7.

 

T

homas saß in seinem Arbeitszimmer und schäumte vor Wut; zum einen kam er überhaupt nicht dazu, sich in sein Aufgabengebiet einzuarbeiten, zum andern lag ein unerfreuliches Gespräch mit Steininger hinter ihm, der ihm gründlich den Kopf gewaschen hatte. Die Ermittlungen im Mordfall kämen nicht voran, Thomas habe keine Ergebnisse vorzuweisen, und er habe Busch verärgert. Außerdem sei Karl Roth bei Steininger gewesen und habe sich über Thomas beschwert. Er habe damit gedroht, zum Kurfürsten zu gehen.

Thomas beharrte auf seinem Standpunkt. Er brauche Zeit, denn er wollte seine Sache besser machen als damals in Köln.

Er betrachtete missmutig einige Schriftstücke auf dem Tisch, als es an der Tür klopfte und Katharina hereinkam. »Vielleicht habe ich herausbekommen, wem das Messer gehört«, sagte sie, kaum dass sie den Raum betrat.

»Erzähl!«

Am Vorabend, auf dem Weg zurück in die Stadt, hatte sie darüber gesprochen, was der Tod ihrer Schwester für sie bedeutete, und als sie weinen musste, drückte sie ihren Kopf kurz gegen seine Schulter. Seitdem duzten sie sich.

»Zunächst habe ich meine Verwandten gefragt und einige Bekannte«, sagte Katharina, während sie sich setzte. »Dann bin ich zum Markt und habe mich dort umgehört. Eine Marktfrau will das Messer früher einmal gesehen haben.«

»Bei welcher Gelegenheit?«

»Im Haus von Friedrich Metz, dem Dombaumeister. Die Marktfrau war früher mit seiner Frau befreundet. Irgendwann gab es Streit. Es kam mir vor, als mache es ihr Freude, der Familie eins auszuwischen.«

»Dann ist fraglich, ob sie die Wahrheit sagt!« Thomas stand auf und ging hin und her. »Trotzdem würde die Sache Sinn machen, denn ich habe mittlerweile herausbekommen, wer auf dem Elfenbeinrelief abgebildet ist: die heilige Barbara, die Schutzheilige der Bauleute. Was sie in der Hand hält, ist ein Turm, ihr Attribut. – Was weißt du über diesen Metz?«

Sie breitete die Arme aus. »So gut wie nichts. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Ein schweigsamer, verschlossener Mann. Er hat im Stadtrat und beim Kurfürsten einen guten Ruf, und es heißt, dass er in seinem Beruf zu den Besten zählt.«

»Wo wohnt er?«

»Nicht weit von seinem Arbeitsplatz.«

»Kannst du mir das genau beschreiben? Ich will der Sache gleich nachgehen.«

Katharina stand auf. »Wenn du willst, bringe ich dich hin. Ich muss zur Schule, und das ist nur ein kleiner Umweg.«

Thomas zog seinen pelzbesetzten Wintermantel über. Auf dem Gang begegnete ihnen Fuchs. Er berichtete, dass er mit dem Hirten gesprochen habe, aber das habe nichts ergeben. Ein städtischer Richter ging grußlos an ihnen vorbei. Als Fuchs Thomas am Vortag den städtischen Richtern vorgestellt hatte, hatten diese sich keine Mühe gegeben, ihre Abneigung zu verbergen. Außerdem hatten sie ansehnliche, teilweise beheizte Arbeitsräume. Das Gerichtsgebäude bestand aus zwei Stockwerken und eine breite Steintreppe führte ins Erdgeschoss. Während die Vorderfront mit dem Haupteingang zum Höfchen hin lag, schaute der rückwärtige Teil auf den Ostturm des Doms und auf St. Johann, die älteste Kirche der Stadt. Sie verließen das Gericht über einen unscheinbaren Hintereingang.

Schräg fallender Regen trieb durch die Gasse. Da sie direkt beim Dom lag, war sie gepflastert. Die Stadt kam Thomas vollkommen fremd vor. Auch in seiner neuen Wohnung, die er gerade bezogen hatte, fühlte er sich wie ein vorübergehender Gast. Sie gingen an der Johanneskirche vorbei, deutlich kleiner als die gegenüberliegende Kathedrale, und überquerten den Leichhof. Dann folgten sie einer engen Gasse, die nicht gepflastert und entsprechend matschig war. Ein Mann ging von Haus zu Haus und sammelte Lumpen. Zwei Mägde mit Körben verschwanden in einer noch schmaleren Seitengasse.

Katharina deutete auf ein größtenteils aus Stein gemauertes Haus. In einer Rinne davor lagen Küchenabfälle, an denen eine Katze schnupperte. Rundum Fachwerkgebäude; in einem war eine Seilerwerkstätte untergebracht, in einem anderen ein Schusterladen.

»Das Haus des Baumeisters«, sagte Katharina, bevor sie sich verabschiedete.

Thomas stand eine Weile unschlüssig im Regen. Wahrscheinlich war Metz nicht zu Hause. Er klopfte an die Tür und wartete, ohne dass etwas geschah. Die Tür war nicht verriegelt, und er betrat einen geräumigen Hausflur.

Auf sein Rufen hin erschien ein etwa zehnjähriges, rothaariges Kind. Er fragte es nach seiner Mutter. Kurze Zeit später tauchte eine Frau auf, die ihre Hände an einer Schürze abwischte, die sie um breite Hüften trug.

»Wer seid Ihr?«

Thomas stellte sich vor und fragte, ob sie die Frau des Baumeisters sei? Sie nickte kurz.

Ob der Baumeister zu Hause sei?

»Zu Hause?!« Als sie sah, wie er stutzte, fügte sie hinzu: »Um diese Zeit arbeitet er.«

»Ich muss mit ihm sprechen«, sagte Thomas.

»Was wollt Ihr von ihm? Unsere Familie ist noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen!«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte er, »aber vielleicht könnt Ihr mir weiterhelfen …«

»Das kann ich mir nicht vorstellen!«

Thomas beschloss, gleich zur Sache zu kommen. »Besaß Euer Mann ein Messer, auf dem die heilige Barbara abgebildet ist?«

»Weiß ich nicht.«

»Es ist ein sehr wertvolles Messer. Mit einem Griff aus Elfenbein. Nie gesehen?«

»Der hat so viel Werkzeuge und Kram. Ich wühle nicht in den Sachen meines Mannes.«

Thomas wechselte das Thema. »Kanntet Ihr Klara Roth?«

Kaum hatte er die Frage formuliert, bemerkte er in ihrem Gesicht eine Veränderung. »Die hat man doch umgebracht, nicht?«, fragte sie leise.

»Man hat sie erstochen!«

»Und weshalb kommt Ihr damit zu uns? Ihr glaubt doch nicht, dass mein Mann … Fragt Ihr deshalb nach dem Messer?« Ihre Augen wanderten unruhig hin und her.

»Euer Mann und Klara Roth – kannten sie sich gut?«

Unwillkürlich vollführte sie eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf. »Was soll das heißen?«

Thomas spürte, dass ihre abweisende Art nur ein Schutzschild war, hinter dem sie etwas verbarg. »Verbringt Euer Mann die Abende im Kreis der Familie?«

»Eure Fragen werden unverschämt!«

»Wenn es Euch lieber ist, lasse ich Euch vor Gericht laden und stelle Euch meine Fragen dort.«

Sie sprach nun wieder leise. »Er arbeitet lange, und wenn er nach Hause kommt, ist er müde; geht bald zu Bett. Falls Ihr ihm unterstellen wollt, er habe was mit dieser Frau gehabt, seid Ihr auf dem Holzweg.«

Er glaubte, dass sie seine Vermutung nicht für abwegig hielt. Wahrscheinlich würde Metz nichts zu lachen haben, wenn er heute nach Hause kam.

»Wo ist Euer Mann zurzeit?«

»Beim Dom, nehme ich an, in einer der Bauhütten. Im Winter finden kaum Außenarbeiten statt. Redet mit ihm. Er hat nichts zu verbergen.«

»Das werde ich tun«, sagte Thomas. »Eine letzte Frage: Wo war Euer Mann vorgestern Abend?« Sie standen immer noch im Eingangsbereich des Hauses. Thomas schaute sich um. Hier wohnte eine wohlhabende Familie: Die Tür zur guten Stube stand offen. Sie war mit Holz vertäfelt. Er sah einen Kamin, ein Spinnrad, einen großen Tisch, auf dem ein Kartenspiel ausgebreitet lag, und ein kleines Kind saß auf dem Boden und spielte mit einem Reif. Aus der Küche, deren Tür angelehnt war, drang der Geruch von Gemüse und gekochtem Fleisch.

»Er war zu Hause«, erwiderte sie knapp.

»Wann ist er nach Hause gekommen?«

»Es war schon dunkel.«

»Etwas genauer wisst Ihr das nicht?«

»Nein.«

»Was hat er gemacht, als er nach Hause kam?«

»Wir haben zusammen gegessen.«

»Er hat das Haus nicht mehr verlassen?«

»Nein. Er war müde und wir sind früh zu Bett. – Und jetzt würde ich mich gern um meine Arbeit kümmern! Ihr habt keine Vorstellung davon, wie viel Dreck sich in einem Haus ansammelt.«

Thomas verabschiedete sich und trat vor die Tür, die hinter ihm ziemlich heftig ins Schloss fiel. Der Besuch war aufschlussreich gewesen. Er hatte sie überrascht, und die Fragen waren für sie unvorbereitet gekommen. Er hatte ihr Gesicht genau beobachtet, und er glaubte, dass sie das Messer kannte. Die Frage nach Klara Roth hatte sie verunsichert, und sie hatte nur mit Mühe die Fassung gewahrt.

 

Schräg gegenüber vom Haus des Baumeisters befand sich der Schusterladen mit einem metallenen Schild an der Hauswand, das einen Stiefel darstellte. Einer Eingebung folgend, überquerte Thomas die schmale Gasse, öffnete die Tür und betrat die winzige Werkstatt. Durch eine mit Eisblumen übersäte Glasscheibe fiel spärliches Licht. Eine kleine, offene Feuerstelle heizte den Raum notdürftig. Beim Fenster befand sich ein Arbeitstisch, an dem auf einem Schemel ein Mann mit weißen Haaren saß, einen Schusterhammer in der Hand; als Thomas den Laden betrat, schaute er kurz auf und fuhr dann fort, ein Stück Leder auf eine Holzleiste zu heften.

»Ich brauche Stiefel«, sagte Thomas.

»Setzt Euch!« Sie besprachen Details, ehe Thomas sein eigentliches Anliegen vorbrachte: »Ihr habt von dem Mord gehört?«

»Die Leute reden von nichts anderem.« Der alte Mann kniete vor Thomas und übertrug mit einem Kohlestück die Umrisse des Fußes auf einen verschlissenen Pergamentstreifen. »Ihr seid der neue Richter, nicht wahr?«

»Sicher habt Ihr gehört, dass Klara Roth erstochen wurde und zwar mit einem ganz besonderen Messer, das einen Griff aus Elfenbein hat und auf dem die heilige Barbara abgebildet ist.«

»Was Ihr nicht sagt!«

»Ich muss herausfinden, wer der Besitzer war.«

»Darüber weiß ich gar nichts. Hat Metz was mit der Sache zu tun?«

»Ich wollte mit ihm reden.«

»Dann müsst Ihr zum Dom. Dort arbeitet er.«

»Kennt Ihr Metz schon lange?«

»Seit er nach Mainz kam. Früher hat er in Speyer und in Worms gearbeitet, ebenfalls am Dom.«

»Er hat eine bemerkenswerte Frau.«

Der Schuster zwinkerte ihm zu. »Ihr Vater war Offizier.«

»Streiten die beiden häufig?«

»Oh nein, Friedrich gibt immer klein bei.«

»Wie gut kennt Ihr Metz?«

Der alte Mann stand mühsam auf. »Wir sind Nachbarn.«

»Und Ihr wohnt hier im Haus?«

»Es gehört mir. – Ihr könnt Euch das Leder selbst aussuchen.« Er zeigte Thomas verschiedene Stücke, die er prüfend in die Hand nahm. Ein Werkzeugkasten an der Wand enthielt Hämmer, Zangen, Ahlen, Messer und andere Gerätschaften, und über den Raum verstreut lagen Leisten, Lederstücke, Sohlen. Ein Schild neben der Tür zeigte das Wappen der Schuhmacherzunft.

»Wisst Ihr, ob er eine Geliebte hatte?«, fragte Thomas.

»Das geht mich doch nichts an.«

»Ich ermittele in einem Mordfall.«

»Aber was hat denn Friedrich mit der Geschichte zu tun?«

»Verbrachte er seine Abende zu Hause bei der Familie?«

»Das weiß ich nicht.« Der Alte ließ seinen Blick Hilfe suchend durch die Werkstatt schweifen.

»Wenn Ihr hier im Haus wohnt, wie Ihr mir gerade erzählt habt, dann können Euch die Gewohnheiten Eurer Nachbarn nicht entgehen. Ihr wisst von jedem, wann er kommt und geht!«

»Ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten!«

»Wenn Ihr mir etwas verheimlicht, werde ich Euch eine Menge Ärger machen. Dann bekommt Ihr eine Vorladung.« Der Schuster schaute ihn ängstlich an, und Thomas kam sich schäbig vor; aber er rannte überall gegen eine Mauer und verlor die Geduld.

»Ich glaube, dass er oft erst spät nach Hause kommt.« Er flüsterte fast.

»Was heißt: Ihr glaubt?«

»In meinem Alter schläft man nicht mehr so gut. Ich liege oft wach, und dann höre ich Geräusche; Schritte, das Knarren einer Tür …«

»Weiter!«, sagte Thomas.

»Manchmal höre ich jemanden spät durch die Gasse kommen. Dann wird in der Nähe eine Tür auf- und wieder zugemacht.«

»Ihr glaubt, dass es der Baumeister ist?«

»Einmal bin ich aufgestanden und habe einen Blick nach draußen geworfen.«

»Da kam er die Straße lang?«

»Der Friedrich, ja!«

»War es sehr spät?«

»Schon gegen Morgen.«

».Was glaubt Ihr, woher er kam?«

»Das weiß ich nun beim besten Willen nicht.«

»Aber vielleicht habt Ihr eine Vermutung?«

»Er war nüchtern, hat nicht geschwankt.«

»War er bei einer Frau?«

»Und wenn schon! Er ist doch nur ein Mensch …«

»Hatte er ein Verhältnis mit Klara Roth?«

»Woher soll ich das wissen!« Die Art, wie der Alte sprach, machte Thomas stutzig. Er war in Köln oft bei Verhören dabei gewesen und hatte ein Gespür dafür entwickelt, wann jemand die Wahrheit sagte und wann er etwas verschwieg. Thomas war überzeugt, dass der Schuster mehr wusste, als er preisgab.

»Ihr sagt mir jetzt, was Ihr wisst, oder ich lade Euch ans Gericht!«

Der Schuster hielt abwehrend die knochigen, wie mit Leder überzogenen Hände vor sich. »Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun? Er hat irgendeine Weibergeschichte, das ist schon richtig. Er hat ein paar Andeutungen gemacht, so unter Männern; weil er weiß, dass ich früher kein Engel war. Nichts Konkretes. Wahrscheinlich hat er eine Geliebte. Ob das die Klara war oder nicht: keine Ahnung!«

»Was für Andeutungen hat er gemacht?«

»Wir machten ein paar belanglose Scherze, das ist alles. Ich solle froh sein, dass ich nicht in seiner Haut stecke, hat er gesagt, oft genug gehe er mit wackligen Knien zur Arbeit und wisse nicht, wie er den Tag überstehen soll! ›Nimmt deine Alte dich so zur Brust?‹, habe ich gefragt. Da hat er gelacht und gesagt: ›Die Frau, von der ich rede, hat den Teufel im Leib.‹ Da könnt Ihr Euch nun selber einen Reim drauf machen, denn das ist wirklich alles, was ich weiß. Und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mich endlich in Ruhe lasst.«

»Ihr wisst noch mehr«, sagte Thomas. »Ich weiß doch, wie das läuft! Eure Neugierde war geweckt, Ihr habt ihn scharf beobachtet, auf jedes Detail geachtet. Was ist Euch aufgefallen? Verschweigt nichts! Ich kann sehr unangenehm werden!« Es war ein Versuch. Thomas war sich seiner Sache nicht sicher.

»In meinem Beruf schaut man den Leuten immer auf die Füße«, erwiderte der Alte nach einer Weile widerstrebend.

»Was habt Ihr also bemerkt?«

»Dass Friedrichs Schuhe oft verdreckt sind. Selbst wenn hier in der Stadt die Gassen und Plätze trocken waren, klebte oft Schlamm an seinen Schuhen, als sei er vor den Toren gewesen; in einer Ecke, wo sich die Feuchtigkeit länger gehalten hat.«

»Zum Beispiel im Wald?«

»Ich sage Euch nur, was ich beobachtet habe.«

»Was habt Ihr noch beobachtet?«

»Das ist nun wirklich alles.«

Thomas hatte mehr erfahren als erhofft. »Wann sind sie fertig?«, fragte er.

»Was?«

»Die neuen Stiefel …«