36
Prestonpans
Schottland, September 1745
Nach viertägigem Marsch gelangten wir zu einem Berg nahe Calder, vor dem sich ein weites Moor erstreckte. Doch wir schlugen unser Lager im Schutz der weiter oben gelegenen Bäume auf. Zwei Flüßchen durchschnitten den moosbewachsenen Berghang, und das frische frühherbstliche Wetter ließ das Ganze eher wie einen Ausflug ins Grüne als einen Kriegszug erscheinen.
Doch es war der siebzehnte September, und wenn mich mein bruchstückhaftes Wissen über die Geschichte der Jakobiten nicht trog, würde es in wenigen Tagen Krieg geben.
»Erzähl es mir noch einmal, Sassenach«, hatte Jamie zum x-ten Male gebeten, während wir die gewundenen Pfade und die morastigen Wege entlangzogen. Ich ritt auf Donas, Jamie ging zu Fuß neben mir her. Doch jetzt stieg ich ab, um besser mit ihm sprechen zu können. Donas und ich waren zu einer Art gegenseitigem Einvernehmen gelangt, doch es war ein Pferd, das die volle Aufmerksamkeit des Reiters erforderte. Nur allzugern warf er einen unachtsamen Reiter ab, etwa indem er sich unter niedrigen Ästen hindurch einen Weg suchte.
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich nicht allzuviel darüber weiß«, erwiderte ich. »Die Geschichtsbücher geben nur spärlich Auskunft, und früher habe ich diesen Ereignissen keine große Beachtung geschenkt. Ich kann dir nur sagen, daß es zur Schlacht kam - äh, kommen wird -, und zwar in der Nähe der Stadt Preston. Darum wird sie auch die Schlacht von Prestonpans genannt.«
»Aye. Und weiter?«
Angestrengt versuchte ich, mich an weitere Einzelheiten zu erinnern. Ich sah das kleine, zerfetzte braune Exemplar der Geschichte Englands für Kinder deutlich vor mir, das ich beim flackernden Licht einer Kerosinlaterne in einer Lehmhütte irgendwo in Persien gelesen hatte. Obwohl ich im Geist Seite für Seite umblätterte, konnte ich mich lediglich an jene Doppelseite erinnern, die der Verfasser dem Zweiten Jakobitenaufstand gewidmet hatte. Und auf diesen beiden Seiten an den Abschnitt über die Schlacht, die uns bevorstand.
»Die Schotten gewinnen«, sagte ich, um hilfreiche Auskunft bemüht.
»Darauf kommt es an«, bemerkte Jamie leicht sarkastisch, »aber es wäre nützlich, etwas mehr zu wissen.«
»Wenn du einen Propheten brauchst, hättest du jemand anderen fragen müssen«, fuhr ich ihn an, fügte dann aber versöhnlich hinzu: »Tut mir leid. Ich weiß einfach nicht viel, und das ist sehr frustrierend.«
»Aye, das ist es.« Er griff nach meiner Hand und drückte sie lächelnd. »Reg dich nicht auf, Sassenach. Du kannst nicht mehr sagen, als du weißt. Trotzdem, erzähle es mir bitte noch einmal.«
»Also gut.« Hand in Hand setzten wir unseren Weg fort. »Es war ein beachtlicher Sieg«, begann ich aus der Erinnerung zu zitieren, »denn die Jakobiten waren den Gegnern zahlenmäßig weit unterlegen. Sie überraschten General Copes Armee im Morgengrauen - sie hatten die aufgehende Sonne im Rücken, daran erinnere ich mich genau -, und die Schlacht bedeutete eine große Niederlage für den Gegner. Es gab Hunderte von Toten auf seiten der Engländer; die siegreichen Jakobiten hatten nur dreißig Opfer zu beklagen. Nur dreißig Tote.«
Jamie drehte sich zu den Männern von Lallybroch um, die uns plaudernd und singend folgten. Wir hatten dreißig Männer aus Lallybroch mitgenommen, und wenn man sie so ansah, schien der Trupp recht stattlich. Aber ich hatte die Schlachtfelder von Elsaß-Lothringen gesehen und die Wiesen, die sich in Friedhöfe verwandelt hatten, auf denen Tausende und Abertausende begraben waren.
»Alles in allem«, fuhr ich entschuldigend fort, »war es wohl ein eher... unbedeutendes Ereignis, vom historischen Standpunkt aus betrachtet.«
Jamie schürzte die Lippen und atmete hörbar aus. Dabei sah er mich traurig an.
»Unwichtig. Nun ja,.«
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Das ist nicht deine Schuld, Sassenach.«
Aber irgendwie fühlte ich mich doch schuldig.
 
Nach dem Abendessen saßen die Männer satt und träge um das Feuer, erzählten sich Geschichten und kratzten sich. Das Kratzen war zu einer verbreiteten Unart geworden; durch die beengten Unterkünfte und die mangelnden Waschmöglichkeiten hatten sich die Läuse so stark vermehrt, daß es niemanden wunderte, wenn ein Mann ein Exemplar dieser Gattung aus einer Falte seines Plaids herauspickte und ins Feuer warf.
Der junge Mann, der Kincaid genannt wurde - eigentlich hieß er Alexander, aber dieser Name war so weit verbreitet, daß die meisten bei ihrem Spitznamen oder zweiten Vornamen gerufen wurden -, schien an jenem Abend ganz besonders von Läusen geplagt zu werden. Er kratzte sich heftig unter den Armen, in den lockigen braunen Haaren und schließlich - mit einem flüchtigen Blick auf mich, um sich zu vergewissern, daß ich nicht in seine Richtung sah - zwischen den Beinen.
»Dich piesacken sie aber ganz schön, mein Junge«, bemerkte Ross, der Schmied, mitfühlend.
»Aye«, nickte der Angesprochene, »diese verfluchten Biester fressen mich noch bei lebendigem Leib auf.«
»Scheinen sich in deinem Pelz verdammt wohlzufühlen«, meinte Wallace Fraser, der sich aus Freundschaft gleich mitkratzte.
»Weißt du, wie man die Viecher am besten wieder loswird?« fragte Sorley McClure hilfsbereit. Als Kincaid den Kopf schüttelte, beugte er sich nach vorne und zog vorsichtig ein brennendes Holzscheit aus dem Feuer.
»Heb deinen Kilt hoch, und ich räuchere sie aus«, erbot er sich unter dem johlenden Gelächter der Männer.
»Alter Bauer«, murmelte Murtaghs. »Kannst doch gar nicht mitreden.«
»Kennst du denn einen besseren Weg? Wallace runzelte fragend die sonnengebräunte Stirn.
»Aber klar.« Schwungvoll zog er seinen Dolch. »Der Junge ist jetzt ein Soldat, soll er es also auch machen wie ein richtiger Soldat.«
Kincaid blickte ihn arglos und neugierig an. »Und wie?«
»Also, ganz einfach. Du nimmst deinen Dolch, hebst dein Plaid und rasierst dir die Haare zwischen den Beinen zur Hälfte ab.« Er hob warnend den Dolch. »Nur zur Hälfte, klar?«
»Zur Hälfte? Aye...« Kincaid wirkte skeptisch, hörte aber aufmerksam zu. Die Männer, die um das Feuer herumsaßen, begannen zu grinsen.
»Und dann...« Murtagh zeigte auf Sorley und dessen brennendes Holzscheit. »Dann erst, mein Junge, zündest du die andere Hälfte an, und wenn die Biester rauskommen, spießst du sie mit deinem Dolch auf.«
Kincaid wurde übers ganze Gesicht rot, als die Männer in grölendes Gelächter ausbrachen. Es gab ein heftiges Gerangel, denn einige wollten die Radikalkur aneinander ausprobieren und schwangen brennende Holzscheite. Gerade, als aus dem Spaß Ernst zu werden drohte, kam Jamie von den Pferden zurück, denen er die Vorderbeine gefesselt hatte. Er trat in den Kreis. Unter dem Arm trug er zwei Steingutflaschen, von denen er eine Kincaid, die andere Murtagh zuwarf. Damit hatte die Rauferei ein Ende.
»Narren seid ihr, alle miteinander«, verkündete Jamie. »Die zweitbeste Art und Weise, die Läuse loszuwerden, besteht darin, sie mit Whisky zu übergießen und sie betrunken zu machen. Wenn sie dann schnarchend umfallen, steht ihr auf, und die Läuse fallen von euch ab.«
»Die zweitbeste Methode, aha«, sagte Ross. »Und was ist die beste, Sir, wenn man fragen darf?«
Jamie grinste nachsichtig in die Runde - wie ein Vater, der sich über die Albernheiten seiner Kinder amüsiert.
»Eure Frauen sollen sie euch abzupfen, und zwar einzeln.« Er stupste mich mit dem Ellbogen an und verbeugte sich vor mir. Mit keck hochgezogenen Augenbrauen sagte er dann: »Wenn Sie so freundlich wären, Madam?«
 
Das war zwar im Scherz gesagt, aber tatsächlich wurde man die Läuse nur los, wenn man sie einzeln entfernte. Ich selbst kämmte mir morgens und abends sorgfältig die Haare und wusch sie mit Scharfgarbe, sobald wir an eine Wasserstelle kamen, die tief genug war, um darin zu baden. Auf diese Weise hatte ich bisher ernsten Lausbefall vermeiden können. Doch ich war nur solange geschützt, wie auch Jamie keine Läuse hatte, und deshalb ließ ich ihm dieselbe Behandlung zuteil werden, sooft ich ihn dazu bringen konnte, lange genug stillzusitzen.
»Paviane machen das den lieben langen Tag«, erklärte ich Jamie und entfernte einen Grashalm aus seiner Mähne. »Aber ich glaube, sie verspeisen die Früchte ihrer Arbeit.«
»Laß dich nur nicht davon abhalten, wenn du das Bedürfnis danach verspürst«, antwortete er. Er rekelte sich wohlig, als ich mit dem Kamm durch seine dicken, glänzenden Haarsträhnen fuhr. Im Schein des Feuers glitzerte sein Haar wie ein Funkenregen, wie goldene Feuerstrahlen. »Mmmh. Kaum zu glauben, wie angenehm es ist, wenn man sich die Haare kämmen läßt.«
»Warte nur, bis ich zum nächsten Schritt komme«, sagte ich und zwickte ihn dabei freundlich, so daß er kicherte. »Ich hätte gute Lust, Murtaghs Vorschlag auszuprobieren.«
»Wenn du mit einem brennenden Holzscheit an meine Schamhaare kommst, blüht dir dasselbe«, drohte er. »Was hat Louise de La Tour noch mal über rasierte Frauen gesagt?«
»Daß sie besonders erotisch sind.« Ich beugte mich nach vorne und nagte an seinem Ohrläppchen.
»Mmpf.«
»Tja, über Geschmack läßt sich streiten«, sagte ich. »Chacun à son gout und so weiter.«
»So was können nur Franzosen sagen.«
»Stimmt es etwa nicht?«
Plötzlich wurden wir durch ein lautes Grollen unterbrochen. Ich legte den Kamm beiseite und spähte in die Schatten unter den Bäumen.
»Entweder«, sagte ich, »gibt es hier im Wald Bären, oder... hast du denn noch nichts gegessen?«
»Ich hatte soviel mit den Tieren zu tun«, antwortete er. »Ein Pony hat sich ein Bein verzerrt, da mußte ich Umschläge machen. Und dann ist mir bei all dem Gerede über Läuse der Appetit gründlich vergangen.«
»Was machst du bei Pferden für Umschläge?« erkundigte ich mich und überging seine Bemerkung.
»Ach, das kommt darauf an; zur Not tut’s auch frischer Dung. Diesmal habe ich zerkaute und mit Honig vermischte Wickenblätter genommen.«
Die Satteltaschen lagen in unmittelbarer Nähe unseres eigenen Feuers, am Rande der kleinen Lichtung, wo die Männer mein Zelt aufgestellt hatten. Ich hätte zwar ebensogut wie sie unter freiem Himmel schlafen können, aber mittlerweile war ich für den kleinen privaten Freiraum dankbar, der mir durch die Zeltwände gewährt wurde. Und es war - wie Murtagh mit gewohnter Unverblümtheit gesagt hatte, als ich ihm für seine Hilfe beim Aufbau des Zeltes dankte - nicht nur zu meinem Vorteil.
»Wenn er es sich nachts zwischen deinen Schenkeln bequem macht, wird es ihm keiner neiden«, hatte er mit einer Kopfbewegung in Jamies Richtung gesagt, der mit einigen anderen Männern ins Gespräch vertieft war. »Aber man sollte den jungen Burschen keinen Anlaß geben, über Dinge nachzudenken, die sie nicht haben können, stimmt’s?«
»Wie wahr«, antwortete ich etwas scharf, »sehr aufmerksam von dir.«
Er lächelte, was er selten tat.
»Ach, schon gut«, erwiderte er.
Nach kurzem Stöbern förderte ich ein Stück Käse und ein paar Äpfel aus den Satteltaschen zutage und reichte sie Jamie, der sie skeptisch musterte.
»Kein Brot?« fragte er.
»Vielleicht ist noch welches in der anderen Tasche. Iß zuerst das, es wird dir guttun.« Er hegte, wie alle Hochlandbewohner, tiefen Argwohn gegen frisches Obst und Gemüse, obwohl ihn sein ungeheurer Appetit dazu verleitete, im Notfall alles zu vertilgen.
»Hmm«, sagte er und biß in einen Apfel. »Wenn du meinst, Sassenach.«
»Ja, das meine ich. Schau.« Ich zeigte ihm meine Zähne. »Wie viele Frauen meines Alters, meinst du, haben noch alle ihre Zähne?«
Er lächelte und entblößte dabei sein tadelloses Gebiß.
»Ich muß zugeben, du hast dich sehr gut gehalten für dein Alter, Sassenach.«
»Gesund ernährt habe ich mich«, erwiderte ich. »Die Hälfte deiner Leute leidet an leichtem Skorbut, und wie ich unterwegs gesehen habe, ist es anderswo noch weitaus schlimmer. Skorbut wird durch Vitamin C verhindert, und das ist in Äpfeln enthalten.«
Er nahm den Apfel, in den er eben hineinbeißen wollte, wieder aus dem Mund und betrachtete ihn argwöhnisch.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich«, bestätigte ich. »Und auch in den meisten anderen Obstsorten und in Gemüse wie Zwiebeln oder Kohl. Wenn du das jeden Tag ißt, bekommst du keinen Skorbut. Selbst in frischen Kräutern und in Gras findet sich Vitamin C.«
»Mmmpf. Ist das der Grund, weshalb Hirsche und Rehe bis ins Alter ihre Zähne behalten?«
»Vermutlich.«
Er drehte und wendete den Apfel und betrachtete ihn kritisch. Dann zuckte er die Achseln.
»Aye, na gut«, meinte er und biß hinein.
Ich hatte mich eben umgewandt, um das Brot zu holen, als ein Knistern an mein Ohr drang. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich in der Dunkelheit ein Schatten bewegte. In der Nähe von Jamies Kopf blitzte es im Feuerschein auf. Ich wirbelte herum und stieß einen Schrei aus - doch da war er auch schon in der Dunkelheit verschwunden.
Die Nacht war mondlos, und einzig die Geräusche ließen darauf schließen, was da vor sich ging - das Rascheln der Erlenblätter, ein Stöhnen und Ächzen und hin und wieder ein erstickter Fluch. Dann ein kurzer, scharfer Schrei, dann vollkommene Stille. Das alles dauerte wohl nur wenige Sekunden, doch mir erschien es endlos.
Ich stand noch immer wie erstarrt neben dem Feuer, als Jamie aus der unheimlichen Dunkelheit des Waldes auftauchte und einen Gefangenen vor sich herschob, dem er den Arm nach hinten gedreht hatte. Nachdem er seinen Griff gelockert hatte, gab er der Gestalt einen Stoß, so daß sie gegen einen Baumstamm torkelte und im trockenen Laub wie betäubt zu Boden sank.
Vom Lärm herbeigelockt, waren inzwischen Murtagh, Ross und einige andere der Fraser-Männer am Feuer aufgetaucht. Grob zerrten sie den Eindringling auf die Füße und näher an die Flammen heran. Murtagh packte ihn am Haarschopf und riß ihm den Kopf nach hinten, um sein Gesicht besser zu erkennen.
Es war klein und fein geschnitten, mit großen Augen und langen Wimpern. Benommen blickte der Eindringling die Männer an, die einen Kreis um ihn gebildet hatten.
»Aber das ist ja noch ein Kind!« rief ich. »Er ist nicht älter als fünfzehn!«
»Sechzehn!« verbesserte mich der Junge. Er schüttelte den Kopf; langsam schien er wieder zu sich zu kommen. »Aber das macht wohl keinen großen Unterschied« fügte er hochmütig und mit englischem Akzent hinzu. Hampshire, schoß es mir durch den Kopf. Ganz schön weit weg von zu Hause.
»Richtig«, stimmte Jamie grimmig zu. »Ob sechzehn oder sechzig, er hat eben einen respektablen Versuch unternommen, mir die Kehle durchzuschneiden.« Erst jetzt sah ich das blutrote Taschentuch, das er sich fest an den Hals drückte.
»Von mir erfahrt ihr nichts!«rief der Junge. Seine dunklen Augen stachen scharf aus dem blassen Gesicht hervor, und sein blondes Haar leuchtete im Schein des Feuers. Einen Arm hielt er fest vor die Brust gepreßt, vermutlich, weil er verletzt war. Trotzdem bemühte sich der Junge, aufrecht vor den Männern zu stehen, und preßte die Lippen fest zusammen, um weder Furcht noch Schmerz zu zeigen.
»Gewisse Dinge weiß ich ohnehin schon«, erwiderte Jamie, während er den Jungen musterte. »Erstens bist du Engländer, also gehörst du zu der Truppe hier in der Nähe. Und zweitens bist du allein.«
Der Junge schien verblüfft. »Woher wissen Sie das?«
Jamie hob die Augenbrauen. »Wahrscheinlich hättest du es nicht gewagt, mich anzugreifen, wenn du nicht gemeint hättest, die Lady und ich seien allein. Wenn jemand bei dir gewesen wäre, der das auch gedacht hätte, wäre er dir sicher zu Hilfe geeilt. Übrigens, ist dein Arm gebrochen? Ich hatte den Eindruck, es hätte gekracht. Wenn du mit anderen gekommen wärst, die gewußt hätten, daß wir nicht allein sind, hätten sie dich sicher daran gehindert, etwas so Törichtes zu tun.« Trotz Jamies Ausführungen sah ich, wie drei der Männer auf ein Zeichen von ihm unauffällig im Wald verschwanden, wohl um nach weiteren ungebetenen Gästen zu fahnden.
Das Gesicht des Jungen nahm einen trotzigen Ausdruck an, als er hörte, wie seine Aktion als töricht abgetan wurde. Jamie betupfte sich den Hals und betrachtete dann eingehend das Taschentuch.
»Wenn du jemanden von hinten töten willst, mein Junge, dann such dir nicht jemanden aus, der im trockenen Laub sitzt«, riet er. »Und wenn du jemanden, der größer ist als du, mit dem Messer angreifst, dann suche dir eine sicherere Stelle aus. Eine Kehle kannst du nur dann durchschneiden, wenn dein Opfer stillhält.«
»Vielen Dank für den freundlichen Ratschlag«, höhnte der Junge. Er bemühte sich redlich, weiterhin tapfer zu wirken, doch seine Augen wanderten nervös von einem finsteren schnurrbärtigen Gesicht zum nächsten. Keiner der Hochlandschotten hätte am hellichten Tag bei einem Schönheitswettbewerb einen Preis gewonnen, und sie gehörten erst recht nicht zu der Sorte, der man gern in der Dunkelheit begegnete.
Jamie antwortete höflich: »Bitte sehr, gern geschehen. Nur wirst du leider keine Möglichkeit haben, diesen Ratschlag in die Tat umzusetzen. Weshalb wolltest du mich eigentlich umbringen?«
Der Junge zögerte einen Augenblick. »Ich wollte die Lady befreien«, antwortete er dann.
Ein amüsiertes Raunen ging durch die Menge, das durch eine flüchtige Handbewegung Jamies sofort zum Stillstand kam. »Ach so«, sagte er beiläufig. »Du hast uns reden hören und bist zu dem Schluß gekommen, daß die Dame eine Engländerin und von vornehmer Herkunft ist. Wogegen ich...«
»Wogegen Sie, Sir, ein gewissenloser Verbrecher sind, bekannt als Dieb und Gewalttäter! Ihr Gesicht und eine Beschreibung Ihrer Person findet man in ganz Hampshire und Sussex auf Flugblättern abgedruckt! Ich habe Sie gleich erkannt; Sie sind ein Rebell und ein skrupelloser Lüstling!« Das Gesicht des Jungen war vor Eifer rot geworden.
Ich biß mir auf die Lippen und blickte zu Boden, um Jamie nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Aye, gut. Wie du meinst«, stimmte Jamie zu. »Wenn dem so ist, kannst du mir vielleicht einen Grund nennen, warum ich dich nicht auf der Stelle umbringen sollte?« Dabei zog er den Dolch und drehte ihn hin und her, so daß die Klinge im Feuerschein blitzte.
Aus dem Gesicht des Jungen war alles Blut gewichen. Er war kreidebleich, hielt sich jedoch tapfer aufrecht und versuchte, sich aus dem Griff der beiden Männer loszureißen, die ihn am Arm festhielten. »Das habe ich erwartet. Ich bin bereit zu sterben«, sagte er und straffte die Schultern.
Jamie nickte nachdenklich. Dann beugte er sich nieder und legte seinen Dolch ins Feuer. Um die Klinge, die sofort schwarz anlief, kräuselte sich Rauch, und ein scharfer Geruch stieg auf. Wir alle starrten in stummer Verzauberung in die Flamme, die an der Klinge eine tiefblaue Färbung annahm und das todbringende Metall in der glühenden Hitze zum Leben zu erwecken schien.
Jamie wickelte das blutbefleckte Taschentuch um seine Hand und nahm vorsichtig den Dolch aus dem Feuer. Dann schritt er langsam auf den Jungen zu und senkte die Waffe, bis sie wie zufällig das Wams des Jungen berührte. Es roch nach versengtem Stoff, als der Dolch auf dem Wams des Jungen eine Brandspur hinterließ. Jetzt befand sich die Spitze des Dolchs unmittelbar an dem aufwärts gereckten Kinn des Jungen. Ich sah, wie Schweiß den schlanken Hals des Jungen hinunterlief.
»Aye, leider habe ich nicht vor, dich zu töten - noch nicht.«
Jamies Stimme war leise und drohend, und durch die Beherrschung, die er sich auferlegte, wirkte sie um so erschreckender.
»Zu welcher Truppe gehörst du?« Die Frage sauste wie ein Peitschenschlag herab und ließ die Umstehenden förmlich zusammenzucken. Die Spitze des Dolches rückte dem Hals des Jungen etwas näher.
»Das - das sage ich nicht!« stammelte der Junge und preßte die Lippen noch fester zusammen. Ein Zittern überlief ihn.
»Und in welcher Entfernung lagern deine Kameraden? Wie viele sind es? Und welche Marschrichtung schlagen sie ein?« Jamie stellte seine Fragen leichthin; seine ganze Konzentration schien auf die Klinge gerichtet, die nahe am Kinn des Jungen entlangstrich. Dessen Augen waren vor Angst geweitet, doch er schüttelte heftig den Kopf. Ross und Kincaid packten ihn fester am Arm.
Eine winzige Bewegung des Dolches, ein dünner, erstickter Schrei, dann der Geruch verbrannter Haut.
»Jamie!« rief ich außer mir. Er wandte sich nicht um, sondern hielt die Augen auf seinen Gefangenen gerichtet. Der war auf die Knie gesunken und preßte die Hand an seinen Hals.
»Halten Sie sich raus, Madam«, stieß Jamie zwischen den Zähnen hervor. Er packte den Jungen an der Hemdbrust und zog ihn ruckartig in die Höhe. Dann hielt er den Dolch unter das linke Auge des Jungen. In einer stummen Frage neigte er den Kopf und erhielt als Antwort ein kaum merkliches, jedoch entscheidendes Kopfschütteln.
Die Stimme des Jungen war jetzt nur noch ein bebendes Flüstern; er mußte sich räuspern, um sich verständlich zu machen. »N-nein«, stotterte er. »Nein. Egal, was Sie mir antun, Sie werden mich nicht dazu bringen, etwas zu verraten.«
Jamie hielt ihn noch einen Augenblick fest, dann ließ er sein Hemd los und trat einen Schritt zurück. »Nein«, erwiderte er langsam, »das habe ich auch nicht erwartet. Aber was ist mit der Lady?«
Daß er mich meinte, wurde mir erst klar, als er mich am Handgelenk packte und herumriß. Er drehte mir die Hand auf den Rücken.
»Dein eigenes Schicksal mag dir gleichgültig sein, doch vielleicht ist dir die Ehre der Dame wichtig, da du dir schon so große Mühe gegeben hast, sie zu befreien.« Er packte mich an den Haaren, riß meinen Kopf nach hinten und küßte mich mit einer solchen Brutalität, daß ich unwillkürlich zurückzuckte.
Dann ließ er meine Haare los und zog mich an sich, so daß ich dem Jungen direkt gegenüberstand. Der stand mit weit aufgerissenen Augen da.
»Lassen Sie sie sofort los!« forderte er mit heiserer Stimme. »Was haben Sie mit ihr vor?««
Jamie packte mich am Ausschnitt meines Kleids. Mit einer ruckartigen Bewegung riß er daran und entblößte beinahe meine ganze Brust. Instinktiv versetzte ich ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Der Junge gab einen unartikulierten Laut von sich und tat einen Schritt nach vorne, wurde aber von Ross und Kincaid zurückgehalten.
»Wenn du es genau wissen willst«, ertönte Jamies Stimme hinter mir, »habe ich vor, die Lady vor deinen Augen zu vergewaltigen. Dann gebe ich sie an meine Männer weiter, die mit ihr machen können, was sie wollen. Vielleicht möchtest du auch mal, bevor ich dich töte? Ein Mann sollte nicht unberührt sterben, meinst du nicht auch?«
Jetzt setzte ich mich mit aller Kraft zur Wehr. Jamie hielt meinen Arm mit eisernem Griff hinter meinem Rücken fest und hatte seine große, warme Hand auf meinen Mund gelegt, so daß ich nicht schreien konnte. Ich biß ihn, so fest ich konnte, in die Hand, und spürte den Geschmack von Blut im Mund. Mit einem verhaltenen Ausruf zog er seine Hand fort, knüllte dann aber ein Stück Tuch zusammen und steckte es mir in den Mund. Ich stieß einen erstickten Schrei aus, doch da riß Jamie mir das Kleid noch weiter vom Leibe. Ein Ratsch, und ich stand bis zu den Hüften entblößt da. Ross starrte mich einen Augenblick lang an, dann sah er schnell weg und richtete seinen Blick starr auf den Gefangenen. Auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken. Kincaid, nicht älter als neunzehn Jahre, schaute entsetzt drein. Sein Mund stand offen wie ein Scheunentor.
»Schluß damit!« Die Stimme des Jungen zitterte, jetzt mehr aus Empörung als aus Furcht. »Sie - Sie abscheuliche Memme! Wie können Sie es wagen, eine Dame zu entehren, Sie schottischer Schakal!« Seine Brust lebte unter dem inneren Aufruhr. Dann kam er zu einem Entschluß. Trotzig hob er das Kinn.
»Also gut. Ich sehe, daß ich als Ehrenmann keine andere Wahl habe. Lassen Sie die Lady los, und ich sage Ihnen, was Sie wissen wollen.«
Jamie ließ meine Schulter los und gab Ross ein Zeichen. Daraufhin gab dieser den verletzten Arm des Jungen frei und bückte sich schnell, um meinen Umhang aufzuheben, der in der Aufregung zu Boden gefallen war. Jamie zog meine Hände auf den Rücken, riß mir den Gürtel herunter und fesselte damit meine Hände. Er nahm den Umhang, den Ross ihm reichte, legte ihn mir mit einem Schwung um die Schultern und band ihn sorgfältig zu. Schließlich trat er einen Schritt zurück, verbeugte sich ironisch vor mir und wandte sich an den Gefangenen.
»Du hast mein Wort, daß die Dame vor meinen Annäherungsversuchen sicher ist«, sagte er. Das Zittern in seiner Stimme hätte auf Zorn oder enttäuschte sinnliche Begierde zurückgeführt werden können. Ich erkannte darin jedoch einen gewaltsam unterdrückten Lachreiz. Ich hätte ihn umbringen können.
Mit versteinertem Gesicht erteilte der Junge die gewünschten Auskünfte.
Er hieß William Grey und war der zweite Sohn des Viscount Melton. Mit einer Truppe von zweihundert Mann befand er sich auf dem Weg nach Dunbar, um sich dort General Copes Armee anzuschließen. Seine Truppe lagerte im Augenblick etwa fünf Kilometer weiter westlich. Er, William, hatte den Wald durchstreift und dabei unser Feuer entdeckt. Nein, niemand hatte ihn begleitet. Ja, die Truppe war schwer bewaffnet, mit sechzehn Schnellfeuerkanonen und zwei Mörsern. Die meisten Soldaten seiner Truppe waren mit Musketen ausgerüstet, und eine dreißig Mann starke Kompanie war beritten.
Obwohl dem Jungen die Fragen und die Schmerzen zusetzten, weigerte er sich, Platz zu nehmen. Statt dessen lehnte er sich gegen einen Baum und barg seinen Ellbogen in der linken Hand.
Das Verhör dauerte fast eine Stunde und drehte sich immer wieder um die gleichen Einzelheiten, um die Klärung von Widersprüchen und um Punkte, die der Junge offensichtlich umgehen wollte. Als Jamie endlich zufrieden war, seufzte er tief auf und wandte sich von dem Jungen ab, der sich im schwankenden Schatten der Eiche erschöpft niederließ. Wortlos streckte Jamie die Hand aus, und Murtagh, der wie gewöhnlich seine Wünsche erriet, reichte ihm eine Pistole.
Dann trat Jamie wieder vor den Gefangenen und tat so, als konzentrierte er sich darauf, die Waffe zu prüfen und zu laden. »Kopf oder Herz?« fragte er dann beiläufig.
»Was?« Dem Jungen blieb der Mund offenstehen.
»Ich werde dich jetzt erschießen«, erklärte ihm Jamie geduldig. »Spitzel werden gewöhnlich gehängt, aber in Anbetracht deiner Ritterlichkeit bin ich bereit, dir einen schnellen Tod zu gewähren. Möchtest du die Kugel lieber in den Kopf oder ins Herz?«
Der Junge richtete sich auf und straffte die Schultern. »Oh, ja, natürlich.« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und schluckte. »Ich denke... ins - ins Herz.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Danke.« Er hob das Kinn und kniff die weichen, noch kindlichen Lippen zusammen.
Jamie entsicherte die Waffe mit einem Klicken, das in der nächtlichen Stille unter den Eichenbäumen nachhallte.
»Warten Sie!« rief der Gefangene. Jamie blickte ihn forschend an, die Pistole auf seine schmale Brust gerichtet.
»Welche Sicherheit habe ich, daß die Lady nach... nach meinem Tod nicht belästigt wird?« fragte er und blickte herausfordernd in die Runde. Seine gesunde Hand war zur Faust geballt, doch sie zitterte. Ross ließ ein Kichern hören, tat aber dann geschickt so, als ob er geniest hätte.
Jamie ließ die Pistole sinken. Mit eiserner Selbstbeherrschung setzte er eine Miene feierlichen Ernstes auf.
»Nun«, sagte er mit breitem schottischem Akzent, »ich habe dir mein Wort gegeben, obwohl ich natürlich einsehe, daß es dir schwerfällt, einer...«, seine Lippen zitterten unwillkürlich, »einer schottischen Memme zu glauben. Vielleicht kannst du aber die Zusicherung der Dame selbst akzeptieren.« Mit fragend gerunzelter Stirn blickte er in meine Richtung, und Kincaid eilte herbei, um das Taschentuch aus meinem Mund zu nehmen.
»Jamie!« rief ich wütend, sobald ich wieder sprechen konnte. »Das ist unerhört! Wie konntest du nur so etwas tun! Du... du...«
»Memme«, kam er mir zu Hilfe. »Oder Schakal, wenn dir das besser gefällt. Was meinst du, Murtagh, bin ich eine Memme oder ein Schakal?«
Murtagh verzog den Mund. »Ich sage, du bist keinen Pfifferling wert, wenn du dein Mädel ohne einen Dolch in der Hand losbindest.«
Jamie wandte sich wieder an den Jungen.»Ich muß mich bei meiner Frau entschuldigen, daß ich sie gezwungen habe, bei diesem Täuschungsmanöver mitzumachen. Ich versichere dir, daß es gegen ihren Willen geschah.« Reuig betrachtete er die Bißwunde an seiner Hand.
»Ihre Frau?« Entsetzt blickte der Junge erst mich, dann Jamie an.
»Außerdem versichere ich dir, daß die Lady, die mich in meinem Bett gelegentlich mit ihrer Anwesenheit beehrt, dies nie unter Zwang getan hat... und auch in Zukunft nicht tun wird«, fügte er spitz hinzu. »Aber binde sie noch nicht los, Kincaid.«
»James Fraser«, zischte ich ihm wütend zu. »Wenn du dem Jungen auch nur ein Haar krümmst, wirst du dein Bett ganz bestimmt nie mehr mit mir teilen!«
Jamie runzelte besorgt die Stirn. »Tja, das ist eine ernste Drohung für einen so skrupellosen Lüstling wie mich. Aber in einer solchen Situation muß ich mein eigenes Wohlergehen hintanstellen. Krieg ist eben Krieg.« Erneut hob er die Pistole.
»Jamie!« schrie ich.
Er ließ die Waffe sinken und wandte sich mit übertriebener Nachsicht an mich. »Ja?«
Um meine Wut zu bändigen, holte ich tief Luft. Ich konnte nur ahnen, was er vorhatte, und hoffte, daß ich das Richtige tat. Ob richtig oder nicht, wenn das hier erst einmal vorüber war... Ich verdrängte die äußerst reizvolle Vorstellung eines am Boden liegenden Jamie, der sich unter meinem Fuß wand, und versuchte, mich auf meine gegenwärtige Aufgabe zu konzentrieren.
»Du hast nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß er ein Späher ist«, wandte ich ein. »Er hat gesagt, er sei zufällig auf dich gestoßen. Wer wäre da nicht neugierig, wenn er im Wald ein Feuer sieht?««
Jamie nickte einsichtig. »Aye, aber was ist mit dem Mordversuch? Späher oder nicht, er hat versucht mich zu töten und gibt das auch zu.« Er strich über die Wunde an seinem Hals.
»Ja, natürlich!« rief ich ungeduldig. »Er ist davon ausgegangen, daß du ein Verbrecher bist. Verdammt noch mal, auf deinen Kopf ist schließlich eine Belohnung ausgesetzt!«
Jamie rieb sich unschlüssig das Kinn, dann wandte er sich zu dem Gefangenen um. »Tja, das ist natürlich richtig«, sagte er. »William Grey, du hast eine gute Anwältin. Weder Seine Hoheit Prince Charles noch ich haben die Gewohnheit, jemanden ohne Recht und Gesetz zu exekutieren.« Er winkte Kincaid zu sich heran.
»Kincaid, du und Ross nehmt diesen Kerl und führt ihn in die Richtung, in der sich seinen Angaben zufolge sein Lager befindet. Wenn das, was er gesagt hat, stimmt, dann bindet ihn gut einen Kilometer von seinem Lager entfernt in Marschrichtung an einem Baum fest. Morgen früh werden ihn seine Kameraden finden. Wenn sich seine Auskünfte aber als falsch erweisen«, er musterte den Gefangenen durchdringend, »dann schneidet ihm die Kehle durch.«
Ohne jede Spur von Spott blickte er dem Jungen ins Gesicht. »Ich habe dir das Leben geschenkt. Ich hoffe, du fängst etwas Vernünftiges damit an.«
Dann band er mich los. Als ich mich wütend umdrehte, zeigte er auf den Jungen, der sich unter der Eiche auf den Boden gesetzt hatte. »Würdest du ihm den Arm verbinden, bevor er aufbricht?« Der finstere Blick, die gespielte Grausamkeit waren aus Jamies Gesicht verschwunden. Statt dessen hielt er die Augen gesenkt und mied meinen Blick.
Wortlos trat ich auf den Jungen zu und beugte mich zu ihm hinunter. Er schien wie benommen und widersetzte sich nicht, als ich seinen Arm untersuchte, obwohl er große Schmerzen haben mußte.
Ständig glitt mir das zerrissene Oberteil meines Kleides von den Schultern, und ich murmelte ärgerlich, als ich es zum x-ten Male hochzog. Der Unterarmknochen des Jungen war dünn und kaum kräftiger als meiner. Ich schiente den Arm und legte ihn in eine Schlinge, die ich aus meinem Halstuch gebunden hatte. »Es ist ein glatter Bruch«, erklärte ich ihm sachlich. »Du solltest den Arm mindestens zwei Wochen lang nicht mehr bewegen.« Er nickte, ohne mich anzusehen.
Jamie saß unterdessen schweigend auf einem Holzblock und sah mir zu. Keuchend vor Wut ging ich zu ihm hin und schlug ihn, so fest ich konnte, ins Gesicht. Die Ohrfeige hinterließ auf seiner Wange einen weißen Fleck, und Tränen schossen ihm in die Augen, aber er verzog keine Miene.
Kincaid zog den Jungen auf die Beine und schob ihn zum Rand der Lichtung. Dort blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Er vermied es, mich anzusehen, sondern sprach nur zu Jamie.
»Ich verdanke Ihnen mein Leben«, erklärte er förmlich. »Ich würde es vorziehen, wenn dem nicht so wäre, aber dieses unwillkommene Geschenk muß ich jetzt als eine Schuld betrachten, die ich abzutragen habe. Doch wenn sie erst einmal abgegolten ist...« In der Stimme des Jungen schwang unterdrückter Haß mit, der jetzt offen ausbrach, als er hinzufügte: »... werde ich Sie töten!«
Jamie richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er wirkte ruhig und zeigte keinerlei Ironie. Nachdem er sich ernst und gemessen verbeugt hatte, erwiderte er: »In diesem Fall, Sir, kann ich nur hoffen, daß wir uns nicht wieder begegnen.«
Der Junge straffte die Schultern und erwiderte steif die Verbeugung. »Ein Grey vergißt seine Schulden niemals, Sir«, erwiderte er. Mit Kincaid, der ihn am Arm festhielt, verschwand er in der Dunkelheit.
Lange Zeit war kein Laut zu hören, nur das Rascheln des Laubes unter den Füßen der sich entfernenden Männer. Dann begann einer der Männer zu kichern, und ein zweiter schloß sich ihm an. Das Gelächter schwoll an, wurde lauter, und bald stimmten alle im Kreis versammelten Männer mit ein.
Jamie trat einen Schritt auf sie zu. Augenblicklich verstummten sie. Dann sah er mich an und sagte kurz: »Geh ins Zelt.«
Vorgewarnt durch meinen Gesichtsausdruck, packte er mich am Handgelenk, bevor ich erneut die Hand zum Schlag heben konnte.
»Wenn du mich wieder schlagen willst, gib mir wenigstens Gelegenheit, dir die andere Wange hinzuhalten«, bemerkte er trocken. »Außerdem kannst du dir die Mühe sparen. Trotzdem rate ich dir, ins Zelt zu gehen.«
Er ließ meine Hand los, trat näher ans Feuer, und mit einer gebieterischen Kopfbewegung bewirkte er, daß sich die Männer zögernd und fast schon ängstlich vor ihm aufstellten.
Ich verstand nicht alles, was er sagte, denn er sprach in einer seltsamen Mischung aus Gälisch und Englisch, doch ich verstand genug, um zu wissen, daß er sich in ruhigem, ausdruckslosem Ton, der seinen Männern das Blut in den Adern gefrieren ließ, nach den Wachposten des Abends erkundigte.
Verstohlen blickten sich die Männer an, und es schien, als rückten sie angesichts der drohenden Gefahr näher zusammen. Doch dann teilte sich der Haufen, und zwei Männer traten hervor. Einmal hoben sie kurz den Kopf, blieben aber sonst die ganze Zeit dicht nebeneinander stehen und blickten schuldbewußt zu Boden.
Es waren die McClure-Brüder, George und Sorley, beide in den Dreißigern. Sie sahen so aus, als hätten sie sich ob des dräuenden Donnerwetters am liebsten an den Händen gehalten.
Eine kurze Pause trat ein, während Jamie die beiden Sündenböcke musterte. Dann hielt er ihnen eine lange Standpauke. Die versammelten Männer gaben keinen Laut von sich, und die beiden McClures, kräftig gebaute Männer, schienen unter der Gewalt der Worte zu schwanken. Ich wischte mir die schwitzenden Hände am Rock ab, froh, daß ich nicht alles verstand, und bereute inzwischen, daß ich Jamies Aufforderung, ins Zelt zu gehen, nicht befolgt hatte.
Noch mehr bereute ich es im nächsten Augenblick, als sich Jamie an Murtagh wandte. Der hatte den Befehl bereits erwartet und stand mit einer etwa sechzig Zentimeter langen Lederpeitsche bereit.
»Zieht euch aus und stellt euch hierher, ihr beiden.« Die McClures gehorchten augenblicklich, als wären sie begierig, die verdiente Strafe in Empfang zu nehmen, und erleichtert, daß die Präliminarien vorüber waren.
Zunächst dachte ich, mir würde schlecht werden, obwohl mir klar war, daß die Strafe, verglichen mit dem, was bei derartigen Vergehen sonst üblich war, mild ausgefallen war. Kein Laut war zu hören, nur das Klatschen der Peitsche und hin und wieder ein Stöhnen.
Schließlich ließ Jamie die Peitsche sinken. Er schwitzte, und das schmutzige Hemd klebte ihm am Rücken. Mit dem Ärmel wischte er sich das Gesicht ab und nickte den McClure-Brüdern zu. Der eine bückte sich und hob die Hemden auf, während der andere, selbst wacklig auf den Beinen, ihn stützte.
Die versammelten Männer schienen während der Bestrafung den Atem angehalten zu haben. Jetzt ging eine Bewegung durch die Gruppe, gleichsam ein gemeinsames erleichtertes Ausatmen.
Jamie sah sie an und schüttelte den Kopf. Wind kam auf und fuhr ihm durchs Haar.
»Wir können uns keine Fahrlässigkeit leisten«, sagte er ruhig. »Keiner von uns.« Er holte tief Luft und verzog den Mund. »Das gilt auch für mich. Mein offenes Feuer hat den Jungen auf uns aufmerksam gemacht.« Erneut trat Schweiß auf seine Stirn, und er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Dann nickte er Murtagh zu, der mit finsterer Miene etwas abseits von den Männern stand, und hielt ihm die Peitsche hin.
»Wenn ich bitten darf, Sir?«
Nach einem Augenblick des Zögerns streckte Murtagh seine schwielige Hand aus und nahm die Peitsche. Ein Ausdruck der Belustigung flackerte in den schwarzen Äuglein des Clanmitglieds auf.
»Mit Vergnügen... Sir.«
Jamie drehte seinen Männern den Rücken zu und fing an, sich das Hemd auszuziehen. Da fiel sein Blick auf mich, die ich wie versteinert zwischen den Bäumen stand, und er hob ironisch fragend die Augenbrauen. Ob ich wirklich zusehen wollte? Ich schüttelte wild den Kopf, drehte mich um und stolperte zwischen den Bäumen davon.
 
Doch ich kehrte nicht ins Zelt zurück, dessen drückende Luft mir jetzt unerträglich erschienen wäre. Ich hatte das Gefühl zu ersticken und brauchte frische Luft.
Auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Zelt hielt ich an, legte mich flach auf den Boden und verschränkte die Arme über dem Kopf. Nichts, keinen Laut wollte ich von dem letzten Akt des Dramas hören, das sich unten am Feuer abspielte.
Das Gras war kalt auf meiner nackten Haut, und ich zog den Umhang enger um mich. So lag ich unbeweglich, lauschte auf das Pochen meines Herzens und wartete darauf, daß mein aufgewühltes Inneres zur Ruhe kam.
Kurze Zeit später hörte ich, wie die Männer in kleinen Gruppen zu viert oder fünft zu ihren Schlafstellen zurückkehrten. Durch die schützende Hülle meines Umhangs konnte ich ihre Worte nicht verstehen, doch ihre Stimmen klangen gedämpft, vielleicht sogar ein wenig ehrfürchtig. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich merkte, daß er gekommen war. Obwohl er schwieg, spürte ich seine Nähe. Als ich mich aufsetzte, sah ich ihn auf einem Stein hocken.
Da ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich seinen Kopf streicheln oder mit einem Felsblock einschlagen sollte, tat ich letztlich keins von beiden.
»Geht es dir gut?« fragte ich statt dessen so unbeteiligt wie möglich.
»Aye. Es geht schon.« Langsam faltete er seine Glieder auseinander und streckte sie behutsam und mit einem tiefen Seufzer.
»Es tut mir leid um dein Kleid«, sagte er nach einer Pause. Ich merkte, daß durch die Risse im Stoff meine Haut hindurchschimmerte, und hastig zog ich meinen Umhang fester um mich.
»Ach, nur um das Kleid?« fragte ich ziemlich spitz.
Er seufzte wieder. »Aye, und um das andere auch.« Dann fügte er hinzu: »Ich dachte, du wärst vielleicht bereit, deine Sittsamkeit zu opfern, damit ich nicht gezwungen bin, dem Jungen etwas anzutun. Aber unter den gegebenen Umständen blieb mir nicht die Zeit, dich um Erlaubnis zu bitten. Wenn ich also einen Fehler gemacht habe, bitte ich um Verzeihung, Lady.«
»Du meinst, sonst hättest du ihn weiter gefoltert?«
Er war verärgert und bemühte sich nicht, es zu verbergen. »Von wegen foltern! Ich habe dem Jungen kein Haar gekrümmt.«
Ich zog meinen Umhang fester um mich. »Ach, daß du ihm den Arm gebrochen und ihn mit einer heißen Klinge gebrannt hast, betrachtest du also nicht als Folter?«
»Nein.« Mit einem Satz sprang er auf mich zu, packte mich an Ellbogen und riß mich zu sich herum. »Jetzt hör mir mal zu! Er hat sich den blöden Arm gebrochen, als er sich aus meinem Griff entwinden wollte. Leider hat er keine Erfahrung im Kampf Mann gegen Mann, obwohl er so tapfer ist wie andere.«
»Und der Dolch?«
Jamie schnaubte verächtlich. »Pfff! Nichts als ein kleiner Kratzer, den er morgen mittag schon wieder vergessen hat. Sicher hat es ihm anfangs weh getan, aber es sollte ihm einen Schrecken einjagen, mehr nicht.«
»Ach!« Ich riß mich los, stand auf und ging zurück in den dunklen Wald, auf unser Zelt zu. Hinter mir hörte ich seine Stimme.
»Ich hätte ihn auch mit Gewalt zum Reden bringen können, Sassenach. Es wäre unschön gewesen und hätte bleibende Schäden hinterlassen. Aber ich hüte mich vor solchen Methoden, wenn es nicht unbedingt sein muß. Allerdings, Sassenach«, warnend drang seine Stimme durch die Schatten an mein Ohr, »kann die Zeit kommen, wo ich dazu gezwungen bin. Ich mußte erfahren, wo sich seine Truppe aufhält, wo sich ihre Waffen befinden und so weiter. Durch bloße Einschüchterung hätte ich das nicht erfahren; und so konnte ich ihm nur eine Falle stellen oder es mit Gewalt aus ihm herausholen.«
»Er hat gesagt, du könntest nichts tun, was ihn zum Sprechen brächte.«
Jamies Stimme klang müde und erschöpft. »Gott noch mal, Sassenach, natürlich hätte ich einen Weg gefunden. Man kann den Widerstand eines jeden Menschen brechen, wenn man ihn nur lange genug foltert. Wenn sich jemand darin auskennt, dann ich.«
»Ja«, sagte ich leise. »Das tust du wohl.«
Eine Zeitlang blieben wir schweigend stehen. Ich hörte nur das leise Gemurmel der Männer, die sich zur Nachtruhe legten, und hin und wieder das Stampfen schwerer Stiefel und das Rascheln von Blättern, die man zum Schutz gegen die herbstliche Kälte aufgehäuft hatte. Meine Augen hatten sich mittlerweile so weit an die Dunkelheit gewöhnt, daß ich bereits unser Zelt erkennen konnte, das in etwa zehn Metern Entfernung im Schutz einer großen Lärche stand. Und auch Jamie sah ich jetzt genau, dessen Gestalt sich dunkel vor der helleren Nacht abzeichnete.
»Also gut«, sagte ich nach einer Weile.»Du hast recht. In Anbetracht der Möglichkeiten... ja, du hast recht.«
»Danke.« Ich wußte nicht, ob er lächelte, aber seine Stimme klang so.
»Du hast aber verdammt Glück gehabt«, sagte ich. »Wenn ich nicht dagewesen wäre und dir eine Ausrede geliefert hätte, was hättest du dann gemacht?«
Jamie zuckte die Achseln, und es schien, als ob er in sich hineinlachte.
»Ich weiß es nicht, Sassenach. Ich hatte damit gerechnet, daß du mir hilfst. Wenn du es nicht getan hättest - tja, dann hätte ich den Burschen wohl erschießen müssen. Ich hätte ihn doch kaum enttäuschen und einfach so laufenlassen können, oder?«
»Du verdammter schottischer Scheißkerl«, erwiderte ich trokken.
Er seufzte erschöpft. »Sassenach, seit dem Abendessen - das ich noch nicht einmal in Ruhe zu Ende essen konnte - bin ich niedergestochen, gebissen, geschlagen und ausgepeitscht worden. Normalerweise macht es mir keinen Spaß, Kinder zu Tode zu erschrecken und Männer auszupeitschen, und doch mußte ich heute beides tun. In fünf Kilometern Entfernung lagern zweihundert Engländer, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie man sie aufhalten kann. Ich bin müde, hungrig und verletzt. Wenn du auch nur einen Funken weibliches Mitgefühl für mich übrig hast, könnte ich es gut gebrauchen.«
Seine Stimme klang so betrübt, daß ich unwillkürlich lachen mußte. Ich stand auf und ging zu ihm.
»Das kann ich mir vorstellen. Komm her, ich will sehen, was sich machen läßt.« Er hatte sich das Hemd lose über die Schultern gelegt. Jetzt ließ ich meine Hand unter den Stoff gleiten und fuhr über seinen glatten, heißen Rücken. »Die Haut ist nicht verletzt«, stellte ich fest.
Ich streifte ihm das Hemd ab und hieß ihn niedersetzen. Dann benetzte ich seinen Rücken mit kaltem Wasser aus dem Fluß.
»Besser?« fragte ich.
»Ja.« Seine Rückenmuskeln entspannten sich, doch er zuckte leicht zusammen, als ich eine besonders empfindliche Stelle berührte.
Dann kümmerte ich mich um die Wunde unter seinem Ohr. »Du hättest ihn doch nicht wirklich erschossen, oder?«
»Wofür hältst du mich, Sassenach?« erwiderte er mit gespielter Empörung.
»Für eine schottische Memme. Oder bestenfalls für einen gewissenlosen Verbrecher. Woher weiß ich, wozu solch ein Kerl in der Lage ist? Und erst recht ein skrupelloser Lüstling wie du.«
Er lachte, so daß seine Schultern unter meinen Händen erbebten. »Dreh dich um. Wenn du weibliches Mitgefühl willst, mußt du schon stillsitzen.«
»Gut.« Wir schwiegen einen Augenblick. »Nein«, sagte er dann. »Ich hätte ihn nicht erschossen. Aber irgendwie mußte ich dafür sorgen, daß er das Gesicht wahren konnte, nachdem ich ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht hatte. Er ist ein tapferer Junge, und deshalb wollte ich ihm das Gefühl geben, er sei es wert, getötet zu werden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde die Männer nie verstehen«, murmelte ich und strich Ringelblumensalbe auf die Wunde.
Er griff nach meinen Händen und zog mich nahe zu sich heran.
»Du brauchst mich nicht zu verstehen, Sassenach«, erwiderte er leise, »solange du mich liebst.« Er neigte den Kopf und küßte meine Hände.
»Und mir etwas zu essen bringst«, fügte er hinzu und ließ meine Hände los.
»Oh, weibliches Mitgefühl, Liebe und Essen?« fragte ich lachend. »Sonst noch was?«
In den Satteltaschen waren kalte Haferkuchen, Käse und auch etwas Schinken. Jetzt erst spürte ich, wie sehr mich die Ereignisse der letzten beiden Stunden angestrengt hatten. Auch ich hatte Hunger bekommen.
Als das Gemurmel der Männer verstummt war, bekam ich plötzlich das Gefühl, daß wir Tausende von Kilometern von jeder Menschenseele entfernt waren. Nur der Wind rauschte unermüdlich in den Bäumen.
Jamie lehnte sich gegen einen Stamm. Sein Gesicht wirkte blaß im Licht der Sterne, doch er war zum Scherzen aufgelegt.
»Ich habe deinem Fürsprecher mein Wort gegeben, daß ich dich nicht mit unsittlichen Annäherungsversuchen belästige. Hoffentlich gilt das nur, solange du mich nicht einlädst, dein Bett mit dir zu teilen. Andernfalls muß ich bei Murtagh oder Kincaid schlafen. Und Murtagh schnarcht.«
»Du auch«, erwiderte ich.
Ich sah ihn kurz an. Dann zuckte ich die Achseln, so daß mir das zerrissene Kleid die eine Schulter herabglitt. »Einen ersten Anlauf hast du ja schon gemacht.« Ich streifte das Kleid von der anderen Schulter, so daß es zu Boden fiel. »Jetzt kannst du dein Werk vollenden.«
Ich spürte die Wärme seiner Umarmung auf meiner kalten Haut.
»Aye, gut«, murmelte er in mein Haar, »Krieg ist Krieg, nicht wahr?«
»Ich kann mir keine Jahreszahlen merken«, sagte ich einige Zeit später und blickte zum sternenübersäten Himmel. »Ist Miguel de Cervantes schon geboren?«
Jamie lag - notgedrungen - auf dem Bauch neben mir; Kopf und Schultern ragten aus dem Zelt. Er öffnete langsam ein Auge und sah zum östlichen Horizont. Als er keine Anzeichen von Morgendämmerung erkennen konnte, blickte er mich mit einem Ausdruck zynischer Resignation an.
»Hast du etwa plötzlich das Bedürfnis, über spanische Romane zu sprechen?« fragte er heiser.
»Eigentlich nicht«, antwortete ich. »Ich wollte nur wissen, ob dir der Ausdruck ›Donquichotterie‹ geläufig ist.«
Er stützte sich auf die Ellbogen und kratzte sich mit beiden Händen am Kopf, um wach zu werden. Blinzelnd drehte er sich zu mir um.
»Cervantes wurde vor beinahe zweihundert Jahren geboren, Sassenach, und da mir eine umfassende Bildung zuteil wurde, kenne ich diesen Herrn. Du wirst doch mit deiner Bemerkung nicht etwa auf mich anspielen wollen?«
»Schmerzt dein Rücken?«
Er hob probeweise die Schultern. »Nicht sehr. Ein paar blaue Flecken, vermute ich.«
»Jamie, weshalb, um Himmels willen, war das nötig?« brach es aus mir heraus.
Er stützte das Kinn auf seine verschränkten Hände. Da er den Kopf zur Seite neigte, wirkten seine Augen noch schräger als sonst und durch sein Lächeln schmal wie Schlitze.
»Murtagh hat es genossen. Diese Tracht Prügel war schon lange fällig - seit ich als Neunjähriger Honigwaben in seine Stiefel gelegt habe, die er ausgezogen hatte, um sich die Füße zu kühlen. Er hat mich damals nicht erwischt, aber ich habe eine Menge neuer und interessanter Wörter gelernt, während er barfuß hinter mir herjagte. Er...«
Ich unterbrach seinen Wortschwall, indem ich ihm einen festen Klaps auf die Schulter gab. Mit einem überraschten »Autsch!« knickte er seinen Arm ein und rollte auf die Seite.
Ich schlang ihm einen Arm um die Hüfte. Sein breiter Rücken verdeckte mir den Blick auf die Sterne. Ich küßte ihn zwischen die Schultern. Dann holte ich Luft und blies ihm sanft meinen kühlenden Atem auf die Haut. Er bekam eine Gänsehaut, und der feine Haarflaum entlang seines Rückgrats stellte sich auf.
»Warum?« wiederholte ich. Ich legte mein Gesicht auf seinen heißen Rücken. Die Narben konnte ich in der Dunkelheit nicht sehen, aber ich spürte sie als dünne, feste Streifen unter meiner Wange.
»Also«, begann er, dann verfiel er in ein nachdenkliches Schweigen.
»Ich weiß auch nicht genau, Sassenach«, fuhr er nach einer Weile fort. »Vielleicht dachte ich, ich sei es dir schuldig. Oder mir selbst.«
»Mir nicht.«
»Aye? Ist es etwa die feine Art, der eigenen Ehefrau in Anwesenheit von dreißig Männern die Kleider vom Leib zu reißen?« Seine Stimme klang jetzt bitter. Sanft drückte ich meine Hände gegen seinen Rücken, um ihn zu beschwichtigen. »Gehört es sich für einen tapferen Krieger, gegen einen gefangenen Feind Gewalt zu gebrauchen, zudem gegen ein Kind? Und noch schlimmere Dinge in Erwägunge zu ziehen?«
»Wäre es besser gewesen, mich - oder ihn - zu schonen und dafür in den nächsten zwei Tagen die Hälfte deiner Männer zu verlieren? Du konntest - du kannst es dir nicht leisten, dich von vornehmer Rücksichtnahme leiten zu lassen.«
»Nein«, sagte er leise. »Nein. Ich muß der Pflicht und der Ehre gehorchen und für den Sohn meines Königs in den Kampf ziehen. Gleichzeitig aber muß ich versuchen, die Sache, der ich mich verschworen habe, in ihr Gegenteil zu verkehren. In meiner Hand liegt das Leben derer, die ich liebe - ich verrate die Ehre, damit diejenigen, die ich ehre, am Leben bleiben.«
»Im Namen der Ehre sind schon viele Menschen getötet worden«, bemerkte ich zu Jamie, der mir immer noch den Rücken zuwandte. »Sinnlose Verteidigung der Ehre ist... Dummheit. Eine heldenhafte Dummheit zwar, aber trotzdem eine Dummheit.«
»Aye, das stimmt. Und das wird sich ändern, wie du mir gesagt hast. Aber wenn ich zu den ersten gehöre, die die Ehre der Vernunft opfern... soll ich mich nicht dafür schämen?« Er drehte sich um und sah mich bekümmert an.
»Ich kehre nicht um - ich kann gar nicht mehr. Aber manchmal, Sassenach, manchmal trauere ich dem Teil meines Selbst nach, den ich verloren habe.«
»Daran bin ich schuld«, sagte ich leise. Ich strich ihm über das Gesicht, die dichten Augenbrauen, den großen Mund und das Kinn mit den Bartstoppeln. »Ich allein. Wenn ich nicht gekommen wäre... dir nicht gesagt hätte, was geschehen wird...« Ich empfand tiefes Bedauern; auch mir tat es leid, daß er sein unbefangenes, ritterliches Wesen verloren hatte. Und dennoch... hätten wir beide, die wir nun einmal nicht aus unserer Haut konnten, eine andere Wahl gehabt? Ich hatte ihm sagen müssen, was ich wußte, und er hatte darauf reagieren müssen. Ein Spruch aus dem Alten Testament ging mir durch den Kopf: »Schweigt vor mir, damit ich reden kann, dann komme auf mich, was mag.«
Jamie griff die biblische Assoziation auf, als hätte er den Spruch gehört. »Ach, na ja«, sagte er, »meines Wissens hat Adam Gott nicht gebeten, Eva wieder von ihm zu nehmen, er hat sich nicht darüber beschwert, was sie ihm angetan hat.« Er beugte sich über mich und küßte meine Stirn, als ich lachte. Dann zog er mir die Decke über die nackten Schultern. »Schlaf jetzt, meine liebe Rippe. Morgen werde ich eine Gefährtin benötigen.«
 
Ein seltsames metallisches Geräusch weckte mich. Ich spitzte unter der Decke hervor und sah in die Richtung, aus der der Lärm kam.
»Bist du wach?« Etwas silbrig Glänzendes, Klirrendes senkte sich vor meinem Gesicht herab, und ein schweres Gewicht legte sich um meinen Hals.
»Was ist das, um Himmels willen?« fragte ich erstaunt und hob den Kopf. Ich schien eine Halskette aus vielen, fünf Zentimeter großen Metallgliedern, die auf einen ledernen Schnürsenkel gefädelt waren, zu tragen. Einige der Glieder waren an der Spitze verrostet, andere nagelneu. Alle wiesen Kratzer auf, als hätte man sie aus einem größeren Ganzen herausgerissen.
»Kriegstrophäen, Sassenach«, erklärte Jamie.
Ich sah zu ihm auf und stieß einen Laut des Entsetzens aus.
»Oh«, sagte er und strich sich übers Gesicht. »Das habe ich ganz vergessen. Ich hatte keine Zeit, es abzuwaschen.«
»Du hast mich zu Tode erschreckt«, erwiderte ich und griff mir an mein pochendes Herz. »Was ist denn das?«
»Ruß«, sagte er mit einer Stimme, die durch das Tuch, mit dem er sich das Gesicht abrieb, gedämpft wurde. Als er es vom Gesicht nahm, lächelte er mich an. Von Nase, Kinn und Stirn hatte er sich die Farbe bis auf ein paar Streifen abgewischt, aber seine Augen waren noch immer schwarzumrandet wie die eines Waschbären. Es dämmerte, und im fahlen Licht, das im Zelt herrschte, hob sich sein Gesicht kaum von der Leinwand hinter ihm ab. Ich hatte den höchst unangenehmen Eindruck, mit einem Menschen ohne Kopf zu sprechen.
»Das war doch deine Idee«, sagte er.
»Meine Idee? Du siehst aus wie ein Weißer, der sich als Mohr verkleidet hat«, erwiderte ich. »Was hast du bloß getrieben?«
Er lächelte und zeigte dabei seine Zähne, die strahlendweiß aus seinem rußverschmierten Gesicht hervorblitzten.
»Überfallkommando«, erwiderte er zufrieden grinsend.
»O Gott«, rief ich entsetzt. »Du warst im englischen Lager? Um Himmels willen! Hoffentlich nicht allein?«
»Dieses Vergnügen konnte ich meinen Männern doch nicht vorenthalten, oder? Drei von ihnen sind hiergeblieben, um dich zu bewachen, und wir anderen hatten eine wirklich sehr einträgliche Nacht.« Stolz deutete er auf meine Halskette.
»Vorsteckstifte für die Transportkarren. Wir konnten die Kanonen nicht mitnehmen oder sie zerstören, ohne viel Lärm zu machen. Aber ohne Räder kommen sie nicht weit. Die sechzehn Schnellfeuerkanonen werden jedenfalls niemals bei General Cope eintreffen.«
Kritisch betrachtete ich meine Halskette.
»Das ist schön und gut, aber glaubst du nicht, daß sie neue Vorsteckstifte anfertigen können? So etwas läßt sich doch sicher aus starkem Draht herstellen.«
Selbstzufrieden nickte er.
»Aye. Natürlich kann man das. Aber ohne neue Räder, an denen sie sie befestigen können, wird es ihnen nichts nutzen.« Er schlug die Zeltklappe zurück und deutete zum Fuß des Berges. Dort erblickte ich Murtagh, schwarz wie ein verhutzelter Teufel, der eine Reihe geschäftig wirkender Unterteufel befehligte. Mit großer Fröhlichkeit warfen sie gerade das letzte von zweiunddreißig riesigen hölzernen Rädern in die tosenden Flammen. Neben dem Feuer lagen eiserne Radreifen aufeinandergeschichtet. Fergus, Kincaid und ein anderer junger Mann spielten mit einem eisernen Reifen, indem sie ihn mit Stöcken hin und her rollten. Ross saß auf einem Baumstamm, trank aus einem Horngefäß und drehte mit seinen stämmigen Armen einen anderen Reifen auf der Stelle.
Bei diesem Anblick mußte ich unwillkürlich lachen.
»Jamie, du bist wirklich ein kluger Bursche!«
»Das mag sein«, erwiderte er, »aber du bist halbnackt, und wir müssen aufbrechen. Zieh dich schnell an. Wir haben die Wachen in einem verlassenen Schafpferch festgebunden, aber die anderen sind jetzt sicher schon wach und uns auf den Fersen. Wir müssen verschwinden.«
Wie zur Bekräftigung seiner Worte begann das Zelt zu wackeln. Jemand band draußen die Seile los. Ich stieß vor Schreck einen Schrei aus und wühlte nach den Satteltaschen, während Jamie das Zelt verließ, um den Aufbruch zu überwachen.
 
Es war bereits später Nachmittag, als wir Tranent erreichten. Das verschlafene Dorf in den Bergen über dem Meer war fest in der Hand der Hochlandarmee. Der größte Teil des Heeres lagerte zwar in den Bergen hinter den Häusern, die auf die schmale, bis zur Küste verlaufende Ebene blickten, doch das ständige Kommen und Gehen ließen Tranent nicht zur Ruhe kommen. Ständig trafen mehr oder weniger militärisch wirkende neue Truppeneinheiten ein, Kundschafter und Boten - manche auf Ponys, andere auf Schusters Rappen - eilten hin und her, die Frauen und Kinder der Soldaten und die Marketenderinnen saßen in und vor den Katen und fragten die vorbeieilenden Boten nach den neuesten Nachrichten.
Am Rande dieses Tohuwabohus hielten wir an, und Jamie schickte Murtagh aus, um nach Lord George Murray zu suchen, dem Oberbefehlshaber des Heeres. Jamie selbst machte sich in einer der Katen frisch.
Auch mein Äußeres ließ zu wünschen übrig. Ich hatte mich zwar nicht mit Ruß beschmiert, doch nach mehreren Nächten im Freien war mein Gesicht ebenfalls von schwarzen Streifen geziert. Die Frau des Hauses reichte mir freundlich ein Handtuch und einen Kamm, und ich saß gerade am Tisch, um den Kampf mit meinen Locken aufzunehmen, als die Tür mit einem Schwung aufging und Lord George höchstpersönlich eintrat.
Der Lord, gewöhnlich von untadeligem Äußeren, war zerzaust, mehrere Knöpfe seiner Weste standen offen, seine Halsbinde hing herab, und ein Strumpfband war lose. Seine Perücke hatte er kurzerhand in die Hosentasche gesteckt, und seine schütteren braunen Locken standen in alle Richtungen ab, als hätte er sich vor Verzweiflung die Haare gerauft.
»Gott sei Dank!« rief er. »Endlich ein vernünftiges Gesicht!« Dann beugte er sich vor und betrachtete Jamie blinzelnd. Der hatte sich zwar fast den ganzen Ruß aus dem rotflammenden Haar gewaschen, doch graue Rinnsale rannen sein Gesicht hinunter und tropften auf sein Hemd. Seine Ohren, die er in der Hast vergessen hatte zu waschen, waren noch pechschwarz.
»Was...«, begann der verblüffte Lord George. Doch dann unterbrach er sich und schüttelte den Kopf, als wollte er ein Hirngespinst vertreiben.
»Wie geht’s, Sir?«« fragte Jamie respektvoll und tat so, als hätte er das mit einem Band zusammengehaltene Zopfende der Perücke nicht gesehen, das aus Lord Georges Hosentasche herausspitzte und wie der Schwanz eines Hündchens wedelte, während sein Besitzer heftig gestikulierte.
»Wie es geht?« wiederholte der Lord. »Ach, ich kann Ihnen sagen, Sir! Einmal nach Osten, und dann wieder nach Westen, und dann kommt die Hälfte hier runter, um zu Mittag zu essen, und unterdessen marschiert die andere Hälfte weiß der Teufel wohin. So geht es!«
»Damit meine ich die treue Hochlandarmee Seiner Hoheit«, fuhr er fort, nachdem er sich durch seinen plötzlichen Ausbruch Luft gemacht hatte. Er schien sich beruhigt zu haben, denn jetzt berichtete er, was sich seit der Ankunft der Truppen in Tranent tags zuvor ereignet hatte.
Lord George, der zusammen mit der Armee angekommen war, hatte die meisten Männer im Dorf gelassen und sich mit einem kleinen Trupp aufgemacht, um auf dem Bergkamm oberhalb der Ebene Stellung zu beziehen. Prinz Charles, der später eingetroffen war, war von dieser Aktion ganz und gar nicht angetan gewesen und hatte dies laut und öffentlich kundgetan. Seine Hoheit war dann mit der Hälfte der Armee Richtung Westen gezogen, und der Herzog von Perth - nominell der zweite Oberbefehlshaber - hatte sich widerspruchslos gefügt. Sie wollten die Möglichkeit erkunden, von Preston aus anzugreifen.
Da nun die Armee zweigeteilt war und Lord George alle Hände voll zu tun hatte, von den Dorfbewohnern Erkundungen über das umliegende Gelände einzuholen, war O’Sullivan, einer der irischen Vertrauten des Prinzen, auf die kluge Idee verfallen, ein Kontingent von Lochiel Camerons Clansmännern auf den Kirchhof von Tranent zu beordern.
»Cope hat sie natürlich beschossen«, fuhr Lord George grimmig fort. »Und Lochiel hat mir heute nachmittag höllisch zugesetzt. Verständlicherweise war er furchtbar aufgeregt, weil viele seiner Männer sinnlos verwundet worden sind. Er bat darum, sie aus dem Kampf zurückziehen zu dürfen, und ich stimmte dem natürlich zu. Und da kommt doch der Speichellecker Seiner Hoheit, O’Sullivan - das Ekel! Nur weil er mit Seiner Hoheit in Eriskay an Land gegangen ist, glaubt der Kerl, er - na ja, er jammert, daß die Anwesenheit der Camerons im Kirchhof unbedingt erforderlich sei - man beachte, unbedingt erforderlich! -, wenn wir von Westen her angreifen. Habe ihm unmißverständlich gesagt, daß wir von Osten her angreifen, wenn überhaupt. Was aber im Augenblick zweifelhaft ist, da wir nicht wissen, wo sich die eine Hälfte unserer Soldaten befindet. Von Seiner Hoheit ganz zu schweigen«, fuhr er in einem Tonfall fort, der klarmachte, daß der Verbleib von Prinz Charles für ihn von rein akademischem Interesse war.
»Und dann die Clanoberhäupter! Per Los hatte die Camerons die Ehre getroffen, in der Schlacht - vorausgesetzt, daß es zu einer solchen überhaupt kommt - auf dem rechten Flügel zu kämpfen. Die MacDonalds, die sich ursprünglich damit einverstanden erklärt hatten, bestreiten jetzt energisch, ihre Zustimmung gegeben zu haben, und drohen, überhaupt nicht zu kämpfen, falls ihnen ihr traditionelles Recht genommen wird, auf der rechten Flanke in die Schlacht zu ziehen.«
Lord George, der seinen Bericht mit einer gewissen Ruhe begonnen hatte, wurde immer aufgebrachter. Jetzt sprang er auf und kratzte sich mit beiden Händen den Kopf.
»Wir haben die Camerons den ganzen Tag lang exerzieren lassen. Durch das dauernde Hin und Her können sie inzwischen ihren Schwanz nicht mehr von ihrem Arsch unterscheiden - verzeihen Sie die Bemerkung, Madam«, fügte er mit einem zerstreuten Blick auf mich hinzu. »Und Clanranalds Männer«, fuhr er fort, »prügeln sich unterdessen mit den Männern von Glengarry.« Er hielt inne. Sein Gesicht war rot vor Zorn. »Wenn es nicht Glengarry wäre, würde ich... na ja, lassen wir das.« Er machte eine abfällige Handbewegung und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer.
»Die Sache hat einzig den Vorteil«, sagte er, »daß die Engländer aufgrund unserer Truppenbewegungen ebenfalls durcheinander geraten sind. Cope hat mit seiner gesamten Streitmacht nicht weniger als viermal die Richtung wechseln müssen, und seine rechte Flanke steht jetzt beinahe unten am Meer. Er fragt sich zweifellos, was in Gottes Namen wir als nächstes vorhaben.« Er beugte sich nach vorne und sah aus dem Fenster, als erwartete er, General Cope höchstpersönlich käme die Hauptstraße entlang, um sich zu erkundigen.
»Wo genau befindet sich denn Ihre Truppenhälfte, Sir?« Jamie sprang auf, als wollte er sich dem Lord bei seiner Wanderung durchs Zimmer anschließen, doch ich hielt ihn am Kragen fest. Mit einem Handtuch und einer Schüssel warmem Wasser hatte ich mich während der Ausführungen Seiner Lordschaft bemüht, den Ruß von Jamies Ohren zu waschen. Jetzt glühten sie blitzblank und rot.
»Am Bergkamm südlich der Ortschaft.«
»Dann halten wir also weiterhin das obere Gelände?«
»Ja, das klingt gut, nicht wahr?« Seine Lordschaft lächelte ein wenig. »Doch das nutzt uns herzlich wenig, denn das Gelände unterhalb des Hanges ist voller Tümpel und Sümpfe. Zu allem Überfluß zieht sich ein zwei Meter tiefer, dreißig Meter langer und mit Wasser gefüllter Graben den Fuß des Berges entlang! Zwar liegen im Augenblick nur knapp fünfhundert Meter zwischen den beiden Truppen, doch es könnten genausogut auch fünfhundert Kilometer sein.« Lord George wühlte in seiner Hosentasche, aber statt eines Taschentuchs hielt er plötzlich seine Perücke in der Hand. Er starrte sie verdutzt an. Es hätte nicht wenig gefehlt, und er hätte sich damit übers Gesicht gewischt.
Ich reichte ihm dezent mein rußiges Taschentuch. Er schloß die Augen und holte tief Luft; dann sah er mich an und verbeugte sich vor mir mit seiner gewohnten Höflichkeit.
»Ihr Diener, Madam.« Er wischte sich mit dem schmutzigen Tuch übers Gesicht, gab es mir zurück und setzte sich die zerzauste Perücke auf den Kopf.
»Verdammt will ich sein«, rief er, »wenn ich tatenlos zusehe, wie uns der Narr ins Unglück führt!« Er wandte sich entschlossen an Jamie.
»Fraser, wie viele Männer haben Sie?«
»Dreißig, Sir.«
»Pferde?«
»Sechs, Sir. Dazu noch vier Ponys als Packtiere.«
»Packtiere? Aha. Mit Verpflegung für die Männer?«
»Ja, Sir. Außerdem sechzig Sack Mehl, die wir letzte Nacht einem englischen Bataillon abgenommen haben. Ach ja, und dann noch einen Sechzehn-Zoll-Mörser.«
Jamie sprach den letzten Satz mit solcher Beiläufigkeit, daß ich ihm am liebsten das Taschentuch in den Mund gestopft hätte. Lord George starrte ihn einen Moment lang überrascht an, dann verzog er den Mund zu einem Grinsen.
»Ach? Gut, dann kommen Sie mit, Fraser. Sie können mir unterwegs mehr davon erzählen.« Er wandte sich zur Tür, Jamie ergriff seinen Hut, sah mich mit großen Augen an und folgte ihm.
An der Tür der Kate blieb Lord George plötzlich stehen und drehte sich um. Er musterte Jamies hünenhafte Gestalt von oben bis unten, den offenen Hemdkragen, den hastig über den Arm gelegten Mantel.
»Mag sein, daß wir es eilig haben, Fraser, aber uns bleibt allemal die Zeit, daß wir uns wie zivilisierte Menschen benehmen. Geben Sie Ihrer Frau einen Abschiedskuß. Ich warte draußen.«
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und machte vor mir einen Kratzfuß. Er verbeugte sich so tief, daß der Zopf seiner Perücke mit einem Schwung nach vorn schnellte.
»Ihr Diener, Madam.«
 
Ich kannte mich soweit mit dem Militär aus, um zu wissen, daß sich in der nächsten Zeit nichts Besonderes ereignen würde, und so war es dann auch. Männer schlenderten in Gruppen die einzige Straße des Dorfes hinauf und hinunter. Soldatenfrauen, Marketenderinnen und die aus ihren Häusern vertriebenen Bewohner von Tranent liefen ziellos herum. Dazwischen galoppierten berittene Boten mit Nachrichten durch die Menge.
Ich hatte Lord George schon in Paris kennengelernt. Er war kein Mann, der sich lange mit Förmlichkeiten aufhielt, wenn rasches Handeln geboten war. Dennoch hatte er Jamie wohl eher deshalb persönlich begrüßt, weil er seiner Gereiztheit über den Prinzen Ausdruck verleihen und O’Sullivans Gesellschaft entfliehen wollte, und nicht, weil er rasch und vertraulich den nächsten Schritt planen wollte. Wenn die Gesamtstärke der Hochlandarmee zwischen fünfzehnhundert und zweitausend Mann betrug, mußten dreißig Männer weder als Geschenk des Himmels betrachtet noch mit einem Hohnlächeln abgetan werden.
Als mein Blick auf Fergus fiel, der herumzappelte, als hätte er den Veitstanz, entschied ich, daß ich selbst auch ein paar Nachrichten schicken könnte. In Abwandlung des Spruchs »Unter den Blinden ist der Einäugige König« sagte ich mir: »Wenn keiner weiß, was zu tun ist, ist ein vernünftiger Vorschlag Gold wert.«
In den Satteltaschen fand ich Papier und Tinte. Beinahe ehrfürchtig sah die Frau des Hauses, die vermutlich noch nie in ihrem Leben eine des Schreibens kundige Frau getroffen hatte, mir zu, wie ich einen Brief an Jenny Cameron verfaßte. Jenny hatte die dreihundert Clansmänner höchstpersönlich über die Berge geführt, um sich Prince Charles anzuschließen, nachdem er sein Banner an der Küste aufgepflanzt hatte. Als ihr Bruder nach Hause kam und hörte, was geschehen war, ritt er eilends nach Glenfinnan, um seinen Platz als Clanoberhaupt einzunehmen. Doch Jenny lehnte es ab, nach Hause zurückzukehren und sich den Spaß entgehen zu lassen. Sie hatte den kurzen Zwischenaufenthalt in Edinburgh, wo Charles die Huldigung seiner Getreuen entgegennahm, in vollen Zügen genossen, war aber auch bereit, ihren Prinzen in die Schlacht zu begleiten.
Ich besaß kein Siegel, doch in einer der Satteltaschen befand sich Jamies Mütze, an der eine Plakette mit dem Wappen und dem Leitspruch des Fraser-Clans angebracht war. Ich holte sie heraus und drückte die Plakette in das warme Kerzenwachs, mit dem ich den Brief versiegelt hatte. Es sah richtig amtlich aus.
»Für die schottische Dame mit den Sommersprossen«, wies ich Fergus an, und zufrieden beobachtete ich, wie er davoneilte und im Menschengetümmel der Straße verschwand. Ich hatte keine Ahnung, wo sich Jenny im Augenblick befand, aber die Offiziere hatten ihr Quartier im Pfarrhaus neben der Kirche aufgeschlagen. Dort konnte Fergus mit seiner Suche beginnen. Das würde ihn jedenfalls davon abhalten, auf dumme Gedanken zu kommen.
Nachdem ich dies erledigt hatte, wandte ich mich an die Hausfrau.
»Nun denn«, sagte ich, »was haben Sie an Decken, Servietten und Unterröcken?«
Bald stellte sich heraus, daß ich Jenny Cameron richtig eingeschätzt hatte. Eine Frau, die dreihundert Männer um sich versammeln und über die Berge führen konnte, um für einen Gecken mit italienischem Akzent und einer Schwäche für Weinbrand zu kämpfen, mußte sowohl über Tatkraft als auch über die seltene Begabung verfügen, andere so einzuschüchtern, daß sie ihre Befehle befolgten.
»Sehr vernünftig«, meinte sie, als sie von meinem Plan hörte. »Mein Bruder Archie hat vermutlich Vorkehrungen getroffen, aber er möchte natürlich am liebsten bei der Armee sein.« Entschlossen schob sie das Kinn vor. »Denn dort spielt die Musik«, ergänzte sie sarkastisch.
»Es wundert mich, daß Sie nicht darauf bestanden haben mitzugehen«, sagte ich.
Sie lachte. Ihr kleines reizloses Gesicht mit dem vorstehenden Unterkiefer ließ sie wie eine gutmütige Bulldogge aussehen.
»Ich würde schon, wenn ich dürfte, aber ich darf nicht«, gab sie offen zu. »Jetzt, wo Hugh da ist, will er mich ständig überreden, nach Hause zu gehen. Aber ich will«, sie blickte sich um, ob wir nicht belauscht würden, und senkte vertraulich die Stimme, »verdammt sein, wenn ich zu Hause herumsitze, wo ich mich hier nützlich machen kann.«
Sie stand auf der Türschwelle der Kate und blickte nachdenklich auf die Straße.
»Ich glaube nicht, daß sie auf mich hören würden«, sagte ich. »Schließlich bin ich Engländerin.«
»Aye, das stimmt wohl«, sie nickte, »aber mein Wort hat Gewicht. Ich weiß nicht, wie viele Verwundete es geben wird. Gebe Gott, daß es nicht viele sind.« Sie bekreuzigte sich flüchtig. »Wir fangen am besten mit den Häusern in der Nähe des Pfarrhauses an; es wird dort weniger schwer sein, Wasser aus dem Brunnen zu holen.« Entschlossen trat sie aus der Tür und machte sich auf den Weg. Ich folgte ihr.
Uns kam nicht nur die Überzeugungskraft von Miß Cameron zugute, sondern auch die Tatsache, daß Dasitzen und Warten für Männer eine der entsetzlichsten Beschäftigungen überhaupt ist - Frauen tun das weitaus öfter. Als die Sonne hinter der Dorfkirche von Tranent verschwunden war, hatten wir bereits eine Art Krankenhausbrigade auf die Beine gestellt.
Die Blätter fielen von den Lärchen und Erlen im nahegelegenen Wald und blieben gelb und flach auf dem sandigen Boden liegen. Ab und zu wurde ein gekräuseltes braunes Blatt vom Wind davongetrieben wie ein Kahn im aufgewühlten Meer.
Wenn ich die Augen vor dem Licht der untergehenden Sonne beschattete, konnte ich den Berghang hinter dem Ort sehen, wo die Hochlandarmee ihr Lager aufgeschlagen hatte. Seine Hoheit war vor einer Stunde mit der anderen Hälfte der Armee zurückgekehrt, um sich Lord George anzuschließen. Ich konnte einzelne Gestalten erkennen, die sich als winzige schwarze Schatten vor dem verblassenden Himmel abzeichneten. Ein paar hundert Meter jenseits der Straße sah ich den schwachen Schein der ersten englischen Feuer. Der schwere Qualm brennenden Torfes aus den Katen und der herbere Geruch der englischen Holzfeuer überlagerte den des Meeres.
Die Frauen und Familien der Hochlandsoldaten waren in den Häusern entlang der Hauptstraße gastfreundlich aufgenommen worden. Sie teilten mit ihren Gastgebern das karge Mahl aus Haferbrei und Salzhering. Auch für mich stand ein Abendessen bereit, obwohl ich kaum Appetit hatte.
»Wollen Sie nicht hereinkommen, Madame? Die Frau hat Essen für Sie bereitgestellt.« Es war Fergus, der plötzlich neben mir aufgetaucht war.
»Oh? Ja, natürlich. Ja, ich komme.« Ich warf einen letzten Blick auf den Berghang, dann wandte ich mich zu der Kate.
»Kommst du auch, Fergus?« fragte ich, als ich sah, wie er mitten auf der Straße stehenblieb und angestrengt beobachtete, was auf dem Berg vor sich ging. Jamie hatte ihm die strenge Anweisung gegeben, bei mir zu bleiben, doch er wünschte sich offenbar nichts sehnlicher, als bei den Kriegern zu sein, die sich auf die Schlacht am folgenden Tag vorbereiteten.
»Wie? Ja, Madame.« Mit einem Seufzen drehte er sich um, denn für den Augenblick mußte er sich mit einem langweiligen Frieden zufriedengeben.
 
Die Sommertage waren vorüber, jetzt begann die Zeit der langen Abende. Die Lampen wurden bereits angezündet, bevor wir unsere Arbeiten erledigt hatten. Auch nach Einbruch der Dunkelheit herrschte draußen eine ständige Unruhe, und am Horizont war der Widerschein der Feuer zu sehen. Fergus, der nicht stillsitzen konnte, lief von einer Kate zur anderen, überbrachte Botschaften und schnappte Gerüchte auf. Immer wieder sprang er wie ein Kobold aus den Schatten.
»Madame«, sagte er und zupfte mich am Ärmel. Ich war gerade damit beschäftigt, Leinen in Streifen zu reißen, die dann sterilisiert werden sollten. »Madame!«
»Was ist denn jetzt schon wieder los, Fergus?« fragte ich leicht verstimmt über die Störung. Gerade war ich dabei, einigen Hausfrauen auseinanderzusetzen, wie wichtig es war, sich bei der Behandlung von Verwundeten häufig die Hände zu waschen.
»Ein Mann, Madame. Er möchte mit dem Kommandanten der Armee Seiner Hoheit sprechen. Er besitzt wichtige Informationen, sagt er.«
»Dann soll er sich nicht aufhalten lassen.« Ich zerrte erfolglos an einer widerspenstigen Hemdennaht, dann nahm ich die Zähne zu Hilfe. Der Stoff riß mit einem lauten Ratsch.
Ich spuckte ein paar Fädchen aus. Fergus stand immer noch neben mir und wartete geduldig.
»Gut«, sagte ich resigniert. »Was kann ich deiner - oder seiner - Meinung nach unternehmen?«
»Wenn Sie erlauben, Madame«, schlug Fergus eifrig vor, »bringe ich ihn zu meinem Herrn. Er könnte ein Treffen mit dem Kommandanten arrangieren.«
»Er«, das war Fergus’ felsenfeste Überzeugung, konnte einfach alles: auf dem Wasser gehen, Wasser in Wein verwandeln und zweifellos auch Lord George dazu bewegen, mit geheimnisvollen Fremden zu sprechen, die so mir nichts dir nichts mit wichtigen Informationen auftauchten.
Ich strich mir das Haar aus der Stirn. Zwar trug ich ein Kopftuch, doch immer wieder rutschten meine widerspenstigen Locken darunter hervor.
»Ist der Mann hier in der Nähe?«
Das war das Stichwort, auf das Fergus gewartet hatte; er verschwand durch die offene Tür und kam einen Augenblick später mit einem schmächtigen Bürschchen herein, das seinen eifrigen Blick sofort auf mich heftete.
»Mistress Fraser?« Er verbeugte sich unbeholfen, als ich nickte, und rieb sich die Hände an seiner Hose ab, als wüßte er nicht, was er mit ihnen anfangen sollte, aber als wolle er startbereit sein, wenn deren Einsatz gefordert wäre.
»Ich... ich bin Richard Anderson aus Whitburgh.«
»Aha? Schön für Sie«, erwiderte ich höflich. »Mein Diener sagt, Sie hätten wertvolle Nachrichten für Lord George Murray.«
Er nickte eifrig. »Sehen Sie, Mistress Fraser, ich stamme aus dieser Gegend und... ich kenne die Gegend, in der die Armeen lagern, wie meine Westentasche. Es gibt einen Weg von dem Hang, an dem sich die Hochlandtruppen befinden - einen Weg, der am Wassergraben vorbeiführt.«
»Ich verstehe.« Ich spürte, wie mir flau im Magen wurde. Wenn die Hochlandtruppen am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang angreifen wollten, so mußten sie den Berg in der Nacht verlassen. Und wenn der Angriff erfolgreich sein sollte, mußten sie den Graben entweder überqueren oder umgehen.
Sicher, ich hatte geglaubt zu wissen, was passieren würde, aber jetzt tappte ich völlig im dunkeln. Da ich mit einem Historiker verheiratet gewesen war - bei dem Gedanken an Frank spürte ich wieder einen leichten Stich -, wußte ich, wie unzuverlässig historische Quellen oft waren. Außerdem hatte ich keine Ahnung, ob meine Anwesenheit den Verlauf der Dinge beeinflussen würde oder nicht.
Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, was geschehen würde, wenn ich das Gespräch zwischen Richard Anderson und Lord George verhindern würde. Würde das den Ausgang der morgigen Schlacht ändern? Würde die Hochlandarmee - und damit auch Jamie und seine Männer - im sumpfigen Gelände niedergemetzelt werden? Würde Lord George einen anderen Plan vorlegen, der zum Sieg führte? Oder würde Richard Anderson auf eigene Faust versuchen, mit Lord George zu sprechen, unabhängig davon, wie ich mich verhielt?«
Dieses Risiko wollte ich nur um eines Experiments willen nicht eingehen. Ich sah Fergus an, der ungeduldig von einem Bein aufs andere trat.
»Glaubst du, du kannst deinen Herrn finden? Dort oben auf dem Berghang ist es dunkel wie in einer Kohlengrube. Und ich möchte nicht, daß einer von euch versehentlich erschossen wird.«
»Ich finde ihn schon, Madame«, beschwichtigte mich Fergus. Das war wohl richtig. Fergus besaß so etwas wie eine Radarantenne, die auf Jamie ausgerichtet war.
»Also gut«, stimmte ich zu. »Aber sei um Gottes willen vorsichtig.«
»Oui, Madame!« Blitzschnell war er an der Tür und huschte hinaus.
Eine halbe Stunde, nachdem die beiden gegangen waren, sah ich, daß mit Fergus auch das Messer, das ich auf dem Tisch liegengelassen hatte, verschwunden war. Und erst in diesem Augenblick fiel mir siedendheiß ein, daß ich ihn zwar zur Vorsicht ermahnt, jedoch ganz vergessen hatte, ihm zu sagen, er solle zurückkommen.
 
Die erste Kanone ging kurz vor Morgengrauen los. Der dumpfe Knall erschütterte die Dielenbretter, auf denen ich schlief. Ich schreckte auf und ergriff die Hand der Frau, die neben mir schlief. Eigentlich sollte man meinen, man wäre gewappnet, wenn man vorher weiß, daß etwas geschehen wird, doch dem ist nicht so.
Aus einer Ecke der Kate drang ein leises Stöhnen. »Heilige Maria, heiliger Michael, heilige Bride, schütze uns«, murmelte die Frau neben mir. Hastig standen die Frauen auf; sie sprachen kaum, sondern lauschten auf die Geräusche, die von der Schlacht unten in der Ebene heraufdrangen.
Die Frau eines der Hochlandschotten, Mrs. MacPherson, faltete neben dem Fenster ihre Decke zusammen. In ihrem Gesicht stand die nackte Angst geschrieben, und sie schloß schaudernd die Augen, als ein weiterer gedämpfter Knall ertönte.
Es war also doch nützlich, mehr zu wissen. Diese Frauen hatten keine Ahnung von geheimen Pfaden, von Angriffen im Morgengrauen und überraschenden Niederlagen. Sie wußten lediglich, daß ihre Männer und Söhne im Augenblick dem Kanonen- und Musketenfeuer einer englischen Armee gegenüberstanden, die viermal so groß war wie ihre eigene.
Weissagungen sind immer eine ziemlich riskante Sache, und mir war klar, daß sie mir nicht glauben würden. Und so blieb mir nur übrig, sie durch Arbeit abzulenken. Flüchtig schoß mir ein Bild durch den Kopf: ein von der aufgehenden Sonne angestrahlter Haarschopf, der eine ausgezeichnete Zielscheibe abgab. Gleich darauf ein zweites Bild: ein Junge mit Eichhörnchenzähnen, bewaffnet mit einem gestohlenen Metzgermesser und einer unbeschwerten Vorstellung von der Herrlichkeit des Krieges. Ich schloß die Augen und schluckte. Ablenkung war auch für mich das beste.
»Meine Damen!« sagte ich. »Wir haben schon viel getan, aber wir sind noch lange nicht fertig. Wir werden kochendes Wasser benötigen. Kessel zum Wasserkochen und Rahmtöpfe zum Einweichen. Haferbrei für die, die essen können; Milch für die anderen. Talg und Knoblauch zum Verbinden der Wunden. Holzlatten für Schienen. Flaschen und Krüge, Tassen und Löffel. Nähnadeln und starken Faden. Mrs. MacPherson, wenn Sie so freundlich wären...«
 
Ich wußte vom Verlauf der Schlacht lediglich, welche Seite gewinnen und daß die Zahl der Toten auf seiten der jakobitischen Armee »gering« sein würde. Nur ein Satz war mir von jener Seite des Buches, die mir verschwommen vor Augen stand, noch in Erinnerung: »... die siegreichen Jakobiten hatten nur dreißig Opfer zu beklagen.«
Opfer. Todesopfer, korrigierte ich mich. Aber auch jeder Verwundete war ein Opfer, und als die Sonne hoch am Himmel stand, befanden sich weitaus mehr als dreißig Verwundete in unserer Kate. Langsam machten sich die Sieger auf den Heimweg nach Tranent. Die Gesunden stützten ihre verwundeten Kameraden.
Eigenartigerweise hatte Seine Hoheit angeordnet, daß die englischen Verwundeten als erste vom Schlachtfeld geholt und medizinisch versorgt werden sollten. »Sie sind die Untertanen meines Vaters«, hatte er verkündet, »und ich möchte, daß sie gut versorgt werden.« Die Tatsache, daß die Hochlandschotten, die gerade für ihn die Schlacht gewonnen hatten, ebenfalls Untertanen seines Vaters waren, schien ihm in diesem Augenblick entfallen zu sein.
»Wenn man das Verhalten von Vater und Sohn bedenkt«, sagte ich zu Jenny Cameron, als ich dies hörte, »kann die Hochlandarmee nur hoffen, daß sich heute nicht auch noch der Heilige Geist entschließt, vom Himmel herabzusteigen.«
Diese gotteslästerliche Bemerkung ließ Mrs. MacPherson vor Schreck erstarren, aber Jenny lachte.
Der Jubel und die Freudenschreie der siegreichen Hochlandschotten übertönten das schwache Stöhnen der Verwundeten, die auf behelfsmäßigen Tragen hergebracht wurden oder, noch häufiger, auf Freunde gestützt herbeihumpelten. Einige der Verwundeten schleppten sich aus eigener Kraft voran, strahlend und siegestrunken. Schmerzen und Wunden schienen da nur eine unbedeutende Nebensächlichkeit. Trotz der Verwundungen, die sie ans Krankenbett fesselten, war das ganze Haus vom Freudentaumel des Sieges und einer fröhlichen Ausgelassenheit erfüllt.
»O Gott, sie haben sich davongemacht wie Mäuschen, denen die Katze auf den Fersen ist«, sagte ein Verletzter zum anderen. Die schweren Verbrennungen an seinem linken Arm waren für den Augenblick vergessen.
»Und nicht wenige von ihnen haben wirklich den Schwanz verloren«, erwiderte sein Nachbar glucksend.
Doch die Freude war nicht ungeteilt. Hier und da waren auf den Hügeln kleine Grüppchen von Hochlandsoldaten zu sehen, die den leblosen, mit einem Plaid bedeckten Körper eines Freundes trugen.
Dies war die erste Bewährungsprobe für meine Mitarbeiterinnen, und sie trotzten der Herausforderung ebenso tapfer wie die Kämpfer auf dem Schlachtfeld. Sie sträubten sich und jammerten und gingen einander auf die Nerven, doch als es ernst wurde, stürzten sie sich voll Mut und Entschlossenheit in den Kampf.
Nicht, daß sie deshalb aufgehört hätten zu jammern.
Mrs. McMurdo kam mit einer vollen Flasche herein, die sie an den dafür vorgesehenen Nagel an der Wand hängte, und beugte sich dann hinunter zum Zuber, in dem sich die Flaschen mit Honigwasser befanden. Sie war die Frau eines Fischers aus Tranent, den man in die Schlacht geschickt hatte, und sie war zuständig dafür, daß jeder Verwundete so viel von der süßen Flüssigkeit zu sich nahm, wie er konnte. Dann machte sie, mit zwei oder drei leeren Flaschen bewaffnet, einen zweiten Rundgang, um die ausgeschiedene Flüssigkeit wieder einzusammeln.
»Wenn Sie ihnen nicht soviel zu trinken gäben, würden sie nicht soviel pissen«, klagte sie - nicht zum erstenmal.
»Sie brauchen die Flüssigkeit«, erklärte ich geduldig - ebenfalls nicht zum erstenmal. »Dadurch bleibt ihr Blutdruck stabil, und ein Teil des Blutverlustes wird ausgeglichen. Außerdem hilft es, Schock zu vermeiden - schauen Sie, gute Frau, sind Ihnen denn schon viele unter den Händen weggestorben?« fragte ich unwirsch, da mir angesichts der ständigen Zweifel und Klagen Mrs. McMurdos der Kragen platzte. Ihr beinahe zahnloser Mund verlieh ihrem mürrischen Gesicht einen traurigen Zug - es ist sowieso alles verloren, schien es sagen zu wollen; es ist nicht der Mühe wert.
»Mmmpf«, meinte sie nur. Da sie jedoch ihren Rundgang ohne weitere Proteste wieder aufnahm, deutete ich das als einstweilige Zustimmung.
Ich ging nach draußen, um Mrs. McMurdo und der schlechten Luft in der Kate zu entfliehen. Drinnen war es heiß, es roch nach Rauch und den Ausdünstungen ungewaschener Körper, und mir war ein wenig schwindelig.
Überall auf den Straßen torkelten betrunkene, mit Kriegsbeute beladene Schotten herum, die den Sieg feierten. Eine Gruppe von Männern, die den rötlichen Tartan der MacGillivrays trugen, zogen eine englische Kanone hinter sich her, die sie wie ein wildes Tier mit dicken Seilen umschlungen hatten. Die Kanone war vermutlich eines von General Copes Paradestücken.
Da erkannte ich auch den kleinen Burschen, der rittlings auf dem Kanonenrohr saß und dessen Haar nach allen Seiten abstand. Erleichtert und dankbar schloß ich die Augen, dann lief ich zu ihm hin und zerrte ihn von der Kanone.
»Du Schlingel!« rief ich und rüttelte ihn kräftig, bevor ich ihn in die Arme schloß. »Was fällt dir ein, dich einfach davonzumachen? Wenn ich nicht soviel zu tun hätte, würde ich dich jetzt ohrfeigen, bis dir der Kopf dröhnt!«
»Madame«, sagte er und zwinkerte benommen in die nachmittägliche Sonne. »Madame!«
Da merkte ich, daß er kein Wort von dem verstanden hatte, was ich gesagt hatte. »Geht es dir gut?« fragte ich etwas freundlicher.
Ein Ausdruck der Verwirrung erschien auf seinem Gesicht, das mit Schmutz und Schießpulver verschmiert war. Lächelnd nickte er.
»Ich habe einen englischen Soldaten getötet, Madame.«
»Ach!« Ich fragte mich, ob er sich nun Glückwünsche oder Trost erhoffte. Schließlich war er erst zehn.
Er runzelte die Stirn, und sein Gesicht verzog sich, als konzentrierte er sich intensiv.
»Ich glaube wenigstens, daß ich ihn getötet habe. Er fiel um, und ich erstach ihn mit meinem Dolch.« Fergus sah mich verwirrt an, als erwartete er, ich könne ihm seine Zweifel nehmen.
»Komm mit, Fergus«, antwortete ich statt dessen. »Du mußt etwas essen, und ich suche dir einen Schlafplatz. Denk nicht mehr daran.«
»Oui, Madame.« Folgsam taumelte er hinter mir her; im nächsten Augenblick würde er stürzen und aufs Gesicht fallen. Ich packte ihn und schleppte ihn mit einiger Mühe zu den Katen neben der Kirche, wo wir unser Lazarett hatten. Ich wollte ihm zuerst etwas zu essen geben, aber er schlief bereits tief und fest, als ich an die Stelle kam, wo O’Sullivan sich mit geringem Erfolg bemühte, die Verpflegung zu organisieren.
So legte ich Fergus also in einer der Katen schlafen, in der eine Frau sich um die Kinder kümmerte, deren Mütter die Verwundeten pflegten. Hier war er bestimmt gut aufgehoben.
 
Am Spätnachmittag befanden sich zwanzig bis dreißig Männer in der Kate, und meine beiden Helferinnen hatten alle Hände voll zu tun. Das Haus war groß genug für eine fünf- bis sechsköpfige Familie, doch jetzt war jeder Quadratzentimeter belegt. Durchs Fenster sah ich die Offiziere im Pfarrhaus ein und aus gehen. Dort herrschte Hochbetrieb, und ich ließ die Tür nicht aus den Augen. Doch Jamie war nicht unter den Ankömmlingen, die die Zahl der Verwundeten meldeten und Glückwünsche entgegennahmen.
Ich verdrängte meine Unruhe und Sorge, indem ich mir sagte, daß er ja auch nicht unter den Verwundeten war. Bis jetzt hatte ich keine Zeit gehabt, das kleine Zelt am Hang aufzusuchen, wo die Toten in geordneten Reihen nebeneinanderlagen, als warteten sie auf einen letzten Appell. Doch unter den Toten war er bestimmt nicht.
Bestimmt nicht, sagte ich mir.
Da ging die Tür auf, und herein kam Jamie.
Ich spürte, wie meine Knie nachgaben, als ich ihn sah, und ich streckte eine Hand aus, um mich am Kamin festzuhalten. Er hatte mich gesucht; sein Blick huschte durch das Zimmer, und als er mich entdeckt hatte, ließ ein atemberaubendes Lächeln sein Gesicht erstrahlen.
Er starrte vor Schmutz, war vom Pulverdampf geschwärzt und mit Blut bespritzt, seine bloßen Füße waren ebenfalls schmutzverkrustet. Doch er war unversehrt. Und mit unwichtigen Einzelheiten wollte ich mich nicht abgeben.
Einige der Verwundeten am Boden riefen ihm einen Gruß zu und lenkten seine Aufmerksamkeit von mir ab. Er lächelte George McClure zu, der seinen Anführer angrinste, obwohl sein eines Ohr nur noch mit einem Fetzen Haut am Kopf hing. Dann kehrte sein Blick zu mir zurück.
Gott sei Dank, sagten seine dunkelblauen Augen, und Gott sei Dank gab ihm mein Blick als Antwort zurück.
Für mehr hatten wir keine Zeit; immer wieder kamen neue Verwundete herein, und jeder halbwegs gesunde Zivilist im Dorf hatte bei der Pflege der Verwundeten irgendeine Aufgabe übernommen. Archie Cameron, Lochiels Bruder, war Arzt und eilte zwischen den Katen hin und her; er hatte offiziell die Leitung der Krankenstation inne und tat hie und da tatsächlich gute Dienste.
Ich hatte veranlaßt, daß die Männer aus Lallybroch in meine Kate gebracht wurden. Ich untersuchte sie, schickte die Leichtverletzten zu Jenny Cameron am anderen Ende der Straße und die Todgeweihten zu Archie Cameron in die Kirche. Ich traute ihm zu, Laudanum zu verabreichen, und der Kirchenraum mochte den Schwerstverletzten zusätzlich Trost spenden.
Ernste Verwundungen verarztete ich, so gut ich konnte. Knochenbrüche wurden nebenan behandelt, wo zwei Wundärzte aus dem Regiment von Macintosh Schienen und Bandagen anlegten. Soldaten mit leichteren Brustwunden wurden so bequem wie möglich an die Wand gelehnt - in sitzender Position, um ihnen das Atmen zu erleichtern. Da wir keinen Sauerstoff hatten und keine chirurgischen Eingriffe vornehmen konnten, waren meine Möglichkeiten damit erschöpft. Soldaten mit schweren Kopfverletzungen wurden zu den Sterbenden in die Kirche gebracht; ich konnte nichts für sie tun. Sie waren in Gottes Hand - wenn auch nicht in Archie Camerons Händen - besser aufgehoben.
Am schlimmsten waren verletzte und verstümmelte Gliedmaßen sowie Bauchwunden. Es gab keine Möglichkeit zur Sterilisation. Das einzige, was ich tun konnte, war, mir immer wieder die Hände zu waschen und meine Helferinnen mit finsterem Blick daran zu erinnern, das gleiche zu tun. Außerdem sorgte ich dafür, daß die Verbände, die wir benutzten, vorher ausgekocht wurden. Ich wußte, daß diese Vorkehrungen in den anderen Katen trotz meiner ständigen Ermahnungen als Zeitverschwendung betrachtet und deshalb nicht getroffen wurden. Wenn ich schon die Schwestern und Ärzte im Höpital des Anges nicht hatte überzeugen können, daß es Keime gibt, wie sollte ich dann auf die Einsicht der einfachen schottischen Landfrauen und der Wundärzte, die nebenberuflich Hufschmied waren, hoffen?
Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen, daß Männer, die man hätte heilen können, an einer Infektion starben. Wenigstens bei Jamies Gefolgsleuten und einigen anderen konnte ich dafür sorgen, daß sie mit sauberen Händen und sterilisierten Bandagen behandelt wurden. Mir über die anderen den Kopf zu zerbrechen hatte keinen Sinn. Eins hatte ich auf den Schlachtfeldern von Frankreich gelernt: Die Welt ist nicht zu retten, wohl aber der Mensch, den du vor dir hast, wenn du dich anstrengst.
Jamie blieb einen Augenblick in der Tür stehen und sah sich um, dann machte er sich daran mitzuhelfen - die Verwundeten zu betten, Kessel mit kochendem Wasser vom Feuer zu heben, sauberes Wasser aus dem Brunnen am Marktplatz zu holen. Der Sorge um ihn enthoben und vollkommen von der Arbeit in Anspruch genommen, dachte ich die meiste Zeit nicht mehr an ihn.
Ein Feldlazarett besitzt starke Ähnlichkeit mit einem Schlachthof, und auch in diesem Fall war es nicht anders. Der Fußboden bestand aus festgestampfter Erde - gar nicht so schlecht, da Blut und andere Flüssigkeiten schnell aufgesogen wurden. Andererseits verwandelte sich der feuchte Lehm in Matsch, auf dem man leicht ausglitt.
Aus den Wasserkesseln über dem Feuer stiegen Dampfschwaden auf und machten die Luft noch unerträglicher; uns allen lief der Schweiß herab. Beißender Rauch stieg vom Schlachtfeld auf, drang durch die offenen Türen der Katen herein und verunreinigte die frisch ausgekochten Leintücher, die an einem Gestell hingen, das ursprünglich zum Trocknen von Makrelen vorgesehen war.
Der Strom der Verwundeten riß nicht ab. Immer wieder schwappte eine neue Welle herein und sorgte für Unruhe und Verwirrung. Wir trotzten dem Ansturm, so gut wir es vermochten, und wenn die Welle abebbte, blieb gleichsam das Strandgut zurück. Doch auch in der größten Betriebsamkeit gibt es Augenblicke der Ruhe, und als es langsam Abend wurde, kamen allmählich weniger Verwundete. Die Versorgung der Kranken, die bei uns blieben, ging jetzt routinierter vonstatten. Nach wie vor gab es viel zu tun, aber es blieb zumindest Zeit, Luft zu schöpfen, einen Augenblick innezuhalten und sich umzusehen.
Ich stand an der offenen Tür und atmete die frische Meeresbrise ein, als Jamie mit Brennholz im Arm in die Kate zurückkehrte. Er stapelte es neben der Feuerstelle, kam zu mir und legte seine Hand auf meine Schulter.
»Warst du in den anderen Katen?« fragte ich.
Er nickte, und langsam wurde sein Atem ruhiger. Er wirkte blaß.
»Aye. Auf dem Schlachtfeld wird immer noch geplündert, und viele Männer werden noch vermißt. Unsere eigenen Verwundeten sind aber alle hier.« Er nickte zum anderen Ende des Raumes, wo die drei verwundeten Männer aus Lallybroch neben der Feuerstelle lagen oder saßen und mit den anderen Schotten gutmütige Beleidigungen austauschten. Die wenigen englischen Verwundeten in dieser Kate lagen etwas abseits, in der Nähe der Tür. Sie waren wortkarg und sinnierten über die trübe Aussicht der Kriegsgefangenschaft, die ihnen bevorstand.
»Geht es ihnen gut?« fragte er mit einem Blick auf die drei.
Ich nickte. »Es könnte sein, daß George McClure sein Ohr verliert, aber das kann ich jetzt noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber, ja, ich denke, es geht ihnen gut.«
»Gut.« Er lächelte mir müde zu und wischte sich das erhitzte Gesicht mit einem Zipfel seines Plaids ab. Er hatte sich das Plaid achtlos um den Körper geschlungen, statt es über eine Schulter zu drapieren. Wohl, damit es ihn nicht störte, aber es mußte warm sein.
Im Gehen griff er nach der Wasserflasche, die an einem Nagel über der Tür hing.
»Die nicht!« sagte ich.
»Weshalb nicht?« fragte er erstaunt. Er schüttelte sie, und es war ein schwappendes Geräusch zu hören. »Sie ist voll.«
»Das weiß ich«, sagte ich. »Ich habe sie als Urinflasche benutzt.«
»Oh.« Er hielt sie mit spitzen Fingern fest und wollte sie wieder zurückhängen, aber ich hinderte ihn daran.
»Nein, nimm sie nur«, sagte ich. »Du kannst sie draußen ausleeren, und diese kannst du vollmachen.« Ich gab ihm eine zweite graue Steingutflasche, die genauso aussah wie die erste.
»Paß auf, daß du sie nicht verwechselst«, mahnte ich hilfsbereit.
»Mmmpf«, war seine Antwort; dabei warf er mir einen typisch schottischen Blick zu und wandte sich zum Gehen.
»He!« sagte ich, als er mir den Rücken zuwandte. »Was ist denn das?«
»Was?« fragte er zurück und blickte über seine Schulter.
»Das da!« Meine Finger betasteten den dunklen Fleck unter seinem herabhängenden Plaid; es war ein Abdruck auf seinem schmutzigen Hemd. »Es sieht aus wie ein Pferdehuf«, sagte ich ungläubig.
»Ach, das«, erwiderte er achselzuckend.
»Dich hat ein Pferd getreten?«
»Na ja, nicht mit Absicht«, nahm er das Pferd in Schutz. »Pferde treten nicht gerne auf Menschen, vermutlich fühlt sich das unter den Hufen zu wabbelig an.«
»Vermutlich«, nickte ich und hielt ihn am Ärmel fest, damit er nicht davonlief. »Bleib stehen. Wie um Himmels willen ist das passiert?«
»Es ist nicht so schlimm«, widersprach er. »Die Rippen sind scheinbar nicht gebrochen, ich habe nur ein paar blaue Flecken.«
»Ach so, nur ein paar blaue Flecken«, wiederholte ich sarkastisch. Unterdessen hatte ich ihm das schmutzige Hemd abgestreift und sah etwas oberhalb der Hüfte deutlich den Abdruck eines Pferdehufs. »Um Gottes willen, man erkennt ja sogar die Hufnägel.« Er zuckte unwillkürlich zusammen, als ich mit den Fingern über den Abdruck strich.
Es war während eines Ausfalls der berittenen Dragoner passiert, erklärte er. Die Schotten, die außer an die kleinen zottigen Hochlandponys kaum an Pferde gewöhnt waren, waren überzeugt davon, daß die englischen Kavalleriepferde darauf abgerichtet seien, sie mit Hufen und Zähnen anzugreifen. Beim Angriff der Dragoner gerieten sie in Panik und warfen sich zu Boden, um von unten mit Schwertern und Äxten auf die Beine und den Rumpf der Pferde einzuschlagen.
»Und du glaubst, sie sind nicht darauf abgerichtet?«
»Natürlich nicht, Sassenach«, erwiderte er ungeduldig. »Es wollte mich nicht angreifen. Der Reiter wollte sich aus dem Staub machen, aber er war von beiden Seiten eingeschlossen. Das Pferd hatte keine andere Wahl, als mich zu überrennen.«
In jener Schrecksekunde, bevor der Dragoner seinem Pferd die Sporen gab, hatte Jamie die Geistesgegenwart besessen, sich flach auf das Gesicht zu werfen und die Arme schützend über dem Kopf zu verschränken.
»Als nächstes merkte ich, wie die Luft aus meinen Lungen gepreßt wurde«, erzählte er weiter. »Ich spürte die Wucht, aber es tat nicht weh. Nicht sofort.« Er streckte seine Hand aus, rieb sich gedankenverloren über die Wunde und schnitt dabei eine Grimasse.
»Genau«, sagte ich und ließ den Zipfel seines Hemdes sinken. »Hast du seitdem gepinkelt?«
Er starrte mich an, als wäre ich verrückt geworden.
»Auf einer deiner Nieren haben vierhundert Pfund Pferd gestanden«, erklärte ich mit leichter Ungeduld. Auch die anderen Verwundeten mußten versorgt werden. »Ich möchte wissen, ob du Blut im Urin hast.«
»Ach so«, nickte er. »Ich weiß nicht.«
»Na, dann laß es uns klären.« Ich hatte meinen großen Medizinkasten in eine Ecke gestellt, damit er nicht im Weg war; jetzt öffnete ich ihn und nahm ein kleines gläsernes Urinoskop heraus, das ich aus dem Höpital des Anges mitgebracht hatte.
»Mach es voll und bring es mir«, sagte ich und reichte es ihm; dann drehte ich mich um und ging zum Feuer, wo ein Kessel voll kochender Leinenstreifen auf mich wartete.
Als ich mich noch einmal nach ihm umwandte, stand er immer noch da und betrachtete das Gefäß mit leicht belustigtem Blick.
»Brauchst du Hilfe, Junge? Ein großer englischer Soldat sah von seinem Strohlager am Boden auf und grinste Jamie an.
Jamie lächelte und entblößte seine weißen Zähne. »Aye«, nickte er. Dann beugte er sich hinunter und hielt dem Engländer das Gefäß hin. »Hier, halt das für mich, während ich ziele.«
Ein heiteres Lachen - die Männer wurden ein wenig von ihrer Not abgelenkt.
Nach kurzem Zögern schloß sich die kräftige Faust des Engländers um das zerbrechliche Gefäß. Granatsplitter steckten in seiner Hüfte, und seine Hand zitterte, doch er lächelte, obwohl Schweißperlen auf seiner Oberlippe standen.
»Sixpence, daß du es nicht schaffst«, sagte er. Er stellte das Gefäß auf den Boden, so daß es etwa einen Meter vor Jamies nackten Zehen stand. »Von da aus, wo du jetzt stehst.«
Jamie betrachtete es prüfend und rieb sich das Kinn, während er die Entfernung abschätzte. Der Mann, dessen Arm ich gerade verband, hatte aufgehört zu stöhnen und war ganz Ohr für das Drama, das sich neben ihm entfaltete.
»Tja, das ist nicht gerade einfach«, meinte Jamie mit absichtlich breitem schottischen Akzent. »Aber für Sixpence? Aye, gut, das ist ein Batzen Geld, für den sich die Mühe lohnt, oder?« Seine schmalen Augen wurden noch etwas schmaler, als er grinste.
»Leicht verdientes Geld, mein Junge«, erwiderte der Engländer, schwer atmend, aber noch immer grinsend. »Für mich.«
»Zwei Silberpennies auf den Jungen!« rief einer von MacDonalds Clansmännern aus der Ecke.
Ein englischer Soldat, der seinen Rock zum Zeichen seines Gefangenenstatus mit der Innenseite nach außen trug, tastete in seiner Rocktasche nach etwas.
»Ha! Ein Säckchen Tabak dagegen!« rief er und hielt triumphierend einen kleinen Stoffbeutel in die Höhe.
Derbe Witze wurden gerissen und Wetten geschlossen, während Jamie in die Knie ging und mit großer Geste den Abstand zum Gefäß abschätzte.
»In Ordnung«, nickte er schließlich, stand auf und straffte die Schultern. »Bist du bereit?«
Der am Boden kauernde Engländer erwiderte grinsend: »Ich schon, mein Junge.«
»Gut.«
Im Raum war es jetzt mucksmäuschenstill. Einige Männer stützten sich auf die Ellbogen, um besser sehen zu können; alle Schmerzen und Feindseligkeiten waren vergessen.
Jamie sah sich in der Kate um und nickte den Männern aus Lallybroch zu, dann hob er langsam den Saum seines Kilts und griff darunter. Er runzelte die Stirn in höchster Konzentration und tastete herum, dann machte er ein ratloses Gesicht.
»Ich hatte ihn doch noch, als ich losgezogen bin«, sagte er und erntete schallendes Gelächter.
Jamie grinste zufrieden. Dann hob er seinen Kilt noch etwas höher, nahm seine jetzt deutlich sichtbare Waffe in die Hand und zielte. Er kniff die Augen zusammen, ging leicht in die Knie und packte fester zu.
Nichts passierte.
»Ladehemmung!« frohlockte einer der Engländer.
»Sein Pulver ist naß geworden!« johlte ein anderer.
»Hast wohl keine Kugeln im Lauf, Junge? neckte dessen Nebenmann.
Jamie blinzelte argwöhnisch an sich hinunter, was einen erneuten Ausbruch von Gejohle und Pfiffen zur Folge hatte. Dann hellte sich seine Miene auf.
»Ha! Meine Kammer ist leer, das ist alles!« Er deutete auf die Flaschen an der Wand und sah mich fragend an. Als ich nickte, nahm er eine herunter, hielt sie sich an den offenen Mund und kippte sie. Das Wasser ergoß sich über sein Kinn und auf sein Hemd, während er trank.
»Ahhh.« Er ließ die Flasche sinken, wischte sich mit einem Ärmel übers Gesicht und verneigte sich vor seinem Publikum.
»Nun denn«, sagte er und griff erneut unter seinen Kilt. Dann fing er meinen Blick auf und hielt mitten in der Bewegung inne. Er sah weder die offene Tür hinter sich noch den Mann, der in diesem Augenblick hereinkam. Doch die plötzlich eintretende Stille mußte ihm klargemacht haben, daß der Spaß vorbei war.
 
Seine Hoheit Prinz Charles Edward duckte sich, als er die Kate betrat. Er war gekommen, um die Verwundeten zu besuchen, und hatte sich zu diesem Anlaß in eine pflaumenblaue Kniehose aus Samt, farblich passende Strümpfe und - zweifellos, um die Solidarität mit seiner Truppe zum Ausdruck zu bringen - einen Rock und eine Weste aus Cameron-Tartan gehüllt. Über eine Schulter hatte er sich ein Plaid geworfen, das durch eine Brosche aus Rauchquarz gehalten wurde. Sein Haar war frisch gepudert, und der Andreasorden funkelte an seiner Brust.
Er stand in der Tür, ehrfurchtgebietend und majestätisch, und versperrte seinem Gefolge den Eingang. Sein Blick schweifte durch den Raum, glitt über die fünfundzwanzig dicht an dicht liegenden Männer hinweg, über die Helferinnen, die sie versorgten, die blutgetränkten Verbände, die in einer Ecke lagen, und fiel schließlich auch auf mich, die ich hinter dem mit Arzneimitteln und allen möglichen Geräten beladenen Tisch stand.
Seine Hoheit hatte für Frauen, die mit der Armee zogen, im allgemeinen nicht viel übrig, aber er wußte, was sich gehört. Ich war eine Frau, trotz der Blutspritzer und der Spuren von Erbrochenem auf meinem Rock und trotz der Tatsache, daß unter meinem Kopftuch wirre Haarsträhnen hervorhingen.
»Madame Fräser«, sagte er und verneigte sich elegant.
»Eure Hoheit.« Ich machte einen Knicks und hoffte, daß er nicht vorhatte, lange zu bleiben.
»Wir wissen Ihre Bemühungen für uns zu schätzen, Madame«, sagte er in einem Tonfall, der seinen italienischen Akzent stärker als gewöhnlich zur Geltung brachte.
»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Vorsicht, der Boden ist blutgetränkt, und man rutscht leicht aus.«
Sein feiner Mund straffte sich leicht, als er die Blutlache umrundete, auf die ich gedeutet hatte. Da der Weg nun frei war, traten jetzt auch Sheridan, O’Sullivan und Lord Balmerino in den überfüllten Raum. Nachdem Charles der Höflichkeit Genüge getan hatte, bückte er sich hinunter zu den Strohlagern.
Er legte einem Mann die Hand auf die Schulter.
»Wie heißen Sie, tapferer Kamerad?«
»Gilbert Munro... ähm, Euer Hoheit«, stotterte der Mann ehrfürchtig.
Mit seinen manikürten Fingern berührte der Prinz die Holzschiene und den Verband von Gilbert Munros rechtem Arm, an dem die Hand fehlte.
»Sie haben ein großes Opfer gebracht, Gilbert Munro«, sagte Charles. »Ich verspreche Ihnen, es wird nicht vergessen werden.« Seine Hand strich über das schnurrbärtige Gesicht, und Munro errötete vor Schüchternheit und Freude.
Ich behandelte eben einen Mann mit einer Wunde am Kopf, die genäht werden mußte, doch aus den Augenwinkeln heraus konnte ich Charles bei seinem Rundgang beobachten. Er schritt langsam von Lager zu Lager, ließ keinen aus, fragte jeden nach seinem Namen und seiner Herkunft, dankte und drückte sein Mitgefühl, seine Glückwünsche und sein Bedauern aus.
Die Männer, die Engländer wie die Hochlandschotten, waren vor Ergriffenheit ganz stumm und stammelten nur verlegene Antworten auf die freundlichen Fragen Seiner Hoheit. Schließlich erhob sich Charles mit einem deutlich vernehmbaren Knacken seiner Kniebänder. Ein Zipfel seines Plaids schleifte auf dem Boden, aber er schien es nicht zu bemerken.
»Ich bringe euch den Segen und den Dank meines Vaters«, sagte er. »Eure Taten an diesem heutigen Tag werden niemals vergessen sein.« Die Männer am Boden hatten gewiß keinen Grund zur Euphorie, aber viele lächelten, und alle brachten murmelnd ihre Freude zum Ausdruck.
Als Charles sich bereits zum Gehen wandte, erblickte er Jamie, der sich in eine Ecke gedrückt hatte, damit Sheridan ihm mit seinen schweren Stiefeln nicht auf die Zehen trat. Über das Gesicht Seiner Hoheit huschte ein freudiges Lächeln.
»Mon cher! Ich habe Sie heute noch gar nicht gesehen. Ich befürchtete schon, es sei Ihnen etwas zugestoßen.« Vorwurfsvoll verzog er sein Gesicht. »Weshalb sind Sie nicht mit den anderen Offizieren zum Abendessen ins Pfarrhaus gekommen?«
Jamie lächelte und verbeugte sich ehrerbietig.
»Meine Männer sind hier, Hoheit.«
Der Prinz zog die Augenbrauen hoch und öffnete den Mund, doch noch ehe er etwas sagen konnte, trat Lord Balmerino auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Auf Charles’ Gesicht zeigte sich ein Ausdruck der Besorgnis.
»Was höre ich da?« sagte er zu Jamie. »Seine Lordschaft sagt mir gerade, Sie selbst sind verwundet?«
Jamie blickte verlegen drein. Rasch warf er mir einen Blick zu, ob ich zugehört hatte, und sah dann wieder den Prinzen an.
»Es ist nichts, Hoheit. Nur ein Kratzer.«
»Zeigen Sie es mir.« Das waren schlichte Worte, doch es war unmißverständlich ein Befehl, und Jamie streifte sein Plaid ab.
Sein dunkler Tartan war auf der Innenseite beinahe schwarz. Von der Achselhöhle bis zur Hüfte war sein Hemd voll Blut, das an einigen Stellen bereits zu braunen Flecken getrocknet war.
Ich wandte mich von meinem Patienten ab, ging zu Jamie und half ihm, sein Hemd abzustreifen. Obwohl er viel Blut verloren hatte, wußte ich, daß es keine ernste Verletzung war. Er stand fest auf den Beinen, und die Blutung war zum Stillstand gekommen.
Es war ein Säbelhieb quer über die Rippen. Er hatte Glück gehabt, daß der Säbel nicht im rechten Winkel ins Fleisch gedrungen war. So hatte er nur eine etwa zwanzig Zentimeter lange Wunde davongetragen, aus der Blut sickerte, sobald man sie drückte. Sie mußte mit mehreren Stichen genäht werden, doch abgesehen von der Infektionsgefahr war es nichts Ernstes.
Dies wollte ich Seiner Hoheit eben mitteilen, doch als ich seinen seltsamen Gesichtsausdruck sah, hielt ich inne. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich, Charles stünde unter Schock, weil er den Anblick von Wunden und Blut nicht gewohnt war. So manch junge Schwesternhelferin im Lazarett, die soeben ihrem ersten Verwundeten die Uniform abgestreift hatte, war nach einem Blick auf die Wunde hinausgestürmt, um sich zu übergeben. Dann kam sie wieder und versorgte den Patienten. Kriegsverletzungen sehen ganz besonders abstoßend aus.
Aber das konnte hier nicht der Fall sein. Charles war zwar nicht der geborene Krieger, aber er war, genau wie Jamie, bereits mit vierzehn Jahren in seine erste Schlacht gezogen. Nein, sagte ich mir, als das Entsetzen allmählich aus den sanften braunen Augen wich, der Anblick von Blut und Wunden konnte ihn nicht schrecken.
Doch nun stand kein Kätner, kein Hirte vor ihm. Kein namenloser Untertan, dessen Pflicht es war, für die Stuarts sein Leben zu opfern, sondern ein Freund. Und vielleicht hatte Jamies Wunde ihm bewußt gemacht, daß auf seinen Befehl hin Blut vergossen worden war, Männer um seinetwillen verwundet worden waren.
Er betrachtete die Wunde eindringlich, dann sah er Jamie in die Augen. Er drückte ihm die Hand und neigte den Kopf.
»Danke«, sagte er leise.
In diesem Augenblick dachte ich, daß er vielleicht doch das Zeug zum König gehabt hätte.
 
Auf einem kleinen Hügel hinter der Kirche hatte man auf Befehl Seiner Hoheit ein Zelt errichtet, in dem die Gefallenen aufgebahrt wurden. Die englischen Soldaten, die sonst mit besonderer Rücksichtnahme behandelt wurden, waren hier den Schotten gleichgestellt; die Männer lagen nebeneinander, die Gesichter mit Tüchern bedeckt. Die Hochlandschotten waren nur durch ihre Tracht von den anderen zu unterscheiden. Das Begräbnis sollte am Tag darauf stattfinden. MacDonald von Keppoch hatte einen französischen Priester mitgebracht, der mit vor Erschöpfung hängenden Schultern und einer achtlos über ein schmutziges Hochlandplaid gelegten purpurroten Stola bedächtig durch das Zelt schritt und vor jedem Toten stehenblieb, um ein Gebet zu sprechen.
»Möge er ewige Ruhe finden, o Herr, und das ewige Licht leuchte ihm.« Er bekreuzigte sich mechanisch und setzte seinen Rundgang fort.
Ich war schon vorher im Zelt gewesen und hatte mit klopfendem Herzen die Toten unter den Hochlandschotten gezählt. Einundzwanzig. Als ich jetzt das Zelt betrat, sah ich, daß ihre Zahl auf sechsundzwanzig angewachsen war.
Ein siebenundzwanzigster lag in der Kirche, der letzten Station seiner irdischen Reise: Alexander Kincaid Fraser, der an seinen schweren Brust- und Bauchwunden dahinsiechte. Gegen seine inneren Verletzungen waren wir machtlos. Ich hatte ihn gesehen, als er gebracht worden war, kreidebleich - er hatte den ganzen Nachmittag lang blutend auf dem Schlachtfeld gelegen.
Mühsam hatte er mich angelächelt, und ich hatte seine rissigen Lippen mit Wasser benetzt und mit Talg bestrichen. Wenn ich ihm zu trinken gegeben hätte, wäre er sofort gestorben, da das Wasser durch seine durchlöcherten Eingeweide gedrungen wäre und einen tödlichen Schock verursacht hätte. Ich zögerte einen Augenblick, als ich sah, wie schwer er verwundet war, und dachte, ein schneller Tod wäre vielleicht besser... aber dann hatte ich begriffen, daß er mit einem Priester sprechen und beichten wollte. Und so hatte ich ihn in die Kirche bringen lassen, wo Vater Benin die Sterbenden betreute.
Jamie hatte jede halbe Stunde nach Kincaid gesehen, aber der hielt erstaunlich lange durch. Von seinem letzten Besuch war Jamie noch nicht zurückgekehrt. Ich wußte, daß der Kampf nun zu Ende ging, und wollte nachsehen, ob ich vielleicht helfen konnte.
Der Platz unter dem Fenster, wo Kincaid gelegen hatte, war leer, nur ein großer, dunkler Fleck war geblieben. Kincaid befand sich jedoch auch nicht im Totenzelt, und auch Jamie war nirgendwo zu sehen.
Schließlich fand ich beide auf dem Hügel hinter der Kirche. Jamie saß auf einem Felsblock, Alexander Kincaid in den Armen, dessen lockiger Kopf auf seiner Schulter lag, die Beine leblos von sich gestreckt. Beide waren reglos wie der Fels, der sie trug. Stumm wie der Tod.
Ich betastete Kincaids weiße, schlaffe Hand, und strich ihm über das dichte braune Haar, das gar nicht tot aussah. Ein Mann sollte nicht unberührt sterben, aber Kincaid hatte nie bei einer Frau gelegen.
»Er ist tot, Jamie«, flüsterte ich.
Jamie bewegte sich nicht, dann aber nickte er und öffnete die Augen, als ob er sich nur widerstrebend der Wahrheit stellte. Inzwischen war es Nacht geworden.
»Ich weiß. Er starb, bald nachdem ich ihn hier herausgebracht hatte, aber ich wollte mich nicht von ihm trennen.«
Ich faßte den Toten behutsam unter den Schultern, und wir ließen ihn sanft auf die Erde hinabgleiten. Das Gras wiegte sich im Wind, und die Halme streichelten Kincaids Gesicht - ein zärtlicher Willkommensgruß der bergenden Erde.
»Du wolltest nicht, daß er drinnen stirbt«, sagte ich. Uber uns am unendlichen Himmel zogen die Wolken dahin.
Jamie nickte langsam, dann kniete er neben dem Toten nieder und küßte ihn auf die breite, bleiche Stirn.
»Wie schön wäre es, wenn jemand dasselbe für mich tun würde«, flüsterte er. Dann zog er das Plaid über Kincaids braunen Lockenkopf und murmelte etwas auf Gälisch, was ich nicht verstand.
Eine Feldlazarett ist kein Ort für Tränen; dafür gibt es viel zuviel zu tun. Ich hatte den ganzen Tag nicht geweint, trotz allem, was ich gesehen hatte, doch jetzt ließ ich, wenigstens für einen Augenblick, den Tränen freien Lauf. Ich barg mein Gesicht an Jamies Schulter, und er tätschelte mich tröstend. Als ich aufblickte und mir die Tränen aus dem Gesicht wischte, sah ich, wie er trockenen Auges auf die reglos am Boden liegende Gestalt starrte. Er spürte meinen Blick und sah mich an.
»Ich habe um ihn geweint, als er noch am Leben war, Sassenach«, sagte er ruhig. »Nun also, wie stehen die Dinge?«
Ich schniefte, putzte mir die Nase und nahm seinen Arm, und so gingen wir langsam zur Kate zurück.
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Bei wem?«
»Bei Hamish MacBeth.«
Jamies sorgenvoll angespanntes, dreckverschmiertes Gesicht hellte sich auf.
»Dann ist er also zurück? Gott sei Dank! Wie steht es um ihn?«
Ich verdrehte die Augen. »Du wirst es gleich sehen.«
MacBeth war einer von jenen, die Jamie besonders gern hatte. Ein kräftiger Mann mit einem lockigen braunen Bart, schweigsam und wortkarg. Während der Reise war er nie von Jamies Seite gewichen. Er sprach wenig, und sein schüchternes Lächeln erblühte unter seinem Bart wie eine seltene, aber strahlende Nachtblume.
Ich wußte, daß Jamie nach der Schlacht voller Sorge auf MacBeth gewartet hatte. Als es Abend wurde und auch die letzten Nachzügler eintrafen, hatte ich nach MacBeth Ausschau gehalten. Schließlich ging die Sonne unter, und die Feuer im Lager wurden angezündet, aber Hamish MacBeth war nirgends zu sehen. Ich begann zu fürchten, daß wir auch ihn unter den Toten suchen mußten.
Doch vor einer halben Stunde hatte er sich in unser Lazarett geschleppt. Ein Bein war blutverschmiert bis hinunter zum Knöchel, und er ging vorsichtig mit gespreizten Beinen. Aber um keinen Preis wollte er zulassen, daß ein »Weibsbild« Hand an ihn legte.
Er lag neben einer Laterne auf einer Decke, die Hand hatte er auf seinen runden Bauch gelegt, den Blick geduldig auf die Holzbalken an der Decke gerichtet. Er schaute Jamie an, als der sich neben ihn kniete, bewegte sich aber sonst nicht. Ich hielt mich taktvoll im Hintergrund.
»Also dann, MacBeth«, sagte Jamie und ergriff zur Begrüßung seine Handgelenk. »Wie geht’s, Mann?«
»Ich schaffe es schon, Sir«, murmelte er. »Ich schaffe es. Nur, es ist...« Er zögerte.
»Na gut, dann wollen wir es uns einmal ansehen.« MacBeth wehrte sich nicht, als Jamie seinen Kilt hochstreifte. Ich spitzte zwischen Jamies Ellenbogen hindurch, und jetzt erkannte ich die Ursache von MacBeth’ Zögern.
Ein Schwert oder ein Spieß hatte ihn in der Leistengegend getroffen. Der Hodensack war auf einer Seite gerissen, und ein Hoden hing herab - die glatte rosafarbene Außenseite glänzte wie ein geschältes Ei.
Jamie und die zwei, drei anderen Männer, die die Wunde sahen, wurden blaß, und ich sah, wie sich einer der Helfer instinktiv betastete, um zu sehen, ob bei ihm noch alles heil war.
Obwohl die Wunde fürchterlich aussah, schien der Hoden selbst unbeschädigt, und es blutete auch nicht besonders stark. Ich berührte Jamie an den Schultern und schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß es keine schwere Verletzung war, einmal abgesehen von ihrer Wirkung auf die männliche Psyche. Jamie, der meine Geste aus dem Augenwinkel heraus sah, tätschelte MacBeth beruhigend am Knie.
»Ach, es ist nur halb so schlimm, MacBeth. Mach dir keine Sorgen, du kannst noch Vater werden.«
Der kräftige Mann hatte besorgt an sich hinuntergesehen, doch bei diesen Worten heftete er den Blick auf seinen Kommandanten. »Das ist meine geringste Sorge, Sir, ich habe schon sechs Kinder. Aber was wird meine Frau sagen, wenn ich...« MacBeth wurde tiefrot, als die Männer um ihn herum lachten und johlten.
Jamie schielte fragend in meine Richtung, unterdrückte sein eigenes Grinsen und sagte überzeugt: »Laß dir darum keine grauen Haare wachsen, es wird schon wieder, MacBeth.«
»Danke, Sir.« MacBeth atmete erleichtert aus. Er vertraute den Worten seines Kommandanten voll und ganz.
»Trotzdem«, fuhr Jamie energisch fort, »die Wunde muß genäht werden. Du hast die Wahl.«
Er griff in meinen chirurgischen Nähkasten und holte eine meiner Nadeln heraus. Abgeschreckt von den groben Instrumenten, die Bader und Wundärzte gewöhnlich benutzten, um ihre Kundschaft zusammenzuflicken, hatte ich mir drei Dutzend eigene Nadeln gemacht; ich hatte die feinsten Stricknadeln genommen, die ich finden konnte, sie mit Hilfe einer Zange über der Flamme einer mit Alkohol gefüllten Lampe erhitzt und sie behutsam zurechtgebogen, bis sie die erforderliche halbrunde Wölbung hatten. Auch mein Katgut, das Nahtmaterial, hatte ich mir selbst gemacht; es war eine unangenehme, ekelige Sache, aber so konnte ich wenigstens sicher sein, daß die Utensilien, die ich verwendete, steril waren.
Die winzige Nähnadel wirkte geradezu lächerlich zwischen Jamies kräftigem Daumen und Zeigefinger. Seine schieläugigen Versuche, den Faden durch das Nadelöhr zu führen, trugen auch nicht dazu bei, Vertrauen in seine medizinischen Fähigkeiten zu wecken.
»Entweder mache ich es selbst«, sagte er, oder...« Er unterbrach sich, als ihm die Nadel aus der Hand fiel und er in den Falten von MacBeth’ Plaid danach suchte. »Oder«, fuhr er fort und hielt die Nadel triumphierend dem besorgt dreinblickenden Verwundeten vor die Nase, »meine Frau macht es dir.« Mit einer Kopfbewegung lenkte er MacBeth’ Blick auf mich. Mit nüchterner Miene nahm ich Jamie die Nadel aus der Hand und fädelte sie mit einem Ruck ein.
MacBeth’ große braune Augen wanderten langsam zwischen Jamies Pranken, die er so tollpatschig wie möglich ineinander verschränkt hatte, und meinen kleinen, flinken Händen hin und her. Dann ließ er sich resigniert auf sein Lager sinken und gab murmelnd sein Einverständnis, daß ein »Weibsbild« seinen intimsten Körperteil berührte.
»Du kannst unbesorgt sein«, beschwichtigte ihn Jamie und tätschelte ihm freundlich die Schulter. »Schließlich gebe ich mein bestes Stück nun schon seit geraumer Zeit in ihre Hände, und sie hat mich bis heute noch nicht entmannt.« Unter dem Gelächter der Helferinnen und Verwundeten wollte Jamie aufstehen und sich davonmachen, aber ich hielt ihn zurück, indem ich ihm ein Fläschchen in die Hand drückte.
»Was ist das?« fragte er.
»Alkohol und Wasser«, erklärte ich. »Eine Desinfektionslösung. Wenn er kein Fieber oder Eiterungen oder noch Schlimmeres bekommen soll, muß die Wunde ausgewaschen werden.« Da MacBeth seit seiner Verwundung einen langen Weg zurückgelegt hatte, zeigten sich in der Umgebung der Wunde neben Blut- auch Schmutzspuren. Ethylalkohol war ein scharfes Desinfektionsmittel, auch wenn es im Verhältnis eins zu eins mit destilliertem, sterilem Wasser verdünnt wurde, wie ich es tat. Es war das einzige wirksame Mittel gegen Infektionen, das mir zur Verfügung stand, und ich bestand trotz der Klagen der Helferinnen und der Schmerzensschreie der Patienten, die damit behandelt wurden, unnachgiebig auf seiner Verwendung.
Jamie blickte von der Alkoholflasche in seiner Hand auf die klaffende Wunde und erschauderte leicht. Er hatte die Wirkung des Mittels bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen, als ich vorhin seine Wunde genäht hatte.
»Also, MacBeth, besser du als ich«, sagte er. Dann stieß er sein Knie fest in MacBeth’ Zwerchfell und goß den Inhalt der Flasche über die offene Wunde.
Ein markerschütternder Schrei war zu hören. MacBeth wand sich wie eine entzweigeschnittene Schlange. Als sein Stöhnen schwächer wurde und schließlich verstummte, war sein Gesicht grünlichbleich. Er wehrte sich nicht, als ich begann, mit geübten, für den Patienten allerdings schmerzhaften Stichen den Hodensack zu nähen. Die meisten Patienten, auch die schwerverwundeten, ließen die Behandlung klaglos über sich ergehen, und MacBeth stellte keineAusnahme dar. Er lag regungslos da, furchtbar verlegen, die Augen starr auf die Flamme der Laterne gerichtet, und zuckte mit keiner Wimper, während ich ihn wieder zusammenflickte. Nur die Veränderung seiner Gesichtsfarbe - von grün zu weiß, dann zu rot und wieder zu weiß - verriet seinen Seelenzustand.
Schließlich aber lief er purpurrot an. Denn als ich fertig war, versteifte sich sein Penis, den ich flüchtig gestreift hatte. Völlig durcheinandergebracht durch diesen Beweis seiner Unversehrtheit, zog MacBeth seinen Kilt ruckartig herunter, sobald ich ihn fertig verbunden hatte, erhob sich torkelnd und wankte hinaus in die Dunkelheit. Ich aber konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, während ich meinen chirurgischen Nähkasten wieder verstaute. In einer Ecke stand eine Kiste mit medizinischen Hilfsmitteln; ich setzte mich und lehnte mich gegen die Wand. Ein stechender Schmerz durchschoß meine Waden - eine Reaktion des Körpers auf die plötzlich nachlassende Anspannung. Ich zog meine Schuhe aus und lehnte den Kopf zurück.
Die Luft in der Kate war schwül, und schweres Atmen war zu hören. Nicht das gleichmäßige Schnarchen gesunder Männer, sondern das flache Keuchen derjenigen, denen das Atmen Schmerzen bereitete, und das Stöhnen derer, die in einen zeitweiligen Dämmerzustand verfallen waren und vergessen hatten, daß ein Mann Schmerzen klaglos erduldet.
Die Männer in dieser Kate waren zwar schwer verwundet, befanden sich aber außer Lebensgefahr. Doch ich wußte, daß der Tod nachts durch die Gänge einer Krankenstation streift und nach denen sucht, deren Abwehrkräfte geschwächt sind, nach denen, die in ihrer Einsamkeit und Angst unfreiwillig seinen Weg kreuzen. Einige der Verwundeten hatten ihre Frauen bei sich, die sie trösteten, doch die Männer in dieser Kate hatten niemanden - außer mir.
Auch wenn ich jetzt nur noch wenig tun konnte, um sie zu heilen oder ihre Schmerzen zu lindern, so konnte ich ihnen wenigstens das Gefühl geben, daß sie nicht allein waren; daß jemand bei ihnen war, der sich zwischen sie und die Schatten der Nacht stellte.
Ich stand auf und stieg über die Strohlager hinweg, bückte mich zu jedem einzelnen hinunter, sprach tröstende Worte, brachte eine Decke in Ordnung, strich dem einen das Haar glatt und massierte einem anderen die verkrampften Gliedmaßen. Hier verlangte einer einen Schluck Wasser, dort mußte der Verband gewechselt werden, hier wurde eine Urinflasche gebraucht, die ich mit größter Selbstverständlichkeit herbeiholte und die, während sich der Verwundete erleichterte, in meiner Hand schwer und warm wurde.
Als ich hinausging, um eine solche Flasche zu entleeren, blieb ich kurz stehen und sog die kühle Nachtluft ein, die den Geruch der Ausdünstungen in der Kate hinwegfegte. Ich ließ die weiche Feuchtigkeit über meine Haut streichen und vergaß für einen Augenblick die rauhe behaarte Haut der Verwundeten.
»Du hast nicht viel geschlafen, Sassenach.« Jamies leise Stimme ertönte von der Straße her. Die anderen Katen mit Verwundeten befanden sich in dieser Richtung. Das Quartier der Offiziere lag auf der anderen Seite.
»Du auch nicht«, erwiderte ich nüchtern. Ich fragte mich, wie lange er nun schon ohne Schlaf auskam.
»Ich habe vergangene Nacht mit den Männern draußen im Freien geschlafen.«
»Ach ja? Sicher außerordentlich erholsam«, bemerkte ich ironisch, und er mußte lachen. Sechs Stunden Schlaf auf der feuchten Erde, danach die Schlacht, in der ein Pferd auf ihn getreten war, die Verwundung durch ein Schwert und weiß Gott, was sonst noch. Dann hatte er seine Männer um sich gesammelt, hatte die Verwundeten geholt, sich um die Verletzten gekümmert, die Toten betrauert und seinem Prinzen gedient. Und in der ganzen Zeit hatte ich nicht einmal gesehen, daß er etwas gegessen oder sich ausgeruht hätte.
Ich tadelte ihn nicht. Ich verlor auch kein Wort darüber, daß er, selbst verwundet, eigentlich bei den anderen am Boden hätte liegen müssen. Es war seine Aufgabe, hier zu sein.
»Es sind noch andere Frauen da, Sassenach«, sagte er sanft. »Soll ich Archie Cameron Bescheid sagen, daß er jemanden herüberschickt?«
Es war eine große Versuchung, die ich jedoch von mir wies, bevor ich allzulange darüber nachdachte - aus Angst, mich überhaupt nicht mehr rühren zu können, wenn ich meiner Müdigkeit erst einmal nachgab.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich halte schon durch bis zum Morgengrauen. Dann kann jemand anders die Wache übernehmen.« Wenn die Verwundeten erst einmal die Nacht überstanden hätten, wären sie, wie ich meinte, außer Gefahr.
Auch er tadelte mich nicht; er legte mir nur seine Hand auf die Schulter und zog mich an sich.
»Dann bleibe ich bei dir«, sagte er und ließ mich los. »Ich kann auch nicht schlafen.«
»Und die anderen Männer von Lallybroch?«
Er nickte zu den Feldern in der Nähe des Dorfes, wo die Armee ihr Lager aufgeschlagen hatte.
»Murtagh hat die Verantwortung.«
»Ah, das ist gut. Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte ich und sah, daß er lächelte. Vor der Kate stand eine Bank, auf die sich die Frau des Hauses an sonnigen Tagen setzte, um Fische zu putzen oder Kleider zu flicken. Dorthin führte ich ihn, um einen Augenblick auszuruhen. Er ließ sich mit einem Seufzer nieder und lehnte sich an die Hauswand. Als ich seine offenkundige Erschöpfung sah, mußte ich an Fergus denken und an dessen Verwirrung nach der Schlacht.
Ich streichelte Jamies Nacken, und er legte mit geschlossenen Augen seine Stirn an die meine.
»Wie war es, Jamie?« fragte ich leise, während ich langsam und fest meine Finger über seine verspannten Nackenmuskeln und seine Schultern gleiten ließ. »Wie war es? Erzähl es mir.«
Ein kurzes Schweigen, dann seufzte er und begann zu sprechen, zuerst zögernd, dann immer schneller, als wollte er rasch alles loswerden.
»Wir machten kein Feuer, denn Lord George meinte, wir müßten vor Tagesanbruch den Kamm überschritten haben, und wir wollten nicht, daß man uns von unten sah. Wir saßen eine Zeitlang im Dunkeln. Sprechen durften wir ebenfalls nicht, da jedes Geräusch in die Ebene hinuntergetragen wurde. So saßen wir.
Dann spürte ich, wie im Dunkeln jemand mein Bein berührte. Ich wäre vor Schreck beinahe vergangen.« Er steckte einen Finger in den Mund und rieb sich vorsichtig die Zunge. »Hätte mir beinahe die Zunge abgebissen.« Ich spürte, daß er lächelte, obwohl ich sein Gesicht nicht sah.
»Fergus?«
Sein leises Lachen durchschnitt die Stille der Nacht.
»Aye, Fergus. Er kroch auf allen vieren durchs Gras, der kleine Lauser, und ich dachte, es sei eine Schlange. Er flüsterte mir ins Ohr, daß Anderson einen Weg kannte, und dann kroch ich hinter ihm her und brachte Anderson zu Lord George.«
Er sprach langsam und wie im Traum.
»Und dann kam der Befehl zum Aufbruch, auf dem Weg, den Anderson uns zeigte. Und die gesamte Armee machte sich in der Dunkelheit auf.«
 
Die Nacht war klar, schwarz und mondlos, ohne die Wolkendecke, die das Licht der Sterne sonst abdämpfte. Die Hochlandarmee schritt schweigend auf dem schmalen Weg hinter Richard Anderson her; keiner konnte weiter sehen als bis zur Ferse seines Vordermanns.
Die Armee bewegte sich nahezu lautlos, Befehle wurden flüsternd von Mann zu Mann weitergegeben. Breitschwerter und Axte wurden unter den Plaids verhüllt, Pulverhörner unter den Hemden ans klopfende Herz gepreßt.
Als die Schotten den schmalen Pfad hinter sich gelassen hatten, ruhten sie sich aus, immer noch schweigend und ohne Feuer anzuzünden. Sie verzehrten ihre kalten Rationen und verharrten - in unmittelbarer Nähe des feindlichen Lagers.
»Wir konnten sie sogar reden hören«, erzählte Jamie. Er hatte die Augen geschlossen und lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, gegen die Hauswand. »Eigenartig, einen Menschen über einen Scherz lachen zu hören, zu hören, wie er nach einer Prise Salz verlangt oder nach dem Weinschlauch - und zu wissen, daß du ihn vielleicht binnen weniger Stunden töten wirst - oder er dich. Du mußt einfach darüber nachdenken, weißt du. Du fragst dich, wie das Gesicht aussieht, das zu dieser Stimme gehört. Ob du ihn wiedererkennen wirst, wenn du ihm am nächsten Morgen gegenüberstehst.«
Doch die Aufregung vor der Schlacht wich einer übergroßen Müdigkeit und Erschöpfung, und die »schwarzen Frasers« - so genannt wegen der Rußspuren, die immer noch ihre Gesichter zierten - und ihr Anführer waren inzwischen seit mehr als sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Jamie hatte sich einen Büschel Gras als Kopfkissen zurechtgelegt, das Plaid um die Schultern geschlungen und sich neben seinen Männern im wogenden Gras niedergelegt.
Vor Jahren, während Jamies Zeit in der französischen Armee, hatte ein Feldwebel den jüngeren Söldnern einen Trick verraten, wie man in der Nacht vor der Schlacht einschlafen könne.
»Macht es euch bequem, erforscht euer Gewissen und bereut eure Sünden. Vater Hugo sagt, daß euch in Zeiten des Krieges, auch wenn kein Priester in der Nähe ist, eure Sünden auf diese Weise vergeben werden. Da man im Schlaf nicht sündigen kann - nicht einmal du, Simenon! -, werdet ihr im Zustand der Gnade erwachen, bereit, die Bastarde niederzumähen. Und wenn ihr nur zwei Möglichkeiten vor euch habt - Sieg oder Himmel -, wovor solltet ihr da noch Angst haben?«
Mir fielen ja einige Schwachstellen in dieser Argumentation auf, aber Jamie hatte den Ratschlag beherzigen können. Indem er sein Gewissen erleichterte, befreite er seine Seele, und die tröstenden Gebete lenkten den Geist von furchterregenden Vorstellungen ab und wiegten ihn in den Schlaf.
Jamie blickte hinauf zum schwarzen Himmelsgewölbe und versuchte, auf der harten Erde liegend, die Spannungen in Nacken und Schultern zu lösen. Die Sterne leuchteten schwach in jener Nacht; der nahe Schein der englischen Feuer war weitaus heller.
Er dachte an die Männer, die neben ihm lagen, an jeden einzelnen von ihnen. Das Gewicht seiner Sünden war eine leichte Last, verglichen mit dieser Verantwortung. Ross, McMurdo, Kincaid, Kent, die McClures... er hielt inne und empfand Dankbarkeit, daß wenigstens seine Frau in Sicherheit war. Seine Gedanken verweilten bei seiner Frau, rief sich ihr aufmunterndes Lachen in Erinnerung, die wunderbare Wärme, die er spürte, wenn er sie in seinen Armen hielt. Er dachte daran, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte, als er sie am Nachmittag zum Abschied geküßt hatte. Trotz seiner Müdigkeit und trotz des Umstandes, daß draußen Lord George wartete, hätte er am liebsten noch einmal mit ihr geschlafen. Seltsam, daß er vor einem unmittelbar bevorstehenden Kampf immer bereit war. Auch jetzt...
Doch er war seine Männer in Gedanken noch nicht ganz durchgegangen, und er spürte, wie seine Augenlider schwer wurden und die Müdigkeit ihn überwältigte. Er schob die aufkeimende Lust beiseite und rief sich die Namen seiner Männer in Erinnerung - wie ein Schafhirte, der trügerisch in den Schlaf gewiegt wird, während er die Schafe zählt, die er zur Schlachtbank führen wird.
Aber es würde kein Gemetzel geben, beschwichtigte er sich. Nur leichte Verluste auf der Seite der Jakobiten. Dreißig Tote. Dreißig von zweitausend - die Wahrscheinlichkeit, daß unter den Toten auch Männer aus Lallybroch sein würden, war gering. Wenn sie recht hatte.
Ihn fröstelte unter seinem Plaid, und er bekämpfte den aufsteigenden Zweifel. Wenn. Gott, wenn. Es fiel ihm immer noch schwer, es zu glauben, obwohl er sie an diesem verwünschten Felsen gesehen hatte, ihr schreckverzerrtes Gesicht, die weit aufgerissenen goldenen Augen, die Umrisse ihres Körpers, die schon verschwammen, als er sie panisch festgehalten, sie zurückgezogen hatte. Vielleicht hätte er sie gehen lassen sollen, zurück in die Zeit, aus der sie gekommen war. Doch er hatte sie festgehalten. Er hatte ihr die Wahl gelassen, doch dann hatte er sie durch die schiere Kraft seines Verlangens zurückgerufen. Also war sie geblieben. Und hatte ihm die Wahl gelassen - ihr zu glauben oder auch nicht. Zu handeln oder davonzulaufen. Und nun war die Wahl getroffen, und keine Macht der Welt konnte die herannahende Morgendämmerung aufhalten.
Sein Herz schlug heftig, er spürte den Pulsschlag an seinem Handgelenk, in der Leiste, in der Magengrube. Er versuchte, sich zu beruhigen, indem er fortfuhr, die Namen seiner Männer aufzuzählen. Willie MacNab, Bobby MacNab, Geordie MacNab... Gott sei Dank war der kleine Rabbie MacNab zu Hause in Sicherheit... Will Fraser, Ewan Fraser, Geoffrey McClure... McClure... hatte er an George und an Sorley gedacht? Er rutschte hin und her und lächelte sanft; die Striemen am Rücken spürte er immer noch. Murtagh. Aye, Murtagh, der zähe alte Bursche... um den brauchte er sich keine Sorgen machen. William Murray, Rufus Murray, Geordie, Wallace, Simon...
Und dann schloß er die Augen, empfahl sie alle dem schwarzen Himmel, der sich über ihm wölbte, und murmelte, schon halb im Schlaf, die Worte, die ihm noch immer wie selbstverständlich auf französisch über die Lippen kamen: »Mon Dieu, je regrette...«
 
Ich machte meinen Rundgang in der Kate und wechselte den blutgetränkten Verband eines Patienten. Die Blutung sollte eigentlich längst zum Stillstand gekommen sein, aber bei der schlechten Ernährung und den brüchigen Knochen... Falls die Blutung bis zum ersten Hahnenschrei nicht aufgehört hatte, mußte ich Archie Cameron holen oder einen der Wundärzte, um ihm das Bein amputieren und den Stumpf verätzen zu lassen.
Ich mochte gar nicht daran denken. Das Leben war schon schwer genug für einen gesunden Mann. Ich gab etwas Alaun und Schwefel auf den neuen Verband und hoffte das Beste. Wenn es nichts half, so schadete es wenigstens auch nichts. Weh tat es bestimmt, aber das war nicht zu ändern.
»Es wird ein wenig brennen«, murmelte ich, während ich ihm den frischen Verband anlegte.
»Keine Sorge, Mistress«, flüsterte er. Er lächelte mich an, obwohl ihm glänzender Schweiß die Wangen herunterlief. »Ich werde es schon aushalten.«
»Gut.« Ich klopfte ihm beruhigend auf die Schultern, strich ihm das Haar aus der Stirn und gab ihm einen Schluck Wasser. »In einer Stunde komme ich wieder, wenn Sie es so lange aushalten.«
»Ich werde es schon aushalten«, wiederholte er.
 
Als ich wieder nach draußen kam, glaubte ich zuerst, Jamie sei eingeschlafen. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und seinen Kopf darauf gebettet. Doch als er mich kommen hörte, blickte er auf und ergriff meine Hände. Ich setzte mich neben ihn.
»Ich hörte im Morgengrauen die Kanone«, sagte ich und dachte an den Verwundeten drinnen, dem eine Kanonenkugel das Bein zerschmettert hatte. »Ich hatte Angst um dich.«
Er lachte leise. »Ich auch, Sassenach. Wir alle.«
Lautlos wie Nebelstreifen drangen die Hochlandschotten vor. Es war immer noch stockfinstere Nacht, aber die Luft war anders geworden. Der Wind hatte gedreht, er wehte nun vom Meer her über das kalte Land, und aus der Ferne war das Rollen der Wellen am Sandstrand zu hören.
Es war noch dunkel, doch der Himmel hatte bereits seine Farbe verändert. Jamie sah den Mann im letzten Augenblick; noch ein Schritt, und er wäre über den zusammengekauerten Körper gestolpert.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Ein Rotrock, schlafend, weder tot noch verwundet. Er horchte angestrengt in die Dunkelheit, auf das Atmen anderer Schläfer. Nichts, nur das Rauschen des Meeres und der Wind, und das beinahe lautlose Rascheln von Schritten.
Er drehte sich um und schluckte; sein Mund war trotz der feuchten Luft wie ausgedörrt. Dicht hinter ihm rückten andere Männer vor; er durfte nicht lange zögern. Sein Hintermann war vielleicht nicht so vorsichtig wie er, und sie konnten es sich nicht leisten, daß jemand vor Schreck laut aufschrie.
Jamie legte die Hand an seinen Dolch, doch er zögerte. Krieg war Krieg, aber es ging nicht an, einen schlafenden Feind einfach niederzumetzeln. Der Mann schien allein zu sein, etwas entfernt von seinen Kameraden. Wahrscheinlich war er kein Wachsoldat. Nicht einmal der pflichtvergessenste Wachposten würde schlafen, wenn er wußte, daß auf dem Berg über ihm die Hochlandschotten lagerten. Vielleicht war der Soldat aufgestanden, um sich zu erleichtern, und hatte sich, ohne es zu merken, zu weit von seinen Kameraden entfernt. Vielleicht hatte er in der Dunkelheit die Orientierung verloren und sich dort zum Schlafen niedergelegt, wo er sich gerade befand.
Der Griff von Jamies Muskete war schweißnaß. Er rieb sich die Hände an seinem Plaid trocken, erhob sich, packte die Muskete am Lauf und ließ den Kolben mit einem Schwung hinuntersausen. Er spürte die Erschütterung bis in die Schulterblätter; ein bewegungsloser Schädel ist sehr hart. Außer einem schweren Atemstoß gab der Mann keinen Laut von sich, und jetzt lag er reglos auf dem Gesicht.
Mit zitternden Händen beugte sich Jamie noch einmal über ihn und tastete am Hals nach dem Puls. Als er den Herzschlag spürte, stand er erleichtert auf. Da hörte er hinter sich einen erstickten Schrei. Jamie schwang herum, holte mit der Muskete noch einmal aus - und blickte in das Gesicht eines Clansmanns von Keppoch MacDonald.
»Mon Dieu!« flüsterte der Mann und bekreuzigte sich, und Jamie knirschte gereizt mit den Zähnen. Es war Keppochs französischer Priester, der auf O’Sullivans Anweisung Rock und Plaid trug wie die kämpfenden Männer.
»Der Kerl hatte sich nicht davon abbringen lassen, daß es seine Pflicht sei, den Verwundeten und Sterbenden auf dem Schlachtfeld die Sakramente zu spenden«, fuhr Jamie mit seinem Bericht fort und zog sich das Plaid enger um die Schultern. Allmählich wurde es kühl. »O’Sullivan vermutete, daß ihn die Engländer, falls sie ihn in seinem Priesterrock auf dem Schlachtfeld erwischten, in Stücke reißen würden. Wie auch immer, jedenfalls sah er aus wie ein ausgemachter Narr mit seinem Plaid«, fügte er mißbilligend hinzu.
Der Priester hatte den lächerlichen Eindruck, den sein Äußeres hinterließ, durch sein Verhalten nicht wettmachen können. Als er merkte, daß sein Angreifer ein Schotte war, hatte er erleichtert aufgeseufzt und dann den Mund geöffnet. Jamie konnte ihm gerade noch die Hand vorhalten, bevor er eine unbedachte Frage stellte.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«« murmelte er dem Priester ärgerlich ins Ohr. »Sie sollten doch hinter den Linien bleiben.«
Als der Priester vor Schreck die Augen weit aufriß, wußte Jamie Bescheid: Der Mann Gottes hatte sich in der Dunkelheit verlaufen. Bei der späten Einsicht, daß er in der Vorhut der Hochlandschotten marschierte, rutschte ihm das Herz in die Hose.
Jamie blickte sich um. Er wagte es nicht, den Priester zurückzuschicken. In der nebligen Dunkelheit würde er auf die vorrückenden Hochlandschotten stoßen, die ihn leicht für einen Feind halten und auf der Stelle töten könnten. Er packte den Mann, der einen ganzen Kopf kleiner war als er, am Kragen und drückte ihn zu Boden.
»Legen Sie sich flach nieder und bleiben Sie so, bis das Feuer eingestellt wird«, zischte er. Der Priester nickte folgsam. Dann entdeckte er plötzlich den englischen Soldaten, der kaum einen Meter entfernt am Boden lag. Er blickte Jamie erschrocken an und tastete dann nach den Fläschchen mit Chrisam und Weihwasser, die er statt eines Dolches bei sich führte.
Jamie rollte entnervt die Augen und deutete mit Gesten an, daß der Mann keineswegs tot war und deshalb die Dienste des Priesters nicht nötig hatte. Da dies nicht den erwünschten Erfolg hatte, beugte er sich hinunter, ergriff die Hand des Priesters und drückte dessen Finger an den Hals des Engländers, um ihm klarzumachen, daß dieser Mann nicht etwa das erste Opfer der Schlacht war. Er erstarrte in dieser grotesken Haltung, als er hinter sich eine Stimme hörte.
»Halt! Wer da?«
 
»Hast du einen Schluck Wasser für mich, Sassenach?« fragte Jamie. »Ich habe vom Erzählen eine ganz trockene Kehle bekommen.«
»Du Schuft!« sagte ich. »Du kannst doch an dieser Stelle nicht aufhören! Was geschah dann?«
»Wasser«, wiederholte er grinsend, »dann erzähl’ ich weiter.«
»Also gut.« Ich reichte ihm eine Flasche. »Was geschah weiter?«
»Nichts«, sagte er, ließ die Flasche sinken und wischte sich den Mund am Ärmel trocken. »Was glaubst du denn? Hätte ich ihm vielleicht antworten sollen?« Er grinste mich unverschämt an und duckte sich, als ich zu einer Ohrfeige ausholte.
»Aber, aber«, tadelte er. »Ist das etwa die feine Art, so mit einem Mann umzugehen, der im Dienste seines Königs verwundet worden ist?«
»Aha, verwundet?« gab ich zurück. »Glaube mir, Jamie Fraser, ein bloßer Säbelhieb ist gar nichts im Vergleich mit dem, was du erleben wirst, wenn du...«
»Jetzt willst du mir auch noch drohen, was? Wie hieß es doch gleich in dem Gedicht, von dem du mir erzählt hast: >Wenn Schmerz und Kummer die Stirn verdüstern, ein hilfreicher Engel...‹ autsch!««
»Beim nächstenmal reiße ich es dir mit der Wurzel aus«, sagte ich und ließ sein Ohr los. »Erzähl weiter, ich muß gleich wieder rein.«
Er rieb sich bedächtig das Ohr, lehnte sich aber wieder zurück und fuhr fort zu erzählen.
»Also, wir kauerten am Boden, der Priester und ich, starrten einander an und lauschten den Wachposten, die nur wenige Meter von uns entfernt standen. › Was ist das?< fragt der eine, und ich überlegte, ob es mir gelingen würde, ihn rechtzeitig niederzustechen, bevor er mir in den Rücken schießt, aber was wäre dann mit seinem Kameraden? Denn von dem Priester konnte ich keine Hilfe erwarten, außer einem letzten Gebet über meiner Leiche.«
Es folgte eine nervenzerfetzende Stille, während der die beiden Jakobiten im Gras kauerten, immer noch Hände haltend, da sie auch nicht die geringste Bewegung wagten.
»Ach, du siehst Gespenster«, erwiderte schließlich der andere Posten. Jamie spürte förmlich den Schauder der Erleichterung, der den Priester durchfuhr, und er ließ dessen Hand los. »Hier ist nichts außer Ginsterbüschen. Laß es gut sein, Kamerad«, sagte der Wachposten beruhigend, und Jamie hörte, wie er dem anderen auf die Schulter klopfte. »Hier stehen verdammt viele Ginsterbüsche rum, und bei dieser Dunkelheit könnte man leicht meinen, es wäre die gesamte Hochlandarmee.« Jamie glaubte, ein ersticktes Lachen aus einem der »Ginsterbüsche« zu hören.
Er blickte zum Bergkamm hinauf, wo die Sterne langsam verblaßten. In zehn Minuten würde der erste Lichtstreifen am Horizont erscheinen. Dann würden Johnnie Copes Truppen schnell merken, daß die Hochlandarmee nicht, wie sie glaubten, eine Marschstunde entfernt in der anderen Richtung lagerte, sondern bereits die feindlichen Linien durchbrochen hatte.
Ein Geräusch war zu hören, vom Meer her. Ein schwaches, undeutliches Geräusch, doch es versetzte ein schlachterfahrenes Ohr in höchste Alarmbereitschaft. Jemand, so vermutete Jamie, war über einen Ginsterbusch gestolpert.
»He?« Einer der Wachposten horchte auf. »Was ist das?«
Der Priester würde allein zurechtkommen müssen. Jamie stand auf, das Breitschwert gezückt, und mit einem großen Schritt war er bei dem Wachposten. Er war nur ein Schatten in der Dunkelheit, doch er sah ihn deutlich vor sich. Erbarmungslos ließ er sein Schwert niedersausen und spaltete den Schädel des Mannes.
»Hochlandschotten!« schrie der zweite Posten entsetzt. Wie ein aufgescheuchter Hase verschwand er in der Dunkelheit, bevor Jamie sein blutgetränktes Schwert aus der fürchterlichen Wunde herausziehen konnte. Er stemmte den Fuß gegen den Rücken des zu Boden gesunkenen Wachpostens und zog die Waffe mit einem Ruck - und mit zusammengebissenen Zähnen - aus dem gespaltenen Schädel.
Jetzt wurde entlang der englischen Linien Alarm geschlagen; Jamie hörte und fühlte die Aufregung der schroff aus dem Schlaf gerissenen Männer, die noch ganz benommen nach ihren Waffen tasteten und in allen Richtungen nach der unsichtbaren Bedrohung Ausschau hielten.
Clanranalds Dudelsackpfeifer befanden sich rechts hinter Jamie, doch noch kam kein Signal zum Angriff. Dann hieß es also weiter vorrücken, mit klopfendem Herzen und angespannten Bauchmuskeln, die Augen angestrengt in der verblassenden Dunkelheit umherirrend. Das warme Blut, das auf Jamies Gesicht gespritzt war, wurde langsam kalt und klebrig.
»Zuerst habe ich sie nur gehört«, sagte Jamie und starrte in die Dunkelheit, als suchte er immer noch die englischen Soldaten. »Dann sah ich sie auch: die Engländer, die wie wild durcheinanderliefen, und die Männer hinter mir. George McClure kam an meine Seite, auf der anderen Seite erschienen Wallace und Ross, und wir rückten weiter voran, immer schneller und schneller, und wir sahen die Unordnung in den Reihen der sassenaches, die plötzlich vor uns auftauchten.«
Ein dumpfes Dröhnen von rechts; aus einer Kanone wurde gefeuert. Wenig später eine zweite, und dann, als wäre dies das Signal, ertönten die Kriegsrufe aus den Reihen der vorrückenden Hochlandschotten.
»Dann setzten die Dudelsackpfeifer ein«, fuhr er mit geschlossenen Augen fort. »Ich erinnerte mich erst wieder an meine Muskete, als ich dicht hinter mir einen Knall hörte; ich hatte sie neben dem Priester im Gras liegenlassen. In der Schlacht nimmt man nur das wahr, was in unmittelbarer Nähe geschieht.
Man hört einen Ruf, und man fängt an zu laufen. Langsam, ein, zwei Schritte, während man seinen Gürtel losschnallt, und dann löst sich das Plaid, und man springt, unter den Füßen spritzt der Dreck hoch, und man spürt das kühle nasse Gras an seinen Füßen. Der Wind kriecht einem unters Hemd, bis zum Bauch, die Arme entlang... Dann reißt einen das Getöse mit, und man schreit - wie ein Kind, das einen Hügel hinunterläuft und gegen den Wind anschreit, als wollte es sich vom Klang der eigenen Stimme davontragen lassen.«
Ihr eigenes Gebrüll trug sie in die Ebene hinunter, und ihr gewaltiger Ansturm erschütterte die Übermacht der englischen Truppen und wälzte sie nieder in einer fürchterlichen blutigen Woge.
»Sie rannten davon«, fuhr er leise fort. »Ein Mann stand mir im Kampf gegenüber - nur ein einziger, in der ganzen Schlacht. Die anderen habe ich von hinten gestellt.« Er fuhr sich mit seiner schmutzigen Hand übers Gesicht, und ich spürte, wie er erschauderte.
»Ich erinnere mich... an alles«, sagte er, beinahe flüsternd. »An jeden Schlag. An jedes Gesicht. An den Mann, der vor mir auf dem Boden lag und vor Angst in die Hose machte. An die wiehernden Pferde. An den Gestank - des Schießpulvers, des Blutes, meines eigenen Schweißes. An alles. Aber es war so, als sähe ich mir dabei von außen zu. Ich war nicht wirklich da.« Er machte die Augen auf und sah mich von der Seite an. Er zitterte.
»Verstehst du das?« fragte er.
»Ja.«
Ich hatte zwar nicht mit Schwert und Dolch gekämpft, aber mit meinen bloßen Händen und mit meiner Willenskraft hatte ich mich durch das Chaos des Todes gekämpft, einfach, weil ich keine andere Wahl gehabt hatte. Und ich kannte jenes seltsame Gefühl des Losgelöstseins. Der Verstand scheint sich über den Körper zu erheben, kühl beobachtend und dirigierend. Die körperliche Erschöpfung tritt erst viel später ein, wenn die Krise überstanden ist.
Diesen Punkt hatte ich noch nicht erreicht. Ich nahm meinen Umhang von den Schultern und legte ihn über Jamie, bevor ich in die Kate zurückging.
 
Es dämmerte, und mit dem Morgen kam die Ablösung in Gestalt von zwei Dorffrauen und einem Armeearzt. Der Mann mit der schweren Beinverletzung war immer noch blaß und zittrig, doch die Blutung hatte aufgehört. Jamie nahm mich am Arm und führte mich die Straße von Tranent entlang.
O’Sullivans beständige Probleme mit der Truppenverpflegung waren durch die erbeuteten Wagen zumindest vorläufig beigelegt: Es war genügend Essen da. Wir aßen rasch und nahmen dabei kaum den Geschmack des heißen Haferbreis wahr. Die Nahrung füllte meinen Bauch, und als ich allmählich satt wurde, konnte ich an das denken, was ich am zweitdringendsten brauchte: Schlaf.
In jedem Haus und in jeder Kate waren Verwundete untergebracht; die Gesunden schliefen meist draußen im Freien. Jamie hätte zwar einen Platz im Pfarrhaus bei den anderen Offizieren beanspruchen können, aber er nahm meinen Arm und steuerte jenseits der Katen auf einen Hügel zu, in ein kleines Wäldchen.
»Es ist ein bißchen weit«, erklärte er entschuldigend und blickte mich an, »aber ich dachte, du möchtest lieber deine Ruhe haben.«
Ich nickte. Obwohl ich unter Bedingungen aufgewachsen war, die die meisten meiner Zeitgenossen als primitiv empfunden hätten - während Onkel Lambs Expeditionen wohnten wir in Zelten und Lehmhütten -, war ich doch nicht daran gewöhnt, dicht gedrängt neben anderen zu schlafen, wie es hier üblich war. In winzigen, stickigen Katen, die von rauchigem Torffeuer erhellt und geheizt wurden, aßen die Menschen, schliefen und paarten sich. Das einzige, was sie nicht gemeinsam taten, war baden - und zwar deshalb, weil sie überhaupt nicht badeten.
Jamie führte mich zu einer kleinen Lichtung, die mit raschelndem Laub bedeckt war. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, unter den Bäumen war es noch kalt, und die gelben Blätter waren von leichtem Reif überzogen.
Jamie zog mit dem Absatz eine breite Rinne in das Laub, dann stellte er sich an das eine Ende der Mulde, legte eine Hand an die Schnalle seines Gürtels und läche1 nich an.
»Es ist etwas umständlich, sich anzukleiden, aber man kann sich sehr leicht ausziehen.« Er schnallte den Gürtel los, sein Plaid fiel zu Boden, und er stand da, nur mit seinem Hemd bekleidet, das ihm nicht einmal bis zum Knie reichte. Gewöhnlich trug er den militärischen »kurzen Kilt«, der an der Hüfte gehalten wurde; das Plaid, das er sich über die Schulter warf, war eine separate Tuchbahn. Doch sein Kilt war in der Schlacht zerrissen und schmutzig geworden, und deshalb hatte er sich eines der älteren, mit einem Gürtel versehenen Plaids besorgt - eine lange Tuchbahn, die um die Hüfte geschlungen und nur mit einem Gürtel gehalten wurde.
»Wie ziehst du das bloß an?« fragte ich neugierig.
»Tja, man legt es auf den Boden, so wie ich jetzt...«, er kniete sich nieder und breitete das Tuch in der Mulde aus, »dann legt man es in regelmäßige Falten, legt sich darauf und rollt sich darin ein.«
Ich brach in Lachen aus, kniete mich neben Jamie und half ihm, den dicken Wollstoff glattzustreichen.
»Das möchte ich gerne sehen!« rief ich. »Weck mich auf, bevor du dich anziehst.«
Er schüttelte vergnügt den Kopf, und das zwischen den Bäumen durchdringende Sonnenlicht funkelte in seinen Haaren.
»Sassenach, die Chance, daß ich vor dir aufwache, sind geringer als die Überlebenschancen eines Wurmes im Hühnerstall. Meinetwegen kann mich noch einmal ein Pferd treten, ich rühre mich bis morgen nicht mehr.« Er legte sich behutsam nieder und streifte das Laub von seinem Plaid.
»Komm, leg dich zu mir.« Er streckte mir einladend die Hand entgegen. »Wir decken uns mit deinem Umhang zu.«
Die Blätter unter dem weichen Wollstoff stellten eine überraschend bequeme Unterlage dar, obwohl ich so müde war, daß ich auch auf einem Nagelbrett geschlafen hätte. Ich streckte mich neben Jamie aus und genoß das Gefühl, einfach so dazuliegen.
Die Kälte wich schnell, als unsere Körper die Mulde erwärmten, in der wir lagen. Wir waren so weit vom Dorf entfernt, daß der Wind nur ab und zu menschliche Geräusche zu uns trug, und ich dachte mit schläfriger Zufriedenheit, daß es tatsächlich bis morgen dauern könnte, bis jemand uns hier fand.
Ich hatte meine Unterröcke in der vergangenen Nacht ausgezogen und zerrissen, um Verbände daraus zu machen, und zwischen uns war nichts als der dünne Stoff seines Hemdes und meines Rockes. Ich spürte etwas Warmes, Hartes an meinem Bauch.
»Das kann doch nicht wahr sein!« Trotz meiner Müdigkeit war ich erheitert. »Jamie, du mußt halbtot sein.«
Er hielt mich mit seiner warmen, großen Hand an der Taille umfaßt und lachte erschöpft.
»Mehr als nur halbtot, Sassenach. Ich bin mausetot, und nur mein Schwanz hat es noch nicht kapiert. Wenn ich bei dir liege, wird mein Verlangen nach dir geweckt, aber im Augenblick bin ich zu mehr nicht in der Lage.«
Ich tastete nach dem Saum seines Hemdes, streifte es hoch und umschlang seinen Penis behutsam mit der Hand. Er war wärmer als sein Körper, seidenglatt unter meinen Fingern, und er pulsierte heftig mit jedem Schlag seines Herzens.
Zufrieden seufzend rollte er sich auf den Rücken, die Beine entspannt von sich gestreckt, von meinem Umhang halb zugedeckt.
Die Sonne schien nun bereits auf unser Bett aus Laub, und meine Schultern entspannten sich in der Wärme. Alles schien wie von einem goldenen Schimmer überzogen - was sowohl dem herbstlichen Licht als auch meiner extremen Erschöpfung zuzuschreiben war. Ich fühlte mich matt, beinahe körperlos. Die Schrecken, die Müdigkeit und der Lärm der letzten beiden Tage verebbten allmählich, bis es nur noch uns beide gab.
Der Schleier der Erschöpfung wirkte wie ein Vergrößerungsglas, das winzige Details und Empfindungen übertrieben genau hervorhebt. Die Spuren seiner Säbelwunde waren unter dem hochgezogenen Hemd sichtbar - ein schwarz verkrusteter Streifen auf seiner hellen Haut. Ein paar Fliegen umschwirrten uns summend, und ich verscheuchte sie. In meinen Ohren dröhnte die Stille, der Atem der Bäume war lauter als die aus dem Dorf heraufdringenden Geräusche.
Ich legte meine Wange auf seinen Bauch und ertastete die harte, glatte Wölbung seines Hüftknochens. Die Haut seiner Leistengegend war durchscheinend, die Venen schimmerten bläulich und zart wie die eines Kindes.
Er hob die Hand, langsam wie ein Blatt, das sich im Wind wiegt, und legte sie auf meinen Kopf.
»Claire, ich brauche dich«, flüsterte er. »Ich brauche dich sosehr.«
Ohne die hinderlichen Unterröcke war es leicht. Ich hatte das Gefühl zu schweben, mühelos aufzusteigen; ich schob meinen Rock hoch und setzte mich auf ihn wie eine Wolke auf die Spitze eines Berges.
Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelegt. Doch seine Hände legten sich fest auf meine Hüfte.
Auch ich schloß die Augen. Ich spürte seine Gedanken so deutlich wie seinen Körper unter mir; die Erschöpfung lähmte unser Denken und unsere Erinnerung. Alles verblaßte, bis auf das Bewußtsein unserer Nähe.
»Nicht... lange«, flüsterte er. Ich nickte und wußte, daß er erfühlte, was er nicht sah, und ich erhob mich über ihn, die Beine unter meinem schmutzigen Rock sicher und stark.
Einmal, und ein zweitesmal, und noch einmal, und beim nächstenmal durchzuckte es ihn und mich.
Mit einem tiefen Seufzer atmete er aus, und ich spürte, wie er in den Schlaf hinüberglitt. Ich legte mich neben ihn und deckte uns mit dem schweren Umhang zu. Dann erfaßte die Dunkelheit auch mich, und ich lag da, die schwere Wärme seines Samens in meinem Bauch. Wir schliefen ein.
Die Geliehene Zeit
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