Hallo du!

Mein Name ist Daniel. Ich bin fünfzehn Jahre alt und gehe in die achte Klasse. In Hamburg, wo ich wohne, haben gerade die Herbstferien begonnen. Wahrscheinlich bin ich der einzige Junge aus meiner Schule, der sich nicht so richtig darüber freuen kann. Es gibt zwar schönere Orte als die Schule, aber dort bin ich wenigstens nicht einsam. Einsamkeit ist das Schlimmste. Ich mag auch meine Klassenlehrerin, weil sie mir immer erlaubt, mich aufs Sofa zu legen, wenn ich mal wieder Sterne sehe. Das passiert ziemlich oft, weswegen mich die anderen Kinder nicht leiden können. Sie würden sich nämlich auch lieber auf den bequemen Kissen ausruhen und aus dem Fenster in den Himmel gucken, als schwierige Matheaufgaben zu lösen. Aber ich mache das nicht absichtlich. Manchmal falle ich einfach so um. Wenn ich rechtzeitig merke, dass mir schwindelig wird, lege ich mich hin, und dann wird alles wieder gut.

Ich habe nicht viele Freunde, eigentlich gar keine. Ich tue immer so, als würde mir das nichts ausmachen, aber einen besten Freund zu haben, das wäre schon schön. Einen, mit dem man alles bequatschen kann. Wenn die anderen Kinder in der großen Pause in den Aufenthaltsraum gehen, um zu kickern oder zu toben, bleibe ich lieber im Klassenzimmer. Da fühle ich mich sicher und habe meine Ruhe. Da ärgert mich keiner. Einmal, als ich unter einem der großen Kissen auf dem Sofa lag, bekam ich mit, wie sich zwei Lehrer über mich unterhielten. Einige Eltern meiner Mitschüler hätten sich beim Direktor darüber beschwert, dass ich oft eine Sonderbehandlung bekäme. Das fänden sie ungerecht. Ich würde diesen Eltern gerne sagen, dass ich auch vieles ungerecht finde, aber ich bin ja nur ein Kind. Nein, ich sage lieber nichts. Diese Eltern haben bestimmt auch viele Probleme und Sorgen, wie meine Mama, und meinen es sicher nicht so. Ich bin nicht böse auf sie, weil sich das im Herzen nicht gut anfühlt.

Wir haben nicht viel Geld, und deshalb muss mein Papa ganz viel arbeiten. Eigentlich ist er mein Stiefvater, aber ich nenne ihn Papa, weil er bei uns wohnt und meine Mama und mich lieb hat. Er baut riesige Kräne und Schiffsruder in einer Werft unten am Hafen. Ich bin sehr stolz auf ihn, weil das eine coole Arbeit ist, mit großen dampfenden Maschinen, die richtig viel Lärm machen und so. Wenn ich nach der Schule vom Hospiz-Krankenwagen abgeholt werde, schmiert Mama belegte Brötchen in einem Café, das direkt neben unserem Friedhof liegt. Die meisten Gäste, die Mama dann bedient, kommen direkt von einer Beerdigung und sind traurig, aber ihr gefällt es dort, weil sie ihre schwarzen Klamotten tragen kann. Schwarz ist nämlich Mamas Lieblingsfarbe. Meine ist blau. Wie das Meer. Wenn ich tot bin, möchte ich an der Ostsee beigesetzt werden. Es ist so friedlich dort. Wie im Himmel. Der ist auch blau.

Mein Sternzeichen ist Fisch, aber ich habe nicht genug Kraft, um lange zu schwimmen. Ich schaffe zwei Minuten. So geht es mir bei fast allem. Wenn ich andere Kinder in meinem Alter sehe, die am Strand mit ihren Hunden herumtollen, dann würde ich so gerne mitspielen, aber ich darf nicht. Mama hat immer Angst, dass mein Herz dann aufhört zu schlagen. Dieses bescheuerte Herz! Aber bald ist es vorbei. Ich habe schon einen Organspendeausweis und alles, was in meinem Körper nach meinem Tod noch funktioniert (ich glaube, das ist nicht viel), soll einem anderen Kind helfen, vielleicht sogar sein Leben retten. Mama ist oft traurig deswegen. Sie nimmt mich dann in den Arm und sagt, dass es einen guten Grund dafür gibt, warum ich es so schwer habe. Sie glaubt nämlich, dass ich vom lieben Gott auf die Welt geschickt wurde, um anderen Menschen Mut zu machen. Bestimmt kam Ester vom Hospiz deswegen auf die Idee, Lars zu mir zu schicken. Ester und Mama tratschen ja immer so viel. Die reinsten Schnatterweiber.

Ich kann mir das gar nicht vorstellen, aber falls ich damit anderen Kindern wirklich eine Freude bereite – sie meine Geschichte lesen und sich danach nicht mehr so traurig fühlen –, dann wäre das so schön, dass mir kein passendes Wort dafür einfällt. Die Eltern der traurigen Kinder dürfen sie aber auch lesen. Alle dürfen sie lesen. Niemand soll ausgeschlossen werden. Das mag ich nämlich nicht, weil es sich nicht gut anfühlt. Ich habe Lars schon gefragt, ob ich das Buch, wenn es fertig ist, in meiner Klasse verteilen darf, und er hat »ja« gesagt. Jetzt muss ich nur noch durchhalten, aber ich werde es schaffen. Ich muss diese Chance nutzen. Das sage ich auch immer zu ihm, wenn wir unsere Abenteuer erleben, und er sich mal wieder nicht traut, hübsche fremde Mädchen für uns anzusprechen. Man muss einfach jede Chance nutzen, die sich einem bietet. Wirklich jede! Man weiß nämlich nie, wann und ob sie einem ein zweites Mal begegnet.

Hätte mein Herz nur ein bisschen mehr Kraft, oh verdammt, ich würde so viel unternehmen. Bis zur Erschöpfung würde ich alles machen, worauf ich Lust hätte – wirklich ALLES. Ich käme gar nicht mehr zum Schlafen, weil es ja so unendlich viel zu entdecken gäbe. Aber das geht leider nicht. Ich habe vom lieben Gott nun mal dieses Herz bekommen und kein anderes. Er wird sich schon was dabei gedacht haben, wie Mama immer sagt, auch wenn das nur schwer zu verstehen ist, weil ich ja nie böse zu ihm war. Trotzdem versuche ich, das Beste aus meiner Situation zu machen. Es ist schwer, und ich schaffe es nicht immer, aber ich gebe mir Mühe. Ich kämpfe. Jeden Tag. Wie ein Samurai. Mehr kann ich nicht tun.


Eine Sache ist mir besonders wichtig: Sag immer, was du fühlst. Wenn du jemanden lieb hast, tief in deinem Herzen, dann sag ihm, dass du ihn lieb hast. Und zwar jetzt und nicht erst morgen, weil du morgen vielleicht nicht mehr am Leben bist. Du kannst es auch mehrmals sagen. Das macht gar nichts. Am liebsten von allen Menschen auf der ganzen Welt habe ich meine Mama. Sie ist immer für mich da. Für sie schreibe ich dieses Buch. Als Abschiedsgeschenk.


Dein Daniel

Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen
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