehr heftig, und sie begegnete wenigen Menschen. Ein Mann rollte ein leeres Fass durch den Schlamm zu einem Kellerloch. Ein Kind verfolgte eine Katze. Das Haus lag abseits und wirkte baufällig, die Läden waren verschlossen. Es erinnerte sie an das Haus, in dem sie Bologna zum ersten Mal getroffen hatte, aber dieses hier war nicht ganz so heruntergekommen; das Dach war noch intakt, und es gab Türen und Fenster.

Sie klopfte an die Tür, und ein bärtiger Mann öffnete ihr. Sie sah zwei Männer, die sie nicht kannte, an einem Tisch sitzen und Bier trinken. Sie spielten Karten. »Guido ist oben«, sagte der Bärtige.

Sie stieg eine steile Holztreppe hinauf ins obere Stockwerk. Bologna musste sie von weitem gehört haben. »Komm rein! Ich bin hier.« Sie erkannte seine Stimme, sie kam aus einem Raum, dessen Tür halb offen stand. Sie steckte zögerlich den Kopf hinein und sah Bologna bei Kerzenlicht an einem Tisch sitzen und schreiben. Er legte die Feder beiseite und machte ihr ein Zeichen, näher zu kommen. »Schließ die Tür!«

Sie blieb neben der Tür stehen und verschränkte die Hände. Das Zimmer war bis auf den Tisch und eine Truhe unmöbliert, und an den Wänden klebte Schimmel. Aber es gab einen Ofen, und die Luft roch nach Rauch und Moder.

»Wie war der erste Tag?«, fragte Bologna. »Hast du was rausbekommen?«

»Er hat mich ausgefragt«, sagte sie.

»Worüber denn?«

»Über Gutenberg.«

Er hob interessiert den Kopf. »Willst du ewig bei der Tür stehen bleiben?« Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Was wollte er wissen?«

»Er hat mich gefragt, ob ich Gutenberg persönlich kenne.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Dass ich nicht viel über ihn weiß. Das ist die Wahrheit: Man sieht ihn nicht häufig in der Stadt und hat immer den Eindruck, er sei mit den Gedanken ganz woanders. Dann wollte er wissen, ob Gutenberg ein Verhältnis mit Klara Roth hatte. Aber da konnte ich ihm nicht weiterhelfen.«

»Was hat er noch gefragt?«

»Nichts.«

»Hattest du Zeit, seine Wohnung zu durchsuchen?«

»Er besitzt viele Bücher.«

Er stellte ihr Fragen, aber ihre Antworten halfen ihm nicht weiter, und schließlich holte er aus einem Beutel zwei Münzen heraus und gab sie ihr. »Für den Anfang.«

Seine Gedanken schweiften ab. Der Richter war ihm auf den Fersen. Es stand außer Frage, dass er mittlerweile eine Gefahr darstellte. Er versuchte einzuschätzen, wie groß sie war. Sollte er ihn töten lassen? Es war noch zu früh für einen so radikalen Schritt. Aber er musste den Richter noch schärfer im Auge behalten. Er wusste von seinen Informanten, dass der Richter beim Kurfürsten schlecht angesehen war. Gab es eine Möglichkeit, sich das zunutze zu machen? Es wäre am besten, er würde seine Stellung verlieren, bevor er weiteren Schaden anrichtete.

Das Mädchen nickte kurz zum Abschied und verließ das Zimmer. Er hatte das Gefühl, im Leben viel versäumt zu haben – vielleicht das Wichtigste. Er war wieder allein und eine eigenartige Traurigkeit packte ihn. Der Preis für das, was er erreicht hatte, war hoch. Es schien ihm besser, nicht darüber nachzudenken; und deshalb schrieb er weiter an dem Brief, der am nächsten Tag nach Rom abgehen würde. Bald glitt die Gänsekielfeder, die er von Zeit zu Zeit in Tinte tauchte, flüssig über das Papier.

Er wurde erneut unterbrochen, als es an der Tür klopfte und Henning den Raum betrat. Er griff sich einen Stuhl und setzte sich Bologna gegenüber an den Tisch.

»Was hat sie erzählt?«, fragte er.

»Der Richter hat etwas herausbekommen«, erwiderte Bologna und schrieb den begonnenen Satz zu Ende. »Ich weiß nur nicht, wie viel.«

»Drück dich bitte etwas klarer aus!«

»Er hat ihr Fragen nach Gutenberg gestellt.«

Henning saß auf der Stuhlkante und beugte sich nach vorn. »Das habe ich die ganze Zeit befürchtet. Wer hat ihn auf diese Spur gebracht?«

»Er hat heute früh die Stadt zu Pferd verlassen«, sagte Bologna. »Wir wissen nicht, wo er war. Am frühen Nachmittag kam er zurück. Dann war er mit Katharina Roth zusammen. Und heute Abend fragt er das Mädchen über Gutenberg aus.«

»Hat er unsere Namen erwähnt?«

»Nein. Ich glaube, soweit ist er noch nicht.«

»Er wird zur Gefahr«, sagte Henning. »Wir müssen etwas unternehmen.«

»Ich fürchte, dass nicht nur der Richter uns gefährlich werden kann, sondern auch Katharina Roth. Die beiden stecken unter einer Decke. Ich gehe davon aus, dass sie ein Verhältnis miteinander haben.«

»Treffen sie sich heimlich?«

»Sie war spät abends bei ihm«, sagte Bologna.

»Was sollen wir tun?«

»Wir haben leider schon zuviel Wirbel verursacht. Und er ist Richter! Sein Tod würde riesiges Aufsehen verursachen. Wenn ich daran denke, dass wir eigentlich in aller Stille arbeiten wollten!«

»Die Geschichte wächst uns über den Kopf!«, sagte Henning. »Wir haben da etwas in Gang gebracht, das uns überrollt. Wir brauchen uns nichts vorzumachen, Guido: Es ist eine ganze Menge schief gelaufen, vor allem die Sache mit Klara …«

»Natürlich hat der Mord unsere Pläne über den Haufen geworfen. Wir haben eine veränderte Situation, und der müssen wir uns anpassen. Ich hatte gehofft, dass uns der Richter, ohne es zu wollen, Informationen liefert. Ich dachte, möglicherweise bringt er uns auf die Spur des Täters. Stattdessen müssen wir befürchten, dass er etwas entdeckt hat, das ihn zu uns führt. – Er stellt Fragen nach Gutenberg! Es gibt weder zwischen Klara Roth und Gutenberg noch zwischen Metz und Gutenberg eine direkte Verbindung. Diese Menschen hatten nichts miteinander zu tun. Ich weiß dafür nur eine Erklärung: Er muss in den Besitz der Pläne gelangt sein!«

»Glaubst du das wirklich?«

»Ich halte es für wahrscheinlich!«

Henning stand auf und ging im Zimmer hin und her. »Und nun?«

»Wir müssen an die Pläne kommen, notfalls mit Gewalt. Aber sie muss der letzte Ausweg sein.«

»Wie willst du vorgehen?«

»Wir müssen zwei Ziele gleichzeitig verfolgen. Zum einen müssen wir herausfinden, ob der Richter die Pläne wirklich hat; wenn das der Fall ist, werden wir handeln. Dabei zähle ich auf das Mädchen. Sie hat den Schlüssel zu seinem Haus. Er kann die Pläne allerdings auch im Amt aufbewahren. In dem Fall müssen wir sein Zimmer dort durchsuchen.«

»Und wenn Katharina Roth sie hat?«, warf Henning ein. »Den Gedanken finde ich nicht abwegig. Sie ist immerhin die Schwester. Sie hat das Haus von Klara durchsucht, und vielleicht hat sie sie gefunden, während sie uns entgangen sind.«

»Auch damit sollten wir rechnen. Wenn einer von beiden die Pläne hat, werden wir sie bekommen. Gleichzeitig müssen wir den Richter loswerden. Sobald man uns und Gutenberg in einen Zusammenhang bringt, haben wir schlechte Karten.«

»Willst du ihn töten?«, fragte Henning. Der Goldschmied rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Davon halte ich nicht viel.«

»Du hängst in der Sache genauso drin wie ich«, sagte Bologna. »Ohne dich hätte ich nie von der Erfindung erfahren. Du hast doch förmlich darum gebettelt, dass ich komme.«

»Weißt du, wie das ist, wenn du deine Frau und deine Kinder nicht mehr ernähren kannst?«

»Spiel nicht das Unschuldslamm. Wir werden gemeinsam Erfolg haben oder gemeinsam scheitern. Aber wenn ich merke, dass du kalte Füße bekommst, lernst du mich von einer anderen Seite kennen.«

Der Goldschmied machte eine beschwichtigende Geste. »Reg dich nicht auf! Aber überleg doch mal, was es bedeutet, wenn der Richter und Katharina Roth die Hintergründe aufdecken!«

»Darüber denke ich die ganze Zeit nach. Wir müssen kühlen Kopf bewahren. Übrigens steht der Richter mächtig unter Druck! Der Bischof hat ihm eine Frist von drei Tagen gesetzt. Wenn er bis dahin im Dunkeln tappt, verliert er seine Stelle.«

»In drei Tagen kann eine Menge geschehen.«

»Es sind nur noch zwei. Dann sind wir den Richter los. Wir versuchen, die Sache ohne Blutvergießen zu regeln. Sollte sich rausstellen, dass das nicht geht – erst dann werden wir handeln.«

»Der gute Mann ist nicht zu beneiden«, meinte Henning. »Im einen Fall verliert er seine Stelle – im andern Fall das Leben!«