30
»Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit wie ein Freund ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, weil er niemals wiederkommt. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben.«
»Häh?«
»Ich habe dir vorgelesen, was ich gerade lese, kurz vor deinem Anruf.«
»Und von wem ist das?«, fragte ich.
»Jean-Luc Picard«, antwortete Lars.
»Wer?«
»Jean-Luc Picard«, wiederholte er lachend. »Du weißt schon, der Kapitän vom Raumschiff Enterprise. Kennst du das?«
»Kenne ich«, sagte ich. »Würde mich jetzt gerne zu dir beamen.«
»Ich weiß, aber morgen ist es doch soweit. Nur noch einmal schlafen. Aufgeregt?«
»Und wie!«
»Koffer sind gepackt?«
»Schon längst, was glaubst du denn?«
»Ich sag ja gar nichts mehr.«
»Du?«
»Hmm.«
»Du kennst doch Anna, oder?«
»Deine Puppe?«
»Ja.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Lars.
»Ich habe ihr heute die Haare geschnitten. Ganz kurz. Sieht aber trotzdem schön aus.«
»So wie Miley Cyrus?«
»Spinnst du? Doch nicht so kurz. Ich war ein bisschen aufgeregt, weil ich einem Mädchen noch nie die Haare geschnitten hatte, aber es war gar nicht schwer.«
»Hat es Spaß gemacht?«
»Und wie«, sagte ich.
»Nur darauf kommt es an, mein Kleiner.«
»Anna hat sich auch im Spiegel angeguckt und war zufrieden mit meiner Arbeit. Sie musste auch gar nichts bezahlen. Ich habe das umsonst gemacht.«
»Oh, wie nett von dir«, lachte Lars.
Ich nahm Anna in den Arm, streichelte ihr über den Kopf und gab ihr einen Kuss.
»Bruderherz, darf ich dich was fragen?«
»Let’s go!«
»Willst du Annas Patenonkel werden?«
»Bitte?«
»Willst du Annas Patenonkel werden?«
»Für deine Puppe?«
»Ja. Sie gehört doch zur Familie.«
»Klar, mach ich.«
»Okay, gut. Weil, also, wenn ich eines Tages mal keine Zeit mehr habe für sie, wenn ich, hmm, Hausaufgaben machen muss oder andere Sachen passieren, dann braucht sie jemanden, der sich um sie kümmert und sie lieb hat. Und bei dir würde es ihr gut gehen. Das hat sie selbst zu mir gesagt.«
»Wow!«
»Ja, Anna konnte letzte Nacht nicht schlafen. Sie hat ja ihren eigenen Bereich in meinem Bett, direkt neben meinem Schaf. Dort mag sie es am liebsten. Sie hat den Fernseher eingeschaltet, wovon ich wach wurde. Weißt du, sie hat manchmal Angst, wenn es Nacht wird. So wie ich. Aber dann sind wir füreinander da. Anna ist jetzt vier. Am 9. März hat sie Geburtstag. Dann wird sie fünf. Das musst du dir gut merken. Sie mag es nämlich nicht, wenn man ihren Geburtstag vergisst.«
»Alles klar«, sagte Lars leise. »Noch irgendwas, worauf ich achten soll?«
Ich überlegte. Dann sagte ich: »Eigentlich nicht. Du musst sie halt liebhaben.«
»Das verspreche ich dir.«
»Danke.«
»Sag mal«, begann Lars nach einer kurzen Pause. »Denkst du im Moment oft darüber nach, bald vielleicht keine Zeit mehr für Anna zu haben?«
»Ja«, sagte ich sofort.
»Wollen wir darüber reden?«, fragte Lars, und ich antwortete: »Weiß nicht.«
Dann sagte Lars nichts mehr und ich auch nicht. Anna und ich wurden müde. Am nächsten Morgen ging es nach Berlin. Dafür musste ich ausgeruht sein.
»Gute Nacht, Bruderherz.«
»Gute Nacht, Kleiner.«
Natürlich brachte Anna kein Auge zu, und ich blieb, wie es sich für einen echten Freund gehört, mit ihr wach. Aber dann schliefen wir, ohne es zu merken, doch ein, denn als ich wieder aufwachte, war es schon Morgen, und das große Abenteuer konnte endlich beginnen.