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Ein typischer Sonntagabend. Mama und Papa saßen auf der Couch, der Fernseher lief, Sina spielte auf dem Wohnzimmerteppich, Rocky lag in seinem Lieblingssessel im Schlafzimmer und döste vor sich hin. Ich saß in meinem Zimmer und weinte. Ich hatte schon viel geweint an diesem Tag. Da ich aber die meiste Zeit für mich geblieben war, bekam es niemand mit. Wenn ich in die Küche oder aufs Klo musste, rieb ich mir schnell meine Tränen am Ärmel ab, damit kein Verdacht aufkam. Ich wollte nicht mehr bei jeder Träne zu Mama laufen. Ich wollte einfach nicht. Im Hintergrund lief mein Lied von Peter Maffay. Es begann immer wieder von vorne, weil ich das bei meinem CD-Player so eingestellt hatte. »Ich wollte nie erwachsen sein, hab immer mich zur Wehr gesetzt. Von außen wurd’ ich hart wie Stein, und doch hat man mich oft verletzt.« So viele Dinge flogen durch meinen Kopf: mein Geburtstag, meine Ex, das Monster, Erik, die Schmerzen rechts unten in meinem Bauch. Ich googelte den Begriff »menschliche Organe« und anhand der Bilder, die im Internet abgebildet waren, musste es meine Leber sein, die mir die Schmerzen bereitete. Oder der Zwölffingerdarm, der direkt neben der Leber liegt. Aber ich tippte auf die Leber, weil ich von einem Zwölffingerdarm noch nie etwas gehört hatte. Was war das überhaupt für ein komischer Name? Ich öffnete meine Facebook-Seite und wurde wieder traurig. Ich schluchzte und zitterte, und ich hörte Annas Stimme, die sagte: »Es ist okay, wenn du zu deiner Mama gehst. Hier in deinem Zuhause musst du dich nicht verstellen. Das weißt du doch, Daniel.« Ich konnte es nicht mehr länger ertragen und schlurfte auf leisen Socken ins Wohnzimmer.
»Mama«, sagte ich und breitete schon meine Arme aus. »Ich brauche jetzt ganz dringend eine Umarmung.«
»Was ist denn los, mein Schatz?«, sagte Mama und zog mich an sich.
»Erik ist gestorben.«
»Wer ist denn Erik?«
»Ein Junge, den ich über Facebook kannte. Ich habe dort seine Geschichte verfolgt. Er saß im Rollstuhl und war auch ganz krank. Ich habe ihn bewundert, weil er so tapfer war. Jetzt ist er zu den Engeln geflogen. Er wurde nur elf Jahre alt, Mama.«
Mama tröstete mich.
Nach einer Weile sagte ich: »Wir haben doch nächsten Freitag den Termin im Krankenhaus, um das MRT zu machen, oder?«
»Du hast doch gesagt, dass du das nicht machen willst.«
»Will ich auch nicht«, flüsterte ich gegen ihren Bauch, »aber ich gehe trotzdem hin. Damit du nicht traurig bist. Du willst ja, dass ich das untersuchen lasse, oder?«
»Ja, Daniel. Das ist wichtig.«
»Aber eines sage ich dir: Wenn die herausfinden, dass das Blutgerinnsel in meinem Kopf gewachsen ist, bringe ich mich um.«
»Was?«
Mamas Augen wurden riesengroß, was lustig aussah, aber mir war nicht zum Lachen zumute.
»Dann springe ich von einer Brücke. Mit einem Tumor im Kopf kann ich nicht auch noch fertig werden. Ich hab mit diesem bescheuerten Herz schon genug Probleme.«
»Aber Daniel, wie kommst du denn darauf?«, fragte Mama und streichelte über meinen Kopf.
»Habe ich im Internet gelesen. Ein Mädchen hatte erst Kopfschmerzen, dann taten ihre Augen weh, dann verlor sie Gewicht und musste sich ständig übergeben. Genauso ist es bei mir, Mama. Das arme Mädchen ist dann gestorben. Also, wenn die so einen Tumor bei mir finden, mache ich freiwillig Schluss. Dann ist es für alle endlich vorbei.«
Später, als ich im Bett lag, kam mir eine Idee. Ich musste sofort Lars anrufen. Ich schlug ihm vor, bis zu meinem Geburtstag nicht mehr miteinander zu telefonieren und auch keine SMS mehr zu schreiben. Am Anfang klang er ein bisschen traurig und verwirrt, aber dann erklärte ich es ihm: »Damit ich mich noch mehr freue, dich an meinem Geburtstag zu sehen. Je länger wir nichts voneinander hören, desto größer wird die Freude sein.« Lars meinte, er würde das nicht schaffen, also das Durchhalten, aber er willigte ein, es wenigstens zu versuchen. Lars war wieder krank. Er hatte Grippe, aber es sei nichts Schlimmes, beruhigte er mich. Das war gut, denn um meinen Bruder machte ich mir immer am meisten Sorgen.
»Schlaf schön, mein Kleiner«, verabschiedete er sich von mir. »Bis in zwei Wochen.«
»Hab dich lieb, Bruderherz. Und bitte werde wieder gesund bis zu meinem Geburtstag. Ich kann den nicht verschieben.«
Lars lachte und sagte: »Versprochen.«
Mama brachte mir noch eine Wärmflasche ins Bett. Dann schlief ich ein.
Am nächsten Tag schickte ich Lars aus dem Hospiz eine SMS: Darf ich dich anrufen, wenn ich heute Abend im Bett liege? Ja oder nein?
Seine Antwort kam nur wenige Sekunden später: Ja ;-) ;-) ;-)
Um Punkt 19 Uhr wählte ich seine Nummer. Wir begrüßten uns gegenseitig mit einem lauten Lachen, weil ich unsere Vereinbarung schon nach einem Tag gebrochen hatte. Aber ich hielt es einfach nicht aus. Ich musste seine Stimme hören. Ich musste es einfach, sonst wäre ich an den restlichen Tagen bis zu meinem Geburtstag unendlich traurig gewesen, und ich wollte meine Tage nicht mit Traurigkeit verschwenden. Als Mama herausbekam, dass ich schon wieder mit Lars telefonierte, lief sie kichernd zu Papa ins Wohnzimmer. Meine Eltern hatten nämlich eine Wette abgeschlossen. Papa hatte getippt, dass ich unsere Telefondiät nach spätestens zwei Tagen abbrechen würde, auf Mamas Zettel stand »ein halber Tag«. Mama hatte gewonnen.
Obwohl es noch nicht spät war, lag ich schon in meinem Schlafanzug neben Josi im Bett. Mir ging es nicht gut. Mir war schwindelig und kalt, und ich fühlte mich müde und eigenartig kraftlos. Die Galle war mir nach dem Hospiz auch schon hochgekommen. Ich musste mich dreimal übergeben. Lars machte sich Sorgen, das konnte ich hören. Er versuchte mir Mut zuzusprechen, so wie immer, aber in meinem Kopf spielte sich eine Geschichte ab, die ich nicht abstellen konnte, deswegen unterbrach ich ihn mitten im Satz und sagte: »Bruderherz, muss dir was verraten.«
»Was ist denn passiert?«
»Hat was mit Tommy zu tun«, kicherte ich extra leise, damit Mama nichts hörte, falls sie im Flur stand und spionierte. Sie war immer so neugierig. Fast so schlimm wie ich.
»Echt?«
Lars klang überrascht.
»Ja, aber ich schäme mich. Möchte es doch nicht sagen.«
»Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst«, sagte Lars. »Dann gute Nacht, mein Lieber und schlaf schön. War ja auch ein langer Tag für dich.«
»Nein, warte«, sagte ich schnell und atmete tief ein. »Ich will’s dir doch sagen. Tommy und ich sind wieder zusammen, weil wir Gefühle füreinander haben. Also, er hat Gefühle für mich, das weiß ich genau, und ich habe Gefühle für ihn. Das weiß ich noch genauer.«
»Ist doch super«, sagte Lars. »Das muss dir doch nicht peinlich sein. Erst wollte Tommy ja damals nicht, ne?«
»Ich weiß, aber er hat mich doch lieb. Er hat’s mir heute gesagt. Also, es war so: Unsere Lehrer waren alle krank, deswegen hatten wir einen Aushilfslehrer, der überhaupt nicht wusste, wie unsere Klasse funktionierte. Er hat Tommy und mich in den Nachbarraum geschickt, damit wir dort unsere Matheaufgaben üben.«
»Tommy und du, alleine in einem Raum, ohne Lehrer?«, fragte Lars nach.
Ich sagte: »Ja.«
»Und habt ihr euch nebeneinander gesetzt?«
Ich lachte und sagte: »Ja.«
»Sehr gut. Weiter!«
»Tommy saß links von mir und rechnete Aufgaben, und ich konnte mich gar nicht konzentrieren, weil mein Herz so gewummert hat. Dann hab ich mit meinen Händen sein Gesicht zu mir gezogen, so wie Mella damals, und ihn einfach auf den Mund geküsst.«
»Du hast was?«, rief Lars ganz laut in den Hörer.
»Hab ihn geküsst«, flüsterte ich.
»Du bist so dope«, lachte Lars jetzt noch lauter, und auf einmal war es mir nicht mehr so peinlich.
»Wir haben auch vereinbart, dass ich nächstes Wochenende bei ihm übernachte. Also von Samstag auf Sonntag.«
»Ach, so schnell schon?«
»Ja, klar«, sagte ich. »Dann können wir auch ein bisschen rummachen.«
»Du willst keine Zeit mehr verlieren, hmm?«, sagte Lars jetzt etwas leiser.
Ich sagte: »Nein.«
»Das verstehe ich. Ey, Daniel. Ich bin sehr stolz auf dich. Das hast du wirklich gut gemacht.«
Ich kicherte wieder, weil es noch etwas gab, was ich erzählen wollte, aber es war einfach viel zu peinlich. Dann gab ich mir einen Ruck und sagte: »Wir haben uns noch ein zweites Mal geküsst … dabei berührten sich unsere Zungenspitzen.«
»Alter Schwede, du lässt wirklich nichts mehr anbrennen.«
»Es war aber seine Idee, und als er fragte, sagte ich einfach ja, ohne lange darüber nachzudenken. War das jetzt blöd?«
»Nein, das war perfekt. Hast du alles richtig gemacht. Hast du das vorher schon mal mit einem Mädchen gemacht?«
»Nein.«
»Das war heute dein erster Zungenkuss?«
»Ja.«
»Wow! Und, wie hat es sich angefühlt?«
»So schön«, sagte ich und musste wieder kichern, weil ich an Tommy denken musste. »Wir sind ineinander verliebt. Du hattest recht. Das ist das schönste Gefühl des ganzen Universums. Wir erzählen aber keinem, dass wir jetzt zusammen sind, sondern wollen es erstmal für uns behalten. Ich erzähle es nur dir, weil du ja mein Bruder bist und wir keine Geheimnisse haben.«
»Ich bin so stolz auf dich, mein Kleiner. Das hast du gut gemacht. Was sagt deine Mutter dazu?«
»Der habe ich noch nichts davon gesagt. Mache ich auch nicht. Tommy soll mein Geheimnis bleiben. Ich freue mich schon so sehr auf morgen, wenn ich ihn wiedersehe. Wir haben vereinbart, gleich nach der ersten Stunde unsere Handynummern austauschen. Vielleicht verbringen wir auch die große Pause zusammen. Das wäre schön. Ich habe deinen Ratschlag befolgt.«
»Ach ja? Welchen denn?«
»Folge deinem Herzen.«
»O Mann, Daniel. Ich fang gleich an zu flennen, ey. Ich kann es gar nicht oft genug sagen, wie stolz ich auf dich bin. Und, hast du richtig viele Schmetterlinge im Bauch?«
»Und wie«, sagte ich und strampelte mit meinen Beinen. »Einen ganzen Schwarm.«
»Ich freue mich so für dich, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
»Danke. Tommy und ich wollen später, wenn ich achtzehn bin, auch zusammenziehen. Dann werde ich eine eigene Wohnung in Berlin haben, und Tommy wohnt dann bei mir. Er ist dann zwar erst sechzehn, aber er meinte heute, dass seine Eltern das bestimmt erlauben würden.«
»Hahaha.«
»Ich darf ja wohl noch träumen!«
»Du machst mich fertig heute«, sagte Lars, der sich immer noch für mich freute. Das erkannte ich an seiner Stimme, die viel strahlender klang als an den Tagen, an denen er traurig war.
»Jetzt müssen wir nur noch einen Jungen für dich suchen.«
»Lass uns für mich lieber ein Mädchen suchen, okay?«
»Aber ich suche sie aus, weil du es alleine nicht schaffst.«
»Einverstanden.«
»Lars?«
»Ja.«
»Ich habe Tommy auch ein Stück von meinem Herz geschenkt, so wie in der Geschichte, die du mir erzählt hast, weißt du noch?«
»Echt?«, fragte er überrascht, und ich antwortete: »Ja, ich habe eine Ecke aus meinem Herzen rausgerissen und es ihm gegeben. Er hat es sich ganz fest gegen sein Herz gedrückt und mir dann auch ein Stück von seinem Herzen geschenkt. Egal, was jetzt passiert, unsere Herzen sind für immer verbunden.«