21
Um Mitternacht wurde mir plötzlich eiskalt. Ich spürte sofort, dass es sich nicht um den üblichen Schüttelfrost handelte. Es war wieder so weit. Das Monster kam mich besuchen, um mir das Herz herauszureißen. Es tat so weh. Ich lag im Bett und kämpfte dagegen an. Niemand außer mir kann das Monster sehen. Es ist unsichtbar, aber nicht für mich. Ich strampelte und trat mit meinen Füßen nach ihm, griff nach Muh, hielt mich an ihren Hufen fest, aber das Monster war zu stark, die Schmerzen zu groß. Meine Lunge begann zu brennen. Wenn ich einatmete, feuerten tausend Bogenschützen ihre spitzen Giftpfeile auf mich ab. Mein ganzer Körper zitterte. Ich konnte nicht aufstehen, nicht nach Mama rufen. Sie saß im Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Ich war so schwach. Zum Glück lag mein Handy neben dem Kopfkissen. Ich schrieb Mama eine SMS: Bitte ruf den Notarzt. Hab dich lieb.
Dann schlief ich ein. Im Krankenhaus wachte ich wieder auf. Ich wachte nicht richtig auf, sondern dämmerte irgendwie vor mich hin. Es war mitten in der Nacht. Ich konnte fast nichts sehen, weil meine Augen wehtaten, aber ich spürte, dass an meinem linken Arm Schläuche hingen. Ich erkannte ein kleines rotes Herz, das verschwommen blinkte. Mama lag neben mir im Bett. Ich sah sie nicht, aber ich spürte, dass sie da war. Sie war ja immer da. Die Schmerzen wurden wieder schlimmer. Lars hatte mich einmal gefragt: »Was weißt du über Angst?« Ich sah ihn damals an und sagte: »Alles.«
Wo war er nur? Ich brauchte ihn. Das Monster war im Raum. Es war da. Es versteckte sich, aber ich konnte seine Kälte fühlen. Ich erinnerte mich. Lars traf sich mit Freunden, um zu feiern und eine gute Zeit zu haben. Bei dem Gedanken, ihn zu verlieren, zog sich mein Herz zusammen. Mit meinem rechten Fuß stieß ich so fest ich konnte gegen Mamas Beine. Sie drehte sich zu mir, streichelte meinen Kopf und küsste mich. Ich flüsterte ihr ins Ohr: »Bitte, Mama, ruf meinen Bruder an. Ich möchte ihn noch einmal sehen.«
Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, stand eine Krankenschwester vor mir. Sie gab mir eine Schüssel, in die ich spucken konnte. Ich bat sie, die Dosis meiner Schmerzmittel zu erhöhen, aber sie erklärte mir, dass sie das wegen meines schwachen Herzens nicht tun dürfe. Ich krümmte mich vor Schmerzen. Warum musste ich das alles ertragen? Warum konnte es nicht aufhören? Das Monster saß in der Ecke, hob seinen Kopf und lachte mich aus. Dann klopfte es an der Tür. Lars kam herein.
Endlich.
Er stellte seine Tasche ab und kam lächelnd auf mich zu. Ich konnte sein Lächeln nicht erwidern. Es tat zu weh. Ich schaffte es gerade so, Gallensaft in die Schale zu spucken, ohne mich dabei vollzusabbern. Bis zum Mittagessen – es gab Hühnersuppe, die ich nicht anrührte, hatte ich mich vierzehn Mal übergeben. Im Laufe des Tages erholte sich mein Herz wieder einigermaßen. Die Schmerzen waren zwar noch da, aber wenigstens schien sich das Monster vorerst in Luft aufgelöst zu haben. Vielleicht hatte es sich ein anderes Kind von der Krankenstation ausgesucht. Ab und zu kam ein Arzt herein und sprach mit meiner Mama. Lars holte mir eine kalte Bionade vom Kiosk und erzählte mir von der Party der letzten Nacht. Er war schon betrunken, als Mama ihn anrief. Das stellte ich mir lustig vor. Dann spielten wir zu dritt Stadt, Land, Fluss und warteten auf meine Ergebnisse.
Sie konnten den Grund meiner Schmerzen nicht finden. Der Wert eines gesunden Menschen liegt zwischen 0 und 99. Der Wert eines Menschen mit Herzfehler liegt zwischen 100 und 200. Mein Wert lag bei 593. Da die Ärzte mir aber nicht helfen konnten, sagten sie, es würde keinen Unterschied machen, ob ich die Schmerzen im Krankenhaus oder zu Hause hätte, also dürfte ich gehen, wenn ich wollte. Und wie ich wollte: »Alle Mann raus aus dem Todeshaus!«
Mama rief Papa aus dem Taxi an, er solle für uns drei Pizzen in den Ofen schieben. Wir hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen. Die beiden hatten mächtig Kohldampf. Ich nicht.
Lars rückte das Sofa von der Wand vor den Schreibtisch, damit wir in meinem Zimmer zusammen fernsehen konnten. Ich fror immer noch. Mama brachte mir eine Wärmflasche und eine Decke und setzte sich zu Papa und Rocky ins Wohnzimmer. Lars und ich teilten uns eine Pizza, das heißt, ich biss einmal ab, brachte aber nichts herunter. Lars hielt meine Hand, damit ich mich nicht alleine fühlte. Er zappte durch die Programme und fluchte ein bisschen vor sich hin, weil nur Mist kam, aber dann freute er sich und legte die Fernbedienung zur Seite: »Dirty Dancing – genau das Richtige für einen Freitagabend.«
Ich nickte und mummelte mich ein. Aus zwei Gründen sehe ich mir nicht so gerne Spielfilme an. Erstens, weil ich mich nicht lange auf die Handlung konzentrieren kann, und zweitens, weil das echte Leben einfach nicht so schön ist. Okay, Horror- und Actionfilme sind auch nicht schön, aber die schaue ich mir auch nicht an, weil ich sonst Angst bekomme und nicht schlafen kann. Am liebsten sehe ich Berlin – Tag & Nacht. Mein Papa war noch nie in Berlin. Mama schon. Berlin ist die Stadt meiner Träume. Ob ich es jemals dorthin schaffe? Johnny und Baby tanzten gerade durch das Meer, als meine Augen zufielen. Eines wusste ich nach diesem Tag genau: Der Tod ist sicher, das Leben nicht.