27

Hamburg war weiß und voller Schnee. Der Schulbus benötigte deswegen eine halbe Stunde länger als sonst, um mich nach Hause zu bringen. Als ich um 15.23 Uhr die Haustür aufschloss, begrüßte mich Sina mit einem leisen Miau. Sie kann noch nicht so laut miauen wie Rocky, weil sie ja noch ein Katzenbaby ist. Mama stand im Flur und schaute mich aufgeregt an. Sie telefonierte gerade mit einem meiner Ärzte. Das erkannte ich sofort, weil Mama immer sehr aufgeregt ist und sich ständig verspricht, wenn sie mit Ärzten redet. Ich stellte meine Tasche mit der Sauerstoffflasche neben meinen Kleiderschrank, aber Mama rief mir sofort zu: »Du brauchst dich gar nicht ausziehen. Wir fahren gleich weiter zum Doktor. Deine Blutergebnisse sind da. Sie wissen jetzt, warum du so starke Bauch- und Lungenschmerzen hast.«

Na endlich, dachte ich und zog meine Jacke, weil es mir ganz schön warm wurde, aus. Und dennoch, wie oft hatte ich diesen Spruch schon gehört! Irgendwie war es mir auch egal. Solange die Ärzte mir nichts geben können, was mich gesund macht oder wenigstens die Schmerzen lindert, können sie sich ihre tollen Diagnosen in den Allerwertesten schieben. Ist doch so. Ich nahm die kleine Sina auf den Arm, die an meiner Hose kratzte und gab ihr einen Kuss auf die Nase.

»Hey Mäuschen, drückst du mir die Daumen? Vielleicht wird heute ja alles anders, und sie können mir wirklich helfen. Na, was sagst du dazu?«

Sie schnurrte und rieb ihren Kopf gegen meinen.


Meine neue Diagnose lautete: Vorstadium zu einer Embolie. Irgendwas mit Mycoplasma-Infection, aber Mama konnte sich den Ausdruck nicht so genau merken, weil sie sich darauf konzentrierte, was das für Auswirkungen für mich hatte. Das war wichtiger. Als wir in dem Arztzimmer saßen, dachte ich an Hannah aus Berlin – Tag & Nacht und saure Schnüre. Am liebsten mag ich die grünen, dann die gelben und dann die roten. Das sind einfach die besten! Ach ja, Diabetes hatte ich auch. Ganz ehrlich, in China hätte auch ein Sack Reis umfallen können, so scheißegal war mir das. Als ich vor einigen Wochen im Krankenhaus lag, sagten sie an einem Tag, ich hätte es, und Mama wurde kreidebleich. Am nächsten Tag kam ein anderer Arzt, und ich hörte, wie er zu ihr sagte: »Alles Quatsch, Daniel hat keinen Diabetes.« Jetzt also doch. Aber nur eine leichte Form. Mein Arzt sagte, ich müsse diese Werte alle sechs Monate kontrollieren lassen. Wenn ich das schon höre: »Alle sechs Monate.« In meiner Zeitrechnung sind das hundert Jahre. Als wir in der Apotheke standen, sagte Mama, dass ich ab sofort die stärksten Antibiotika nehmen müsse, die für Kinder erlaubt seien. Ich sah aus dem Fenster auf die Straße raus und fragte mich, ob Hannah ihrem Freund verzeihen würde. Der war nämlich mit Sophie fremdgegangen und hatte sich auch noch erwischen lassen, dieser Holzkopf.

Am nächsten Morgen hatte ich Schmerzen im linken Bein. Es war voller Wasser. Jede Belastung tat furchtbar weh. Und ich konnte nicht atmen. Meine Lunge, mein Herz, alles hatte sich zusammengezogen, so, als würde man mich vakuumdicht verpacken. Panik stieg in mir auf. Es fühlte sich an, als würde mir jemand das Leben aussaugen wollen. Ich lag auf dem Boden meines Zimmers. So laut ich konnte, schrie ich nach Mama.

Mama kam. Ich sagte leise: »112.«

Mama rief den Notarzt.

Und sie weinte.

Wir fuhren ins Krankenhaus.

Mit Blaulicht.

Ich hatte eine schwere Lungenentzündung. Die Stationsschwester gab mir ein Einzelzimmer. Nicht weil ich Stammgast war oder sie es mir ganz besonders gemütlich machen wollten, auch nicht wegen Weihnachten, sondern weil sie mich isolieren mussten. Niemand durfte mich besuchen. Wenn die Krankenschwestern mich untersuchen kamen, trugen sie grüne Kittel und einen speziellen Mundschutz, damit keine Viren von draußen zu mir ins Zimmer gelangten. Mein erster Gedanke war, dass Lars kommen soll. Ihn würden sie bestimmt zu mir lassen. Aber Lars war weit weg.

Ich sagte: »Mama, Lars soll schnell kommen.«

Und Mama sagte: »Mein Schatz, Lars ist in Berlin. Außerdem ist er auch krank. Er hat Grippe und liegt im Bett. Selbst wenn er käme, die Ärzte würden ihm nicht erlauben, dich zu sehen. Du hast gerade ein sehr schwaches Immunsystem und musst erst wieder zu Kräften kommen.«

Ich machte mir Sorgen wegen Lars. Er brauchte dringend jemanden, der sich um ihn kümmerte und ihn lieb hatte, wenn ich mal nicht da war.

»Richtest du ihm bitte gute Besserung von mir aus, ja? Und sag ihm, dass seine Gesundheit natürlich vorgeht. Ja, versprochen?«

Meine Mama versprach es und ging aus dem Zimmer. Ich legte meine rechte Hand auf mein Herz und zählte die Schläge. Noch hielt es. Die Herzmaschine, an die ich angeschlossen war, gab keine Warnsignale von sich. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Hoffentlich werde ich wieder gesund, dachte ich. In einer Woche fahre ich doch nach Berlin. Ich muss ganz dringend gesund werden. Bitte, lieber Gott, tu mir den Gefallen. Nur diesen einen. Dann wurde ich müde. Ich hatte nicht genug Kraft, um meine Augen offen zu halten, und immerzu dagegen ankämpfen wollte ich auch nicht mehr. Als ich wieder aufwachte, saß Mama im grünen Krankenschwesternkittel und mit Mundschutz neben mir auf einem Stuhl und hielt meine Hand. Ihre Augen waren ganz rot und ihre Schminke vermischte sich mit ihren Tränen. Hätte sie ihre schwarzen Ausgehklamotten angehabt, hätte sie sofort mit Wiebke auf eine ihrer Gothik-Partys gehen können. Mama verzog keine Miene und sagte, dass ich die nächsten fünf Tage im Krankenhaus bleiben müsse. Anweisung vom Chefarzt. Das war die schlimmste Nachricht der Welt. Ich flippte völlig aus, zappelte wild umher und schrie so laut, dass mein Herz zu brennen begann und ich husten und spucken musste. Das Herz auf der Herzmaschine begann rot zu blinken und ein Alarmsignal ertönte. Dann hatte ich keine Kraft mehr, um mich aufzuregen und sackte zusammen. Mama war vor Schreck vom Stuhl aufgesprungen, und eine Krankenschwester kam ins Zimmer gerannt. Mama sprach mit ihr, und ich verkroch mich unter der Decke und dachte an meinen Mathelehrer. Wenn ich mich nicht verrechnet hatte, grübelte ich, könnte es gerade noch klappen: Freitag = 1 Tag, Samstag = 2 Tage, Sonntag = 3 Tage, Montag = 4 Tage, Dienstag = 5 Tage. Unser Zug fuhr am Donnerstag. Noch war Berlin nicht verloren.

Mama konnte nicht bei mir bleiben, weil sie keine Kleider zum Wechseln dabei hatte und ich in dem Einzelzimmer in einem sehr schmalen Bett lag. Da passte sie nicht mit rein. Ich wollte sie nicht gehen lassen, aber dann war Mama weg und ich ganz alleine. Ich drückte Josi, aber es half nichts. Niemand war da, um mich lieb zu haben, und die schrecklichen Erinnerungen kamen zurück, die Bilder aus Südafrika, die …

Ich bekam eine Angstattacke, rief nach meiner Mama, aber sie antwortete nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange ich so verharrte, aber als ich den Namen von Lars auf meinem Handydisplay sah, weinte ich immer noch. Die ersten Minuten konnte ich gar nicht verstehen, was er sagte, weil mein Schluchzen alles andere übertönte.

»Ich, ich, ich … ich hab dich so lieb«, stotterte ich.

»O Gott, Daniel, was ist los?«

Ich erkannte an seiner Stimme, dass er sich Sorgen machte, und ich wollte ihm sagen, dass ich gerade ganz viel Angst hatte, aber ich war zu durcheinander. Ich musste erst mit Mama sprechen. Ich konzentrierte mich und sagte: »Ich ruf kurz Mama an, okay?«

»Alles klar, mein Kleiner. Schreib mir ’ne SMS, dann ruf ich dich wieder zurück. Abgemacht?«

»Okay.«

Ich rief Mama an, und sie versprach mir hoch und heilig, morgen früh gleich wieder zu mir zu kommen, und dann war alles wieder gut. Ich schrieb Lars eine SMS: Ruf mich jetzt an. Du hast zehn Sekunden. Ich legte mein Handy auf die Decke und begann zu zählen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.«

Es klingelte. Ich drückte auf die grüne Taste und sagte: »Du hast gerade noch so Glück gehabt.«

»Wo war ich?«, lachte Lars.

»Bei neun.«

»Perfektes Timing. Also, was war eben los?«

»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Versuch’s einfach. Und nur die Ruhe. Wir haben alle Zeit der Welt. Okay?«

»Okay.«

»Ich bleibe so lange am Telefon, wie du willst. Okay?«

»Ja, okay.«

»Und jetzt sortierst du kurz deine Gedanken, atmest langsam ein und aus und dann erzählst mir ganz langsam alles, was dir auf dem Herzen liegt.«

»Als ich fünf Jahre alt war«, begann ich, »und wir noch eine Familie waren, also Mama und mein richtiger Papa und mein richtiger Bruder, also nicht du, sondern Ryan, und wir noch in Südafrika gelebt haben, da, da, da, also, da …«

»Alles gut, Daniel. Entspann dich.«

»… da hat mich Mama morgens zur Schule gebracht, hat mir einen Kuss gegeben und mir gesagt, wie lieb sie mich hat, und dann bin ich nach der Schule nach Hause gekommen, und sie war nicht mehr da. Sie ist einfach gegangen, ohne mich mitzunehmen. Und jetzt musste ich daran denken, also, dass das wieder passiert. Drei Jahre war ich ohne meine Mama. Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein, das kann ich nicht«, sagte Lars.

»Und eben, als Mama gegangen war, musste ich an diese Zeit zurückdenken.«

»Dass sie morgen vielleicht nicht wiederkommen würde?«

»Ja.«

»Da musst du dir keine Sorgen machen. Deine Mama wird da sein. Ehrenwort.«

»Das hat Mama auch gesagt.«

»Na, siehst du.«

»Okay.«

Ich hatte mich wieder gefangen. Josi lag neben mir, Lars’ Stimme in meinem Ohr, und die Albträume konnten mir mal gewaltig den Buckel runterrutschen. Warum ich? Warum ausgerechnet ich? Als ich im Krankenwagen lag, und wir auf dem Weg ins Todeshaus waren, stellte ich mir diese Frage zum ersten Mal. Ich weiß nicht wieso, weil ich mich das vorher noch nie gefragt hatte. Es schwirrte plötzlich in meinem Kopf herum. Ich erzählte Lars davon, und er meinte, dass sich jeder diese Frage irgendwann stellt. Und dass es keine Rolle spielen würde, ob es einem wirklich schlecht ginge, so wie mir, oder nur ein bisschen, so wie den meisten anderen Menschen auf der Welt. Auf diese Frage wüsste nur der liebe Gott die passende Antwort, weswegen ich mir keine weiteren Gedanken machen sollte. Machte ich auch nicht. Ich dachte jetzt an nackte Brüste.

»Bruder, nächste Woche gehen wir saufen. In einem Club. Wo richtige Weiber sind.«

Lars verschluckte sich fast an seinem Wasser und fing so laut an zu lachen, dass ich mitlachen musste. Aber dann sagte ich, dass er damit aufhören solle.

»Ich meine das ernst«, protestierte ich.

»Ich weiß«, hustete Lars. Seine Stimme war ganz heiser. Er klang wie ein alter, kaputter Roboter.

»Fuck, mir kommt Wasser aus der Nase.«

»Bähhh, is’ ja eklig.«

Ich hörte, wie Lars sich die Nase putzte.

»Erinnerst du dich, was das letzte Mal passiert ist, als du nur drei winzige Schlucke Alkohol aus meinem Glühwein genommen hast?«

Und wie ich mich erinnerte. Das war so cool. Schmeckte zwar voll eklig, aber das Gefühl war richtig geil. Ich grinste vor mich hin. Mein linker Arm schmerzte von dem Zugang, den mir die junge Krankenschwester gelegt hatte, aber die Gedanken an Alkohol und sexy Mädels konnte es gerade so überdecken.

»Weißt du, was passiert ist?«, fragte Lars wieder.

Ich antwortete nicht und schaute auf den Fernseher.

»Du hast Bauchschmerzen bekommen, Herzstiche, hingst kotzend über’m Waschbecken, und ich musste deine Mutter anrufen, weil du wie ein Geist aussahst. Okay, sagen wir, wie ein Babygeist. Hahaha.«

»Sehr witzig.«

»Du bist echt einmalig. Manchmal verhältst du dich wie ein kleines Baby, flennst wie ein Wasserfall und fünf Minuten später denkst du an Alkohol und Titten.«

»Ja.«

Lars lachte. Ich auch, aber nicht so laut wie er. Wir hatten beide unsere Handylautsprecher an, weswegen unsere Stimmen durcheinander geworfen wurden.

»Checkst du das eigentlich?«

»Was?«, fragte ich.

»Dass du manchmal so megamäßige Sprünge in deinem Verhalten machst. Ich finde das ja superlustig, aber wenn ich dich nicht kennen würde, na ja, würde ich glauben, du wolltest uns alle nur verarschen.«

»Echt?«

»Ja, Bruderherzchenschmerzchen. Kannst du dich noch erinnern, wie du vor zehn Minuten warst? Du hast nach deiner Mama gejault, wie ein Hundewelpe.«

»Ja, ja, aber ist doch egal. Kann mich auch gar nicht mehr erinnern.«

»Als ob’s nie passiert wäre, hmm?«

»Ja«, sagte ich.

»Siehst du, und schon wieder könnte man glauben, du spielst hier dein kleines Spielchen mit uns.«

»Keine Ahnung, was du meinst.«

»Ach du, schlaf jetzt. Schlafen ist gut für dich. Und wenn was ist, wenn du wieder Angst bekommst, rufst du mich an, okay?«

»Okay.«

»Und noch was, mein Kleiner. Auch wenn ich gerade nicht bei dir sein kann, ich denke immer an dich.«

»Ich auch an dich.«

Dann legte ich auf.

Mama hatte versprochen, um zehn Uhr bei mir zu sein. Bis dahin gab es nur mich (und Josi) und das Todeshaus. Heute bekommst du mich nicht, dachte ich und ballte kämpferisch meine Faust. Ich konnte aus dem Fenster den schwarzen Himmel sehen. »Die Traurigkeit ist die Nacht des Herzens«, hatte Lars irgendwann beim Autofahren mal gesagt, und ich habe nie genau verstanden, was er damit meinte. Bis heute. Ich glaube, es bedeutet, dass auch im Herzen wieder die Sonne scheint, wenn die Nacht vorüber ist. Und mit der Sonne kommt dann automatisch auch die Fröhlichkeit zurück. Ich musste also nur ganz schnell einschlafen … und wieder aufwachen.

»Gute Nacht, Josi. Hab dich lieb.«

Als ich aufwachte, war schon wieder Ärger im Anmarsch. Mamas Augen waren ganz weit aufgerissen und ihr Kopf tomatenrot, was kein gutes Zeichen war. Ich grübelte, was ich falsch gemacht haben könnte, aber seit gestern Abend lag ich nur in diesem Krankenhausbett und als ich das letzte Mal mit Mama telefoniert hatte, war noch alles in Ordnung. Ich wollte sie fragen, warum sie so heftig trampelte, wie ein wilder Stier, aber sie gab mir bloß einen Kuss auf die Stirn und sagte, dass sie erst mal eine rauchen gehen müsse. Wenn die Erwachsenen gestresst sind, müssen sie immer Zigaretten rauchen. Meine Eltern rauchen ganz schön viel. Ich überlegte, warum Mama eben so unglücklich aussah, und mir fielen drei Gründe ein:

  1. ICH DARF NICHT NACH BERLIN!!!
  2. Ein Witz über Tomaten (wegen Mamas Tomatenkopf)
  3. Ein Witz über Zigaretten (weil Mama gerade raucht)

Die beiden Witze hatten nichts mit Mamas schlechter Laune zu tun, aber sie spukten eben in meinem Kopf herum. Ich konnte nichts dafür. Sie waren plötzlich da. Der Tomatenwitz ging so: Laufen zwei Tomaten über die Straße. Kommt ein Lkw. Sagt die eine: »Komm Ketchup, wir gehen rüber zur Pommesbude.« Voll witzig!

Ich schaute aus dem Fenster, und der Himmel war jetzt blau. Die Sonne konnte ich nicht sehen, aber ich wusste, dass sie da war. Der Zigarettenwitz ging so: Sitzt ein kleines Mädchen in der Badewanne: »Mama, wo ist der Waschlappen?« Da sagt Mama: »Der ist nur schnell Zigaretten holen!« Ich verstand ihn erst nicht, aber als Mama mir erklärte, dass mit dem Waschlappen Papa gemeint war, fand ich das so lustig, dass ich den ganzen Abend darüber lachen musste. Nach einer Weile kam Mama ins Zimmer zurück. Sie war noch immer wütend. Ich versuchte mich daran zu erinnern, an was ich gerade gedacht hatte, aber vor meinem Auge drehte sich alles. Ich griff nach Josis Rüssel, um mich zu entspannen, da fiel es mir wieder ein: ICH DARF NICHT NACH BERLIN.

»Mama, darf ich nach Berlin?«, fragte ich.

»Nicht jetzt, Daniel«, fluchte sie.

»Okay«, sagte ich.

»Ich ruf Papa an. Diese bescheuerten Ärzte!«

»Okay.«

Manchmal stelle ich mir vor, dass schlimme Sachen, die in der Vergangenheit passiert sind, gar nicht echt waren, sondern nur ein Traum. Kennst du das, wenn du morgens total durcheinander im Bett liegst, weil du wirres Zeug geträumt hast, die Bilder dir aber so real erschienen, dass du kurz überlegen musst: Moment mal, war das jetzt echt oder nur ein Traum? Ich liebe Träume, also die schönen, nicht die Albträume. Dann stelle ich mir vor, ein anderer Junge zu sein und fliegen zu können, so wie Superman. Zum Glück kann das Monster, das immer wieder versucht, mir mein Herz herauszureißen, nicht meine Träume nehmen. Am Ende sind die schönen Träume nämlich alles, was einem bleibt, um nicht die Hoffnung zu verlieren.

Als die Testergebnisse kamen, sprach Mama lange mit dem Oberarzt, und es stellte sich heraus, dass ich doch keine Lungenentzündung, sondern eine lebensgefährliche Überdosierung meines Herzmittels bekommen hatte. Ich verstand das nicht. Mein Hausarzt hatte doch gesagt, dass ich an einer akuten Lungenentzündung erkrankt sei, weswegen ich ja dieses Antibiotikum nehmen musste. Wie konnte eine Lungenentzündung einfach so über Nacht verschwinden? Der Oberarzt sagte nicht die Wahrheit. Ich achte immer ganz genau darauf, was ich einnehme. Ich hasse sie und würde auf gar keinen Fall eine Tablette zu viel schlucken. Das versuchte ich auch dem Arzt zu erklären, aber der hörte mir gar nicht richtig zu und nickte nur mit seinem Kopf, als ob ich dumm und bescheuert wäre. Und wie er mit Mama redete, ganz gemein und hochnäsig. Solche Menschen mag ich nicht. Er beschuldigte sie, meine Medikamente durcheinander gebracht zu haben und dass ich mein Herzmittel, das ich schon seit meiner Geburt nehme, ab sofort nicht mehr nehmen dürfe. Als Mama sagte, dass sie das nicht machen würde, stritten sie noch mehr. Ich schaltete den Ton vom Fernseher an, weil ich sah, dass Duck Tales lief. Als der Arzt endlich weg war, rief Mama sofort Lars an, um ihm davon erzählen. Mama war auf hundertachtzig. Ich war zwar immer noch etwas traurig, weil der Arzt so gemein zu Mama war, aber dafür kam Papa jetzt mit dem Auto vorbei, um uns abzuholen. Es gab nämlich auch eine gute Nachricht: Ich durfte wieder nach Hause. Die Reise nach Berlin war gerettet. Also, falls in den nächsten fünf Tagen nichts mehr mit mir passierte.

Zu Hause angekommen, hockte ich mich im Wohnzimmer sofort vor das Sofa und spielte auf der Wii. Papa hatte mir zur Feier des Tages ein Bierglas vom FC Bayern München geschenkt, und ich durfte ein alkoholfreies Bier trinken. Meine Lunge tat immer noch weh. Ich gab mir Mühe, die Schmerzen zu ignorieren, was auch ziemlich gut klappte, weil ich ja wieder ein Ziel vor Augen hatte. Ich rief Lars an.

»Rate mal, aus was für einem Glas ich mein Bier trinke?«

»Hmm, weiß nicht«, überlegte er.

»Rate halt.«

»Glas oder Tasse?«

»Glas.«

»Keine Ahnung.«

»Aus einem FC-Bayern-Glas. Hat mir Papa geschenkt.«

»Hey, wie cool. Tut gut wieder zu Hause zu sein, was?«

»Und wie!«

»Guck mal, Daniel. So schnell kann sich das Blatt wenden. Gestern Abend hast du noch befürchtet, du müsstest bis nächste Woche im Krankenhaus bleiben. Und heute trinkst du Bier aus einem geilen FC-Bayern-Glas, zockst Wii und schläfst später in deinem eigenen Bett ein. So ist das Leben, man weiß nie, was als Nächstes passiert.«

»Ja, das weiß man wirklich nicht.«

»Ein alter Mann hat einmal zu mir gesagt: Nur wer an Wunder glaubt, dem widerfahren auch Wunder. Verstehst du?«

»Nee.«

»Das bedeutet, dass alles möglich ist, wenn man daran glaubt.«

»Was?«

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Wie?«

»Daniel?«

»Tschuldige, aber ich schaue gerade auf den Bildschirm. Lass uns später telefonieren. Ich muss dieses Level jetzt schaffen.«

»Haha, aber du hast mich doch angerufen. Schon vergessen?«

»Was?«

Dann legte Lars auf. Papa saß auf seinem Platz und spielte gegen Mama Monsterworld. Mama saß auch auf ihrem Platz. Sina lag zwischen den beiden auf dem Sofa und spielte mit sich selbst. Rocky versteckte sich im Schlafzimmer. Alles war wie immer.


Am Abend sahen wir zusammen die Nachrichten, und plötzlich war nichts mehr wie immer. In einer kleinen Stadt in Amerika namens Newtown war etwas Schlimmes geschehen. Ein böser Mann hatte in einer Grundschule sechsundzwanzig Menschen mit einem Gewehr erschossen. Und von diesen sechsundzwanzig Menschen waren zwanzig noch Kinder. Mir wurde kalt, und ich bekam Angst. Sie zeigten viele weinende Kinder, die überall Blut im Gesicht hatten, und weinende Eltern, die vor der Schule auf ihre Kinder warteten. Der Nachrichtensprecher sagte, dass diese Eltern zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass ihre Kinder schon längst tot waren. Ich fragte mich, wie sich das wohl anfühlte. Bestimmt war es das schlimmste Gefühl von allen Gefühlen. Genauso wie die Liebe das schönste Gefühl von allen Gefühlen ist.

»Mama?«, fragte ich mit zittriger Stimme.

»Ja, mein Engel?«

»Warum tut ein Mensch so etwas? Nächste Woche ist doch Weihnachten.«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Es ist so schlimm.«

Dann schnäuzte sie in ein Taschentuch.

»Du hast doch mal gesagt, dass nichts auf Welt ohne Grund passiert. Das verstehe ich nicht. Was für einen Sinn hat es, dass diese Kinder jetzt tot sind? Die haben doch nichts Böses gemacht, oder?«

Jetzt fing sie richtig an zu weinen. Wenn meine Mama erst einmal damit anfängt, ist sie nicht mehr zu bremsen. Papa spielte sein Computerspiel. Da ich immer noch Angst hatte, legte ich mich in ihren Schoß, um zu kuscheln. Dann sagte der Mann im Fernsehen, dass der Amokläufer (das war der böse Mann) nicht nur die vielen Kinder, sondern auch noch seine Mutter erschossen hatte. Ich versuchte mir das vorzustellen, aber es ging nicht. Ich würde meine Mama niemals erschießen. Ich habe doch sonst niemanden. Da wäre ich ja schön blöd.

Als die Nachrichten vorbei waren, ging ich in die Küche und stellte mich neben die Mülleimer ans Fenster. Es war schon dunkel draußen, aber durch die Beleuchtung konnte man noch ein bisschen was erkennen. Ich war traurig und glücklich auf einmal. Traurig, wegen den toten Kindern; glücklich, weil mein Bruder gleich kommen würde. Lars kam nämlich immer freitags und heute war ja Freitag. Auf dem Weg, der von unserem Haus zur Straße führt, lag überall Laub und Schmutz. Der Schnee begann zu tauen, und der Hausmeister hatte noch nicht sauber gemacht. Drüben bei Britta brannte noch Licht, aber es war ja auch noch keine Schlafenszeit. Ich weiß nicht, wie lange ich am Fenster stand, aber als Sina kam, um von ihrem Wassernapf zu trinken, nahm ich sie hoch und streichelte über ihr Fell. Dann schauten wir gemeinsam nach draußen.

»Was machst du da?«, hörte ich Mama hinter mir.

»Ich warte auf Lars«, sagte ich. »Wir haben doch Freitag.«

»Aber Lars kommt heute nicht, Daniel. Ihr habt doch vorhin erst telefoniert. Weißt du nicht mehr?«

Ich erinnerte mich. Lars hatte erzählt, dass er krank im Bett liegt. Er fragte mich sogar, wie das Medikament hieße, das Mama ihm empfohlen hatte, und ich antwortete: Contramutan D.

»Lars kommt heute nicht, weil wir doch nächste Woche zu ihm nach Berlin fahren.«

Jetzt war ich aus drei Gründen traurig:

  1. Wegen den toten Kindern
  2. Weil Lars krank ist
  3. Weil Lars heute nicht kommt

Ich vermisste ihn so sehr. Er war jetzt schon zwei Wochen nicht hier. Hoffentlich lässt er mich nicht im Stich, dachte ich. Als ich Mama von meinen Sorgen erzählte, beruhigte sie mich sofort wieder und sagte, dass wir doch jeden Tag mehrmals miteinander telefonieren würden, entweder mit dem Handy, auf dem Festnetz oder über Skype, und auf einen Schlag war das Gefühl schon nicht mehr so schlimm. Es ist gut, wenn man jemanden hat, der einen in traurigen Momenten an die schönen Dinge erinnert. Von selbst kommt man ja nicht drauf.

Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen
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