3
Der nächste Tag begann, wie ich mich fühlte – es regnete in Strömen. Als ich aufstand, waren die Schmerzen noch halbwegs erträglich, und weil mich Lars heute wieder in die Schule begleitete, wollte ich vor ihm keine Schwäche zeigen. In den ersten drei Unterrichtsstunden hielt ich es noch aus, aber als Frau Sommer sagte, dass wir einen Lernausflug in die Stadtbücherei machen würden, hatte ich eine üble Vorahnung. Ich biss trotzdem auf die Zähne. Ich saß mit Lars auf dem Sofa, und Frau Sommer kniete sich vor mich.
»Wie geht es dir Daniel?«, fragte sie.
»Es geht so.«
»Du bist ein bisschen blass. Hast du deine Tabletten heute schon genommen?«
»Nein.«
»Soll ich sie dir bringen?«
»Nein. Mir war heute Morgen schlecht, und wenn mir schlecht ist, krieg ich die Dinger nicht runter. Es sind ja so viele. Ich nehme sie dann vor dem Mittagessen.«
»Okay, du kennst deinen Körper besser als ich. Möchtest du mit in die Bibliothek, oder willst du lieber hierbleiben und dich ausruhen? Lars leistet dir bestimmt Gesellschaft, damit du nicht so alleine bist.« Lars legte seinen Arm um mich und nickte.
»Wer kommt denn alles mit?«
Frau Sommer überlegte und sagte: »Frau Himmelreich, ich, Francisca, Lars und du.«
Ich dachte nach. Francisca würde mit dem Rolli fahren, weil sie ja nicht mehr gehen kann. Sie war ganz in Ordnung, und Frau Himmelreich mochte ich auch. In der Bibliothek fühlte ich mich immer wohl, also wollte ich es versuchen.
»Frau Sommer, also, ich möchte gerne mit. Aber mit Rollstuhl. Heute brauche ich ihn.«
»Super«, freute sich meine Lehrerin. »Das finde ich ganz toll, Daniel. Wirklich schön, dass du uns begleitest.«
Lars klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Alter, du bist ein echter Kämpfer. Sehr gut! Und weißt du was? Wenn dir die Kraft ausgeht, sagst du einfach Bescheid, und wir drehen wieder um, pflanzen uns hier aufs Sofa und chillen ab. Alles klar?«
Lars schob mich durch den Regen zur Bushaltestelle. Wir mussten zehn Minuten warten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich beim Busfahrer ein eigenes Ticket kaufen musste. Frau Sommer war ja dieses Mal meine offizielle Begleitung. Zum Glück hatte er genug Geld dabei. Während der Fahrt, die nicht lange dauerte, zehn Minuten oder so, ging es mir immer schlechter. Und ich wurde kreidebleich. Als wir an unserer Haltestelle ankamen, kontrollierte Frau Sommer sofort meine Sauerstoffwerte. Sie lagen zwar noch im grünen Bereich, aber meine Lehrerin wollte kein Risiko eingehen und schlug vor, mit Lars und mir wieder zur Schule zurückzufahren. Frau Himmelreich und Francisca gingen dann ohne uns in die Bibliothek, und ich wurde etwas traurig, weil ich zum ersten Mal vor Lars versagt hatte.
Wir warteten kurz, bis der richtige Bus kam, und meine Lehrerin drückte auf den Summer, aber die Busfahrerin blieb einfach sitzen. Sie war sehr unfreundlich zu uns und rief uns irgendwas zu, was aber niemand verstehen konnte. Normalerweise hätte sie aufstehen müssen, um die Rollstuhlrampe an der hinteren Tür, die ja extra für behinderte Menschen da ist, für mich herunterzuklappen. Da sie uns aber nicht helfen wollte, klappte Lars schließlich die Rampe herunter, und Frau Sommer schob mich in den Bus. Lars war völlig entsetzt, weil von den anderen Fahrgästen auch niemand helfen wollte. Sie glotzten uns nur blöd an, machten aber nichts. Frau Sommer winkte ab und sagte, dass sei leider eine Situation, die ständig passiere. Wir Kinder hätten uns daran gewöhnt, weil uns ja nichts anderes übrigbliebe.
Lars machte einen Schritt auf mich zu und legte seine Hand auf meine Schulter. Ich sah, wie traurig ihn das gerade machte. Also ich helfe immer allen Menschen, wenn ich sehe, dass jemand Hilfe braucht. Wenn zum Beispiel eine alte Omi in den Bus steigt oder eine schwangere Frau, dann stehe ich sofort auf, um ihnen meinen Platz anzubieten. Das hat mir meine Mama beigebracht, und das gehört sich auch so. Ich bin nämlich ein Gentleman.
Dann stieg ein schlechtgelaunter Mann in den Bus und meckerte herum, weil er sich beim Vorbeigehen am Griff meines Rollstuhles gestoßen hatte. Ich konnte ihn nur aus dem Augenwinkel sehen, weil ich mit dem Rücken zu ihm saß, aber ich hatte den kurzen Ruck gespürt. Dann machte Lars etwas, das ich niemals vergessen werde. »Ey du, Arschloch«, sprach er ihn so laut an, dass sich einige der anderen Fahrgäste zu ihm umdrehten. »Wenn du meinem Jungen etwas zu sagen hast«, jetzt zeigte er mit der Hand auf mich, »dann mach das so, dass wir das alle verstehen können. Na, was ist?«
Für einen kurzen Moment wurde es mucksmäuschenstill im Bus. Frau Sommer machte richtig große Augen. Das gefiel mir sehr.
»Sorry, war nicht so gemeint«, entschuldigte sich der andere Mann bei Lars, aber er meinte, dass er sich nicht bei ihm, sondern bei mir entschuldigen solle.
Der Mann hob kurz seine Hand und nickte, und ich sagte zu ihm: »Danke für die Entschuldigung. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« Ich glaube, meine Lehrerin fand es cool, dass Lars sich so für uns eingesetzt hat, obwohl ich erst etwas Bedenken wegen dem »Arschloch« hatte. Wir dürfen in der Schule nämlich keine Schimpfwörter benutzen. Aber wir waren ja noch nicht auf dem Schulgelände, also machte sie wohl eine Ausnahme.
Ich parkte meinen Rollstuhl rechts vom Eingang, ging mit Lars ganz langsam in mein leeres Klassenzimmer zurück und legte mich aufs Sofa. Lars kraulte meinen Kopf, weil mich das immer beruhigt.
»Was hast du nachher noch für Stunden?«, fragte er nach einer Weile.
»Recycling. Doppelstunde«, sagte ich.
»Was’n das?«
»Wir nehmen Material, das eigentlich auf dem Müll landet und basteln dann daraus etwas Neues.«
»Ah cool, so ähnlich wie Kunstunterricht.«
»Kann sein.«
»Hast du schon mal was von Pablo Picasso gehört?«
»Nein.«
»Picasso war ein ganz berühmter spanischer Maler, vielleicht der bekannteste, der jemals gelebt hat. Von ihm stammt einer meiner Lieblingssätze: Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.«
»Was bedeutet das?«, fragte ich.
»Das bedeutet, dass du die Erwachsenen alle in die Tonne klopfen kannst. Ganz ehrlich, aber das hast du nicht von mir, okay?«
»Okay.«
»Die meisten Erwachsenen haben nur Müll in ihren Köpfen. Aber als Kind, als Kind hast du noch einen unverfälschten Blick auf die Welt. Du bist noch nicht so abgefuckt, wie zum Beispiel dieser Penner aus dem Bus eben.«
»Ja, der war echt doof.«
»Ein Wichser war das.«
Ich musste grinsen, weil Lars jetzt schon zwei verbotene Ausdrücke gesagt hatte. Am liebsten hätte ich Mama angerufen, um es ihr zu erzählen, aber wir dürfen in der Schule keine Handys benutzen.
Nach ein paar Minuten sprang Lars plötzlich vom Sofa auf, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich mit der Lehne nach vorne vor mich und fuchtelte mit seinen Armen wild durch die Luft: »Alter, ich muss dir unbedingt diese Geschichte erzählen. Sie passt gerade hierher, wie, wie, wie, verdammt, wie heißt das noch gleich, ah ja, der berühmte Deckel auf den Topf.«
»Hahahaha.«
»Bist du bereit, kleiner Prinz?«
»Und wie!«
Mir ging es schon besser. Ich hatte zwar immer noch Herzstechen und fühlte mich wie ein Flaschengeist, aber hier auf dem Sofa zu liegen und neue Kraft zu sammeln tat mir gut. Ich schloss die Augen, genau wie gestern, als wir im ELBE-Einkaufszentrum waren, und atmete langsam ein und aus. Ein. Und. Aus.
»Es gab einmal einen Jungen, der spielte in einem Krippenspiel seiner Schule mit. Er war sechs Jahre alt und ging in die erste Klasse. Die Aufführung der Weihnachtsgeschichte war eine große Sache im Dorf, und alle Eltern versammelten sich voller Vorfreude in der Turnhalle, um sie sich anzusehen. Der Junge spielte einen der drei heiligen Könige. Als sie an der Reihe waren, betraten sie mit ihren Geschirrtüchern um den Kopf gewickelt den Stall und stellten ihre Geschenke auf den Boden. Der erste Junge sagte: Ich bringe dir Gold! Der zweite Junge sagte: Ich bringe dir Weihrauch. Doch der dritte Junge, der jüngste von allen, machte sich einen Spaß und sagte: Frank hat dir das geschickt!«
Lars machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Shit, an der Stelle hättest du eigentlich lachen müssen, aber ich Trottel hab total vergessen, dass du noch viel zu jung bist, um den Paten zu kennen.«
»Wen soll ich kennen?«, fragte ich.
»Siehst du! O Mann, ich Depp! Aber okay, das macht nichts. Ich kann die Geschichte auch so zu Ende erzählen. Pass auf: Das Publikum krümmte sich vor Lachen – außer natürlich der Lehrer, der das Stück einstudiert hatte. Der fand es gar nicht komisch, dass sich einer seiner Schüler nicht an den Text hielt. Am Ende der Veranstaltung war der Junge der Star des Abends, und noch Monate später redeten die Menschen über dieses Krippenspiel. Kannst du dir vorstellen, was ich dir damit sagen möchte?«
Ich verstand seine Frage nicht und seine Geschichte auch nicht, also sagte ich: »Nein.«
»Okay«, sagte Lars und klopfte mir sachte gegen mein rechtes Bein. »Wir haben doch eben über den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gesprochen. Du weißt schon, dass die Erwachsenen nur Müll im Kopf haben und so.«
Ich nickte, weil ich das gut nachvollziehen konnte. Ich verstehe so vieles von dem, was sie sagen, einfach nicht. Sie reden und reden, und bei mir kommen nur Blubberbläschen an. Na gut, von dem Zeug, was Lars so von sich gab, kapierte ich auch nicht alles, aber mit ihm war es irgendwie anders. Bei ihm war alles so leicht und unkompliziert. Als ich ein Eis wollte, bekam ich ein Eis, und es wurde nicht ewig diskutiert, bis ich keine Lust mehr auf Eis hatte.
»Kinder, wie dieser kleine Junge aus meiner Geschichte oder wie du, haben keine Angst, etwas falsch zu machen«, sagte Lars jetzt weiter. Er sah dabei über mich hinweg aus dem Fenster. »Ihnen ist es nämlich völlig Banane, welche Auswirkungen ihr Handeln haben könnte. Sie haben eine Idee, und machen es einfach. Und genau deswegen haben sie auch so viel Spaß dabei. Für sie zählt nur der Moment. Keine Sorgen. Nur das Jetzt. Aber dann, wenn diese Kinder erwachsen werden, geraten sie in einen magischen Strudel der Finsternis, voller Zweifel und Ängste, und sie verlieren die Fähigkeit, die Welt mit offenen Augen zu sehen.«
»Du hörst dich an wie ein Märchenerzähler«, grinste ich ihn an.
»Wer weiß, vielleicht befinden wir uns ja schon mitten in einem Märchen, mit dir als kleinem Prinzen und mir als altem Zauberer, der am Krückstock geht.«
»Hahaha.«
»Daniel, hör mal«, sagte Lars und senkte seine Stimme und sah mir dabei tief in die Augen.
»Der Junge, der beim Krippenspiel aus der Reihe getanzt ist, war anders als die anderen, und genau deswegen erinnert sich auch heute noch jemand an ihn. Ich glaube, du bist auch so ein besonderer Junge.«
»Ehrlich?«, fragte ich erstaunt und dachte: Was zum Graureiher soll an mir schon besonders sein? Ich kann doch gar nichts.
»Aber was mache ich denn?«
»Wenn ich dich so beobachte, wie du zu anderen Menschen bist … Die Erwachsenen beklagen sich ständig über alles Mögliche, machen sich fertig wegen nichts und wieder nichts, und du wünschst dem Idioten aus dem Bus einen schönen Tag und meinst es auch noch ehrlich. Weißt du, was du bist? Ein Wunder.«
»Nein, Lars«, protestierte ich. »Ein Wunder wäre es, wenn der liebe Gott mich gesund machen würde. Aber ich weiß ja, dass das nicht passiert. Ist nicht so wild. Gibt Schlimmeres.«
»Ja, was denn?« Mir fiel spontan nichts ein, also musste ich überlegen, aber Lars winkte mit der Hand, was bedeutete, dass ich mir ruhig Zeit lassen sollte. Als ich etwas in meinem Kopf gefunden hatte, sagte ich: »Wenn du, also ich meine, wenn du beim Essen nichts schmecken könntest. Mein Lieblingsgericht von allen Lieblingsgerichten ist Spaghetti carbonara. Hmm, das ist so lecker, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Also, wenn ich mir jetzt vorstelle, dass jemand eine schlimme Krankheit hat, der … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.«
»Du meinst, wenn jemand keinen Geschmackssinn besitzt, für den alles nach Pappe schmecken würde.«
»Ja, genau so. Ey, das wäre ja mal richtig scheiße!«
Wir alberten ein wenig herum, und dann nahm Lars meine Hand und sagte: »Daniel. Hör mal, deine Sorgen kann ich dir nicht nehmen, niemand kann das – außer der liebe Gott vielleicht, aber vielleicht kann ich dir helfen, ein bisschen Spaß zu haben.«
»Okay«, sagte ich, und augenblicklich schossen mir Bilder vom Fahrradfahren im Sommer durch den Kopf. Das waren früher oft die schönsten Momente, weil ich mich dabei frei fühlte, wie die Kinder aus Vorstadtkrokodile. Ich hatte ja nie so eine Bande, die gemeinsam durch dick und dünn geht, weil ich dafür immer zu schwach war.
»Und weil ich weiß, dass du die Sachen, die so richtig viel Spaß machen, nicht tun darfst, jedenfalls nicht alleine, bin ich ab sofort für dich da. Keine Lehrer, keine Eltern, keine Krankenschwestern. Nur wir zwei.«
»Überhaupt keine Aufpasser?« Ich fragte lieber nach, nicht dass ich etwas falsch verstand und mich umsonst freute. Das ist mir nämlich ein paar Mal passiert und danach war ich ganz traurig.
Lars lachte aber schon und sagte: »Nur wir zwei.«
»Also, das wäre schön.« Meine Gedanken drehten sich und sausten wie auf einer riesigen Achterbahn durch die Luft. Auch so eine Sache, die ich wegen meinen Eisenstäben im Rücken nicht machen darf. Aber das war mir in diesem Augenblick egal – wirklich egal. Ich konnte es kaum glauben, es fühlte sich wie träumen an. Sofort überlegte ich, was wir alles erleben könnten, aber mir fiel vor lauter Aufregung keine einzige Sache ein.
»Aber, aber, aber was wollen wir denn machen?«, fragte ich hektisch und hoffte, dass Lars schon eine erste gute Idee hatte.
»Alles, was du willst.«
»Echt, alles?«
»Ja.«
»Wie geil ist das denn?« Mein Herz schlug schneller, aber auf die gute Weise, und ich war so überwältigt, dass ich gar nichts mehr sagen konnte. Lars legte sich neben mich und kraulte meinen Kopf. Wir grinsten nur und schwiegen um die Wette, und es war ein kleines bisschen so, als ob die Zeit für uns stehenblieb.