4.

 

S

teininger war zum Kurfürsten gerufen worden, der in seinem Arbeitszimmer neben einem massiven Eichentisch saß, die Schuhe ausgezogen und die Beine auf einen Schemel gelegt hatte. Ein ockerfarbener Kachelofen wärmte den gemauerten Raum. Teppiche und Wappenmalereien schmückten die Wände. Durch zwei Fenster schaute man über die Dächer von Mainz. Die Kirchen und Klöster beherrschten das Stadtpanorama; daneben gab es einige wenige aus Stein errichtete Häuser, die alten Familien und mächtigen Zunftherren gehörten. Wohlhabende Handwerker wohnten in mehrgeschossigen, bunt bemalten Fachwerkgebäuden. Zum Stadtrand hin wurden die Behausungen ärmlicher und farbloser.

Dietrich von Erbach hielt eine Schreibfeder zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie wie die Arme einer Waage auf und ab pendeln.

»Dieser neue Richter …« Der Kurfürst schaute Steininger nicht an, der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen bei der Tür stand. »Wie bist du eigentlich ausgerechnet auf ihn gekommen?«

»Er wird sich bewähren«, erwiderte Steininger.

»Ein Mann mit so wenig Erfahrung für eine derart heikle Aufgabe – ich habe da Zweifel.«

»Gib ihm eine Chance!«

»Das werde ich tun – wenn es die Situation zulässt.« Der Bischof hielt die Feder mit beiden Händen und bog sie so stark, dass sie zu brechen drohte. »Allerdings darf ich mir dem Stadtrat gegenüber keine Blöße geben. Im Moment ist vieles in der Schwebe; die Entscheidungen, die jetzt fallen, werden für Jahrzehnte Bestand haben. Deswegen ist es wichtig, Flagge zu zeigen. Sobald sie bei mir die kleinste Schwäche entdecken, eine verwundbare Stelle, werden sie auf mich einhacken wie Raubvögel. – Wie soll dieser unerfahrene Bursche gegenüber dem Stadtrat bestehen? Sie sind alle gegen ihn!«

»Wir sollten ihn nicht unterschätzen«, sagte Steininger. »Seine Jugend kann für dich ein Vorteil sein, denn er wird auf dich hören! Er ist zu jung, um widerspenstig zu sein. Ein Mann von vierzig oder fünfzig Jahren ist dagegen ein alter Stamm, den man schwer beugt; der hat seine eigenen Ansichten und macht Probleme.«

»Weshalb hast du an ihm einen Narren gefressen?«

Steininger machte einen Schritt auf den Kurfürsten zu, der die Feder neben sich auf den Tisch warf. Erbachs Arbeitszimmer lag im Dämmerlicht. Eine Skulptur des heiligen Martin sah Steininger nur als Schattenriss.

»Ich kenne seinen Vater gut. Die Familie hat lange in Italien gelebt, wo Thomas geboren ist und die ersten Jahre seines Lebens verbracht hat. Er war ein Kind mit außerordentlichen Begabungen; er hat gezeichnet und mit fünfzehn Jahren seltsame Maschinen konstruiert, kleine Wunderwerke. Beim Studium gehörte er zu den besten seines Jahrgangs. Er ist fleißig und hat Ausdauer. Er ist keiner, der sein Ziel aus den Augen verliert.«

»Mag ja alles sein!« Der Kurfürst schlug mit der Hand auf den Tisch. »Aber hier wird er ins kalte Wasser geworfen. Und wenn er nicht schwimmt, wird er absaufen. Er ist ein Schöngeist. Wir brauchen einen Mann, der hart durchgreift!«

Steininger kam noch einen Schritt näher. Sein Blick fiel auf Sankt Martins Schwert, das den Mantel des Heiligen in zwei Hälften trennte. »Das wird sich ändern.«

»Du setzt dich sehr für ihn ein. Also gut, er soll seine Chance haben. Vielleicht täusche ich mich. Ich erwarte von dir, Steininger, dass du ihm auf die Finger siehst. Man wird versuchen, ihn über den Tisch zu ziehen. Wenn er sich nicht durchsetzt, muss ich handeln.«

 

Thomas saß in seiner neuen Amtsstube und dachte an Italien. Das Gerichtsgebäude war vollständig aus Stein gemauert, ebenso wie der angrenzende Bischofssitz. Der Raum war nicht geheizt und die Fenster halb blind. Sein Zimmer lag zum Höfchen hin, aber nur wenn er nahe an die Glasscheiben herantrat, konnte er erkennen, was dort vor sich ging. Am Höfchen gab es eine Metzgerei, einen Bäcker, eine Wechselstube und andere Läden. Schausteller, Bettler und fahrendes Volk gingen dort bei besserem Wetter ihren Geschäften nach. Auch den Markt und die Münze konnte Thomas verschwommen sehen.

Er dachte an früher. Die ersten Jahre seiner Kindheit hatte er auf Sizilien verbracht. Sein Vater handelte mit orientalischen Gewürzen. Zu seinen frühesten Erinnerungen zählten das weiß getünchte Haus mit den blauen Fensterläden, das sie bewohnten, und der Blick auf den Hafen. Wenn die Sonne auf die Wände fiel, musste man die Augen zusammenkneifen. Häufig war er mit seinem Vater beim Hafen gewesen. Die Gewürze, der Wind vom Meer, der die Lippen salzig schmecken ließ, die Innereien der Fische, die im Wasser schwammen. Später zog die Familie nach Köln. Am schwersten fiel der Wechsel ins nördliche Klima seiner Mutter. Von ihr glaubte er seine musische Begabung zu haben.

Auch in Köln begleitete er seinen Vater zum Anlegeplatz der Schiffe. Er ging zu den Dominikanern auf die Schule. Jahre später kehrte er nach Italien zurück. Aus nächster Nähe erlebte er die Anfänge der Renaissance; Künstler, Wissenschaftler und Architekten entdeckten das antike Erbe und schufen ein neues Bild vom Menschen. Er besuchte Florenz und sah die Kuppel des Doms von Brunelleschi und Donatellos David. Sein eigenes Interesse an der Malerei wuchs, und er verbrachte mehr Zeit mit Zeichnen als mit dem Studium der Gesetze …

Bücher und Schriftstücke füllten die Regale und Schränke an den Wänden der Amtsstube; das ganze Mobiliar bestand aus einem Tisch, einem Pult und zwei Stühlen. Leichter Schimmelgeruch hing in der Luft. Quälende Selbstzweifel plagten Thomas. Das Gespräch mit dem Kurfürsten – es belastete ihn noch immer. Er ging im Zimmer auf und ab. Bisher führte sein beruflicher Weg geradewegs nach oben. Dabei war ihm vieles in den Schoß gefallen. Nur einmal war er ernsthaft geprüft worden, und er hatte die Prüfung, nach seinem eigenen Urteil, nicht bestanden. Die Erinnerung daran wollte nicht verblassen …

 

Thomas war nach Abschluss seines Studiums nach Köln zurückgekehrt, wo ihm der Name seines Vaters alle Türen öffnete. Er wohnte im Haus der Eltern und erhielt eine Stelle am Gericht. Er trug keine unmittelbare Verantwortung, sondern bereitete Fälle für den Gewaltrichter vor, der ein erfahrener Mann war und mit dem er sich gut verstand. Sein Vorgesetzter Albrecht Brand verhielt sich ihm gegenüber wie ein zweiter Vater. Nach zwei Jahren stieg Thomas auf und wurde zum Stellvertreter des Richters befördert. Das brachte ihm von verschiedenen Seiten Missgunst ein, aber sein Gönner schützte ihn. Da der Stellvertreter meistens im Hintergrund blieb, trug Thomas zwar offiziell größere Verantwortung als vorher, aber sie war mehr theoretischer Natur.

Aber einmal musste Brand für drei Tage verreisen. Der Richter hatte die Zeit seiner Abwesenheit so gelegt, dass kein Prozess anstand. Thomas vertrat ihn mit der Gewissheit, keine Entscheidungen treffen zu müssen. »Und wenn etwas passiert«, sagte Brand, »dann schieb die Sache hinaus, bis ich zurückkomme.«

Genau in den drei Tagen geschah etwas, womit keiner gerechnet hatte: Man fand die Leiche einer achtzehnjährigen Frau in einer Seitenkapelle des Doms. Sie hieß Monika Dittmar und arbeitete als Bäckerin in einem kleinen Laden am Alter Markt. Die Nachricht machte innerhalb weniger Stunden die Runde und sorgte für große Aufregung.

Eine Frau hatte die Leiche am frühen Morgen vor einem dreiflügligen Altar gefunden. Thomas musste zum Tatort, wo sich eine Menschentraube gebildet hatte. Er betrachtete die Leiche. Es gab keine Tatwaffe, und es war auch kein Blut geflossen. Einzig Spuren am Hals deuteten darauf hin, dass jemand die Frau erwürgt hatte. Da der Körper kalt und die Leichenstarre eingetreten war, musste ihr Tod viele Stunden zurückliegen.

Thomas befragte die Geistlichen. Die Tat musste in einem Zeitraum stattgefunden haben, der sich ziemlich genau eingrenzen ließ. Am Vortag, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, war ein Kaplan in der Kapelle gewesen, ohne Auffälliges zu bemerken. Da die Kathedrale nachts abgeschlossen wurde, musste der Mord nach Einbruch der Dunkelheit, aber vor dem Verriegeln der Eingänge geschehen sein.

Thomas ging zum Alter Markt, wo Monika Dittmar in der väterlichen Bäckerei gearbeitet hatte. Die Eltern hatten ihre Tochter zuletzt gegen Mittag lebend gesehen und sich über ihr Wegbleiben nicht gewundert, weil sie den Nachmittag frei hatte. Erst als sie nachts nicht kam, machten sie sich Sorgen. Thomas erfuhr, dass Monika Dittmar einen »Verehrer« hatte, wie die Mutter es nannte; er war von Beruf Fassmacher, und es schien beschlossene Sache zu sein, dass die beiden bald heiraten würden.

Thomas fand den Fassmacher in seiner Werkstatt. Er hatte die Nachricht noch nicht gehört und wurde kreidebleich. Sie führten ein langes Gespräch. Als Thomas ihn auf die geplante Heirat ansprach, wurde der Mann unsicher. Monikas Eltern seien nicht über den neuesten Stand der Dinge informiert. Ein junger Spielmann habe Monika den Kopf verdreht. Erst vor einigen Tagen sei das passiert, seitdem habe er sie kaum noch gesehen. Die Zeit vom späten Nachmittag bis kurz vor Mitternacht hatte der Fassmacher bei einem Freund verbracht, der seine Angaben bestätigte.

Die Stimmung im Volk war aufgeheizt. Nachdem sich auf unklaren Wegen Monika Dittmars Affäre mit dem Spielmann herumgesprochen hatte, hieß es bald, dieser sei der Mörder. Spielmann war ein »unehrlicher Beruf«, ähnlich wie Henker oder Köhler. Der Spielmann trat auf Märkten auf oder dort, wo viele Menschen versammelt waren; er brachte mit Scherzen und Musik sein Publikum zum Lachen.

Thomas ließ ihn zum Verhör kommen. Es erschien ein schlanker Mann mit schmalem Gesicht, der ernst und verängstigt wirkte. Thomas war bemüht, sich ein objektives Bild von ihm und der Situation zu machen, was nicht einfach war, weil das Volk seine Entscheidung schon getroffen hatte; es waren schon Stimmen laut geworden, den Spielmann sofort aufzuhängen, ohne vorangehendes Verhör oder Urteil.

Als Thomas den Spielmann auf Monika Dittmar ansprach, gab er ohne Zögern zu, sie gekannt zu haben. Thomas erinnerte sich noch genau an das Verhör, das er damals geführt hatte, und die Gedanken daran waren für ihn sehr unangenehm.

»Was heißt gekannt?«, fragte Thomas.

»Wir trafen uns. Sie wollte mit mir durchs Land ziehen.«

»Wo habt ihr euch getroffen?«

»Am Rhein, ein Stück unterhalb der Stadt bei den Weiden.«

Die Stelle war vor Blicken geschützt. Es war Sommer und heiß.

»Das ist ziemlich entlegen!«, sagte Thomas.

»Sie ist freiwillig gekommen. Niemand hat sie gezwungen.« Der Mann sprach schnell und aufgeregt, er wusste, dass es um sein Leben ging.

»Was geschah weiter?«

»Was wir da machten, hat sie bestimmt nicht umgebracht!«

Draußen, vor dem Gerichtsgebäude, hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die die Hinrichtung des Verdächtigen forderte. Thomas überlegte, wie Brand, der alte Richter, sich an seiner Stelle verhalten hätte.

»Man kann mir einiges vorwerfen«, sagte der Spielmann. »Ich bin sicher kein Heiliger. Aber Mord? Damit habe ich nichts zu tun!«

»Wie lange war Monika Dittmar Eure Geliebte?«

»Erst seit einigen Tagen.«

»Wo habt Ihr den gestrigen Nachmittag und Abend verbracht?«

»Wir waren verabredet …«

»Am Fluss?«

»Wie die Tage vorher.«

»Was geschah?«

»Sie kam nicht. Ich habe auf sie gewartet.«

»Und dann?«

»Bin ich dort geblieben.«

»Hat Euch jemand gesehen?«

»Nein.«

Als man die Sachen des Spielmanns durchsuchte, fand man einen Ring und Münzen, von denen er behauptete, dass Monika Dittmar sie ihm geschenkt habe. Monikas Eltern, die den Ring identifizierten, erzählten überall, der Spielmann habe ihre Tochter ausgeraubt und ermordet. Diese Version wurde vom Volk sofort übernommen.

Die Stadträte kamen zu Thomas. Sie behaupteten, die Beweislast sei erdrückend und die Wut der Bevölkerung nicht mehr unter Kontrolle zu halten. Er müsse sofort einen Gerichtstermin ansetzen und den Mann zum Tod verurteilen. Thomas wollte die Verhandlung um zwei Tage, bis zur Rückkehr Brands, hinausschieben. Aber sie setzten ihn so lange unter Druck, bis er nachgab und den Termin auf den Nachmittag des nächsten Tags legte.

Thomas verbrachte eine schlimme Nacht. Er hielt die Schuld des Spielmanns für wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Er lief Gefahr, einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen – denn er zweifelte, dass er stark genug war, den Druck von außen zu ignorieren. Er hatte sich zwar bei allem, was er tat, immer gefragt, wie Brand handeln würde – aber hätte dieser sich nicht geweigert, den Termin für eine Verhandlung vorschnell und auf Druck von außen anzusetzen? War nicht »in dubio pro reo« immer Brands oberster Rechtsgrundsatz: Im Zweifel entscheide das Gericht für den Angeklagten? Thomas warf sich vor, nicht alle Umstände der Tat gründlich genug geprüft zu haben. Ihm war, als gerate er in einen Strudel hinein, der ihn nach unten zog, und er war nicht in der Lage, sich aus dem Wirbel zu befreien.

Am nächsten Morgen fand er zu seiner Überraschung Brand im Amtszimmer. Er war früher von seiner Reise zurückgekehrt. Thomas atmete erleichtert auf und erzählte ihm, was geschehen war. Brand nahm sofort alles in die Hand.

Zuerst führte er ein zweistündiges Verhör mit dem Spielmann. Danach sagte er: »Ich zweifele an seiner Schuld!«

Dann ließ er den Verlobten holen und verhörte ihn ebenfalls lange. Der Fassmacher verstrickte sich in Widersprüche. Es stellte sich heraus, dass er Monika Dittmar und den Spielmann heimlich beim Fluss beobachtet hatte. Eine Verantwortung für den Mord stritt er ab und berief sich auf sein Alibi.

Brand begann die Befragung des Zeugen, auf den sich das Alibi stützte. Der Mann war ebenfalls Fassmacher und wirkte sehr nervös. Wie sich im Verlauf eines langen Verhörs herausstellte, war er beim Verlobten der Toten verschuldet, und das Alibi war erkauft.

Der Mordfall entpuppte sich als klassisches Eifersuchtsdrama. Den Spielmann traf keine Schuld, und der Verlobte der Ermordeten gestand schließlich die Tat. Er hatte sich mit ihr gegen Abend in der Kapelle des Doms verabredet, nicht um sie zu ermorden, sondern um eine Aussprache zu führen. Erst als sie hartnäckig blieb und ihn verlassen wollte, geriet er in Wut. Dann, so berichtete er, sei alles sehr schnell gegangen. Er könne sich an den Tathergang nicht wirklich erinnern. Es gab wenige Tage später eine Verhandlung, und beide Fassmacher wurden hingerichtet.

Niemand machte Thomas einen direkten Vorwurf, und auch Brand verpackte seine Kritik so, dass sie mehr ein wohlmeinender Rat für die Zukunft war. Thomas aber verfolgte das Geschehen bis in die Träume. Schließlich ging es um keine Lappalie, sondern um ein Menschenleben. Manchmal träumte er, der Spielmann sei durch sein Verschulden hingerichtet worden.

 

Es klopfte an der Tür. Ein kleinwüchsiger Mann betrat die Amtsstube, der etwa zwanzig Jahre älter als Thomas sein mochte und mit krächzender Stimme sprach: sein neuer Adlatus. Sie hatten sich bereits am Vortag kennen gelernt. Er hieß Fuchs und arbeitete seit vielen Jahren am Gericht.

»Ich bringe schlechte Nachrichten!«, sagte Fuchs.

»Was ist passiert?«, fragte Thomas.

»Eine Frau ist ermordet worden.«

»Wie heißt sie?«

»Klara Roth. Sie wohnt in einem Haus im Wald. Jemand hat sie dort erstochen.«

»Und mein Vorgänger hat in solchen Fällen die Ermittlungen geleitet?« Die Rechtsbräuche waren unterschiedlich. In manchen Städten leitete die Stadtpolizei die Untersuchungen, oft aber nahm das der Richter selbst in die Hand, unterstützt von der Stadtwache. Thomas kannte die Antwort auf seine Frage bereits, und er hatte sie nur gestellt, um Zeit zu gewinnen. Er musste sich fassen.

»Selbstverständlich!«, sagte Fuchs. »Ihr leitet die Untersuchungen und seid gegenüber Busch und der Stadtwache weisungsbefugt.«

»Dann bringt mich zum Tatort«, sagte Thomas und holte tief Luft. Als hätte er es vorausgeahnt: Wie damals in Köln …