26
Fontainebleau
Ich schlief mehrere Tage lang. Ob das ein
notwendiger Schritt zur körperlichen Genesung war oder ein
trotziger Rückzug aus der Realität, weiß ich nicht, aber ich
erwachte nur widerwillig, um ein wenig zu essen, und sank dann
sofort wieder in den Schlaf des Vergessens, als wäre das bißchen
warme Suppe in meinem Magen ein Anker, der mich in die düsteren
Tiefen der Bewußtlosigkeit hinunterzog.
Einige Tage später wurde ich von hartnäckigen
Stimmen in nächster Nähe geweckt, und ich spürte Hände, die mich
aus dem Bett hoben. Offenbar wurde ich von starken Männerarmen
gehalten, und für einen Augenblick war ich selig vor Freude. Doch
dann wurde ich richtig wach und kämpfte matt gegen die Welle von
Tabak und billigem Wein an, die mir entgegenschlug, und stellte
fest, daß ich von Hugo, Louise de La Tours kräftigem Lakai,
gehalten wurde.
»Lassen Sie mich runter!« protestierte ich und
schlug kraftlos nach ihm. Verblüfft über diese plötzliche
Auferstehung von den Toten, hätte er mich beinahe fallen lassen,
doch eine hohe, befehlsgewohnte Stimme gebot uns beiden
Einhalt.
»Claire, meine liebe Freundin! Fürchte dich nicht,
ma chère, es ist alles in Ordnung. Ich nehme dich mit nach
Fontainebleau. Gute Luft und gutes Essen - das ist es, was dir
fehlt. Und Ruhe, du brauchst viel Ruhe...«
Ich blinzelte ins Licht. Louises Gesicht, rund,
rosig und besorgt, schwebte vor mir wie ein Cherub auf einer Wolke.
Hinter ihr stand Mutter Hildegarde, groß und streng wie der Engel
am Tor zum Paradies.
»Jaa, sagte Mutter Hildegarde; dank ihrer tiefen
Stimme besaß auch das schlichteste Wort aus ihrem Mund weit mehr
Gewicht als
Louises aufgeregtes Gezwitscher. »Es wird Ihnen guttun. Au
revoir, meine Liebe.«
Und dann wurde ich die Stufen des Spitals
hinuntergetragen und in Louises Kutsche gesetzt. Das Holpern der
Kutsche hielt mich während der Reise nach Fontainebleau wach. Dies
und Louises ununterbrochenes Geplauder hatten eine beruhigende
Wirkung auf mich. Anfangs versuchte ich lahm, etwas zu erwidern,
merkte aber bald, daß sie gar keine Antwort erwartete und
angesichts meines Schweigens sogar ungezwungener redete.
Nach all den Tagen, die ich in dem kühlen grauen
Steingewölbe des Spitals verbracht hatte, kam ich mir wie eine
frisch ausgewikkelte Mumie vor und schreckte vor all der Helligkeit
und Farbe zurück. Ich konnte leichter damit umgehen, wenn ich die
Dinge einfach an mir vorbeiziehen ließ, ohne zu versuchen,
Einzelheiten in mich aufzunehmen.
Das gelang mir auch, bis wir ein Wäldchen außerhalb
von Fontainebleau erreichten. Die Eichenstämme waren dunkel und
dick, und das niedrige, ausladende Blätterdach der Bäume ließ auf
dem Boden ein Wechselspiel von Licht und Schatten entstehen, so daß
sich der ganze Wald im Wind sachte zu bewegen schien. Mit leiser
Bewunderung nahm ich diesen Effekt wahr, bis ich bemerkte, daß
einige der Formen, die ich für Baumstämme gehalten hatte,
tatsächlich langsam hin und her schaukelten.
»Louise!« rief ich und packte sie am Arm, so daß
sie mitten im Satz verstummte.
Schwerfällig beugte sie sich zu mir herüber, um zu
sehen, was ich erblickt hatte, dann ließ sie sich wieder
zurückfallen, streckte den Kopf aus dem Fenster und rief dem
Kutscher etwas zu.
In einer Wolke von Staub kam unsere Kutsche vor dem
Wäldchen zum Stehen. Es waren drei, zwei Männer und eine Frau.
Aufgeregt wies Louise den Kutscher zurecht, der Kutscher versuchte
sich zu entschuldigen, aber ich achtete nicht darauf.
Obwohl sie hin und her baumelten und ihre Kleidung
ein wenig flatterte, waren sie reglos, viel regloser als die Bäume,
an denen sie hingen. Die Gesichter der Gehängten waren schwarz
angelaufen. Monsieur Forez hätte das gar nicht gefallen, dachte ich
benebelt. Eine Amateurhinrichtung, aber trotz alledem wirkungsvoll.
Der Wind drehte, und ein leiser Verwesungsgeruch wehte in unsere
Richtung.
Louise stieß schrille Schreie aus und hämmerte
gegen den Fensterrahmen, bis die Kutsche ruckartig anfuhr.
»Merde!« rief sie und fächelte ihrem
erhitzten Gesicht hastig Luft zu. »Dieser Narr, wie idiotisch,
ausgerechnet hier zu halten! Wie rücksichtslos! Der Schock ist
schlecht für das Baby, ganz bestimmt, und du, meine Arme, meine
Liebe... o je, meine arme Claire! Es tut mir ja so leid, ich wollte
dich nicht erinnern... kannst du mir verzeihen, ich bin so
taktlos...«
Glücklicherweise verstörte sie die Vorstellung, sie
könnte mich beunruhigt haben so sehr, daß sie ihre eigene
Beunruhigung beim Anblick der Gehängten vergaß, aber es war überaus
ermüdend, ihre Entschuldigungen abzuwehren. In meiner Verzweiflung
lenkte ich schließlich das Gespräch wieder auf die
Hingerichteten.
»Wer?« Das Manöver klappte. Sie blinzelte, und da
sie sich an den Schock, den ihr système erlitten hatte,
erinnerte, zog sie ein Fläschchen Riechsalz heraus, inhalierte
herzhaft und nieste.
»Huge... hatschi! Hugenotten«, brachte sie
schnaubend und keuchend heraus. »Protestantische Ketzer. Das hat
jedenfalls der Kutscher gesagt.«
»Sie werden gehängt? Immer noch?« Ich hatte
geglaubt, Verfolgung aus religiösen Gründen gehöre der
Vergangenheit an.
»Tja, in der Regel nicht nur, weil sie Protestanten
sind, obwohl das auch schon reicht«, sagte Louise schniefend.
Behutsam betupfte sie ihre Nase mit einem bestickten Taschentuch,
betrachtete das Ergebnis kritisch und schneuzte noch einmal
kräftig.
»Ah, das ist besser.« Sie stopfte das Tüchlein
wieder in die Tasche und lehnte sich seufzend zurück. »Jetzt geht
es mir wieder gut. Welch ein Schock! Wenn man sie schon aufhängen
will - und das ist ja in Ordnung -, muß man es dann unbedingt an
einer öffentlichen Straße tun? Hast du sie gerochen? Puuh!
Das Land gehört dem Comte de Medard. Ich werde ihm einen bösen
Brief schreiben, darauf kannst du dich verlassen.«
»Aber warum hat man diese Leute gehängt?« fragte
ich, ihr rücksichtslos ins Wort fallend, was die einzige
Möglichkeit war, mit Louise ein Gespräch zu führen.
»Oh, wahrscheinlich Hexerei. Es war eine Frau
dabei, das hast du gesehen. Wenn Frauen beteiligt sind, geht es
meist um Hexerei. Wenn es aber nur Männer sind, handelt es sich in
der Regel um aufwieglerische, ketzerische Predigten, aber Frauen
predigen ja
nicht. Hast du die häßlichen dunklen Kleider gesehen, die sie
trug? Entsetzlich! Wie bedrückend, immer so düstere Farben zu
tragen! Was für eine Religion muß das sein, die ihren Anhängern
gebietet, sich immer so reizlos zu kleiden? Offensichtlich das Werk
des Teufels, das sieht doch jeder. Sie haben Angst vor Frauen,
daran liegt es, deshalb...«
Ich schloß die Augen, lehnte mich zurück und
hoffte, daß es bis zu Louises Landsitz nicht mehr weit war.
Neben dem Affen, von dem sie sich niemals trennte,
war Louises Landhaus noch mit einigen anderen Dingen von
zweifelhaftem Geschmack ausgestattet. In Paris mußte sie auf die
Vorlieben ihres Gatten und ihres Vaters Rücksicht nehmen, und daher
waren die Räume des Hauses zwar reich möbliert, aber in dezenten
Farben gehalten. Da Jules in der Stadt viel zu tun hatte, kam er
selten auf den Landsitz, also konnte Louise hier ihrem Geschmack
freien Lauf lassen.
»Das ist mein neuestes Spielzeug, ist es nicht
goldig?« gurrte sie und ließ ihre Hand liebevoll über die
Schnitzereien eines aus dunklem Holz gefertigten Häuschens gleiten,
das neben einer vergoldeten Bronzestatue der Eurydike aus der Wand
sproß.
»Sieht aus wie eine Kuckucksuhr«, sagte ich
ungläubig.
»Du hast schon mal eine gesehen? Ich hätte nicht
gedacht, daß es in Paris welche gibt!« Louise schmollte ein wenig
bei dem Gedanken, daß ihr Spielzeug nicht vollkommen einzigartig
war, doch ihre Miene hellte sich auf, als sie die Zeiger der Uhr
zur nächsten vollen Stunde vorrückte. Sie trat zurück und strahlte
vor Stolz, als der winzige Vogel seinen Kopf herausstreckte und
mehrere schrille Kuckucksrufe von sich gab.
»Ist das nicht schön?« Sie berührte kurz den Kopf
des Vogels, der wieder in seinem Loch verschwand. »Berta, die
Haushälterin, hat die Uhr für mich besorgt. Ihr Bruder hat sie aus
der Schweiz mitgebracht. Über die Schweizer kann man sagen, was man
will, aber sie sind tüchtige Holzschnitzer, nicht wahr?«
Ich wollte widersprechen, murmelte aber statt
dessen höflich eine bewundernde Bemerkung.
Wie ein Grashüpfer sprang Louises unsteter Geist
zum nächsten Thema, vielleicht angeregt durch den Gedanken an die
Schweizer Dienstboten.
»Weißt du, Claire«, bemerkte sie mit sanftem Tadel,
»du solltest jeden Morgen an der Messe in der Kapelle
teilnehmen.«
»Warum?«
Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die offene Tür,
wo eines der Mädchen mit einem Tablett vorbeikam.
»Mir selbst ist es vollkommen gleichgültig, aber
die Dienstboten - sie sind sehr abergläubisch hier draußen auf dem
Lande, weißt du. Und einer der Lakaien aus Paris war so töricht,
der Köchin die alberne Geschichte, du seist La Dame Blanche,
zu erzählen. Ich habe ihnen natürlich gesagt, daß das Unsinn ist,
und gedroht, jeden zu entlassen, den ich bei der Verbreitung
solcher Klatschgeschichten erwische, aber... nun ja, es wäre ganz
gut, wenn du zur Messe gingest oder wenigstens hin und wieder laut
beten würdest, so daß sie dich hören.«
Täglich die Messe in der Hauskapelle zu besuchen
war mir als zutiefst ungläubigem Menschen dann doch zuviel, aber
leicht belustigt erklärte ich mich bereit zu tun, was in meinen
Kräften stand, um die Ängste der Dienstboten zu zerstreuen.
Folglich verbrachten Louise und ich die nächste Stunde damit, uns
gegenseitig Psalmen vorzulesen und im Chor das Vaterunser
herzusagen - und zwar laut. Ich hatte keine Ahnung, welchen
Eindruck diese Vorstellung auf die Dienstboten machte, aber mich
erschöpfte sie so, daß ich mich zu einem Nickerchen auf mein Zimmer
zurückzog und traumlos bis zum nächsten Morgen schlief.
Ich litt häufig unter Schlafstörungen, vielleicht
weil sich mein Wachzustand kaum von einem unruhigen Dösen
unterschied. Nachts lag ich wach und starrte die mit Blumen und
Früchten verzierte Stuckdecke an. Sie hing blaß und grau über mir
in der Dunkelheit, die Verkörperung der Depression, die tagsüber
meinen Verstand umnebelte. Wenn ich dann doch einschlief, träumte
ich. Durch das Grau konnte ich die Träume nicht dämpfen; mit
lebhaften Farben fielen sie mich im Dunkeln an. Also schlief ich
selten.
Von Jamie hörte ich nichts, auch nicht über
Dritte. Ob ihn seine Schuld oder seine Verletzungen gehindert
hatten, mich im Spital zu besuchen, wußte ich nicht. Aber er war
nicht gekommen, und genausowenig kam er nach Fontainebleau.
Inzwischen war er wahrscheinlich unterwegs nach Oviedo.
Manchmal ertappte ich mich bei der Überlegung, wann
- oder ob
- ich ihn wiedersehen würde, und was - wenn überhaupt - wir
einander sagen würden. Aber meist zog ich es vor, nicht darüber
nachzudenken. Ich ließ die Tage kommen und gehen, einen nach dem
anderen, vermied es, an die Zukunft oder die Vergangenheit zu
denken, und lebte nur in der Gegenwart.
Seines Idols beraubt, ließ Fergus den Kopf hängen.
Immer wieder sah ich von meinem Fenster aus, wie er mit
tieftrauriger Miene unter dem Weißdorn im Garten saß und auf die
Straße nach Paris hinausblickte. Schließlich raffte ich mich auf
und ging zu ihm.
»Hast du denn nichts zu tun, Fergus?« fragte ich
ihn. »Gewiß kann einer der Stallburschen Hilfe gebrauchen.«
»Ja, Madame«, meinte er zweifelnd. Er kratzte sich
geistesabwesend am Po. Mit mißtrauischem Blick beobachtete ich ihn
dabei.
»Fergus«, sagte ich mit verschränkten Armen, »hast
du Läuse?« Er zog seine Hand weg, als hätte er sich
verbrannt.
»Aber nein, Madame!«
Ich griff nach ihm und steckte einen Finger in
seinen Kragen, so daß der schmutzige Ring um seinen Hals sichtbar
wurde.
»Baden«, befahl ich knapp.
»Nein!« Er zuckte zurück, aber ich packte ihn an
der Schulter. Seine Heftigkeit überraschte mich. Zwar begeisterte
ihn die Aussicht auf ein Bad nicht mehr als jeden anderen Bewohner
von Paris - die Vorstellung, ins Wasser zu tauchen, erweckte in
ihnen einen an Entsetzen grenzenden Widerwillen -, aber in diesem
kleinen Teufel, der sich unter meiner Hand wand und krümmte,
erkannte ich das sonst so fügsame Kind kaum wieder.
Ich hörte Stoff reißen, dann war er frei und sprang
wie ein Hase auf der Flucht vor dem Wiesel durch die
Brombeerbüsche. Laub raschelte, Steine knirschten, und fort war er.
Er kletterte über die Mauer und strebte auf die Nebengebäude hinter
dem Haus zu.
Ich versuchte mich im Labyrinth der baufälligen
Nebengebäude hinter dem Chäteau zurechtzufinden und umrundete leise
fluchend Dreckpfützen und Müllhaufen. Da hörte ich plötzlich einen
hohen, wimmernden Laut. Vor mir erhob sich ein Schwarm Fliegen von
einem Haufen. Ich war jedoch noch nicht nahe genug herangekommen,
um sie aufgescheucht zu haben. In dem dunklen Eingang hinter dem
Misthaufen mußte sich etwas bewegt haben.
»Aha!« rief ich. »Hab’ ich dich, du schmuddeliges,
kleines Biest! Komm auf der Stelle heraus!«
Niemand erschien, aber im Stall entstand Unruhe,
und ich meinte im Schatten etwas weiß aufleuchten zu sehen. Ich
hielt mir die Nase zu, stieg über den Misthaufen und trat in den
Stall.
Ein zweimaliger Aufschrei des Entsetzens war zu
hören: von mir, als ich an der hinteren Wand jemanden erblickte,
der aussah wie ein Wilder aus Borneo, und von ihm, als er mich
sah.
Das Sonnenlicht, das durch die Ritzen zwischen den
Brettern drang, spendete genug Licht. Bei näherer Betrachtung sah
er nicht ganz so schrecklich aus, wie ich zunächst gedacht hatte,
aber auch nicht viel besser. Sein Bart war ebenso schmutzig und
verfilzt wie seine Haare, die auf sein zerlumptes Hemd fielen. Er
war barfuß, und wenn der Ausdruck sans-culottes noch nicht
allgemein gebräuchlich war, so trug er jedenfalls keine Schuld
daran.
Ich hatte keine Angst vor ihm, da er so
offensichtlich Angst vor mir hatte. Er drückte sich gegen die Wand,
als hoffte er, sie auf dem Wege der Osmose durchdringen zu
können.
»Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Ich tue Ihnen
nichts.«
Doch offenbar glaubte er mir nicht, denn er
richtete sich abrupt auf, griff in seine Hemdbrust und zog ein
hölzernes Kruzifix an einem Lederband heraus. Er hielt es mir
entgegen und begann mit angstbebender Stimme zu beten.
»Verflixt«, murmelte ich unwirsch. »Nicht schon
wieder!« Ich atmete tief ein.
»Pater-Noster-qui-es-in-coelis-et-in-terra...« Seine Augen
traten hervor, und er hielt weiterhin sein Kruzifix umklammert,
hörte aber angesichts meiner Darbietung selbst auf zu beten.
»...Amen!« schloß ich, nach Luft schnappend. Ich
hielt beide Hände hoch und fuchtelte vor seinem Gesicht herum.
»Sehen Sie? Bei keinem Wort gestockt, kein einziges quotidianus
da nobis hodie an der falschen Stelle, oder? Ich habe nicht
einmal die Finger gekreuzt. Also kann ich keine Hexe sein, nicht
wahr?«
Der Mann ließ das Kruzifix langsam sinken und
starrte mich mit offenem Mund an. »Eine Hexe?« sagte er. Er sah
mich an, als wäre ich verrückt, was unter den gegebenen
Umständen ein starkes Stück war.
»Sie haben mich nicht für eine Hexe gehalten?«
fragte ich und kam mir ein klein wenig albern vor.
Im Gewirr seines Bartes kam so etwas wie ein
Lächeln zum Vorschein, verschwand aber sofort wieder.
»Nein, Madame«, sagte er. »Ich bin es gewohnt, daß
die Leute das von mir behaupten.«
»Tatsächlich?« Ich beäugte ihn neugierig. Er war
nicht nur zerlumpt und schmutzstarrend, sondern offenbar auch dem
Hungertod nahe. Die Arme, die aus seinen Hemdsärmeln ragten, waren
so mager wie die eines Kindes. Sein Französisch hingegen klang
gebildet und geschliffen, wenn auch mit merkwürdigem Akzent.
»Wenn Sie ein Hexer sind«, sagte ich, »dann sind
Sie nicht gerade erfolgreich. Wer zum Teufel sind Sie?«
Bei diesen Worten kehrte die Furcht in seine Augen
zurück. Er sah sich nach einem Fluchtweg um, aber der Stall war,
wenn auch alt, so doch solide gebaut, und ich stand vor dem
einzigen Ausgang. Schließlich raffte er seinen ganzen Mut zusammen,
richtete sich zu seiner vollen Größe auf - er war etwas kleiner als
ich - und erklärte mit großer Würde: »Ich bin Pastor Walter Laurent
aus Genf.«
»Sie sind Priester?« fragte ich wie vom Donner
gerührt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Priester -
Schweizer oder nicht - so herunterkommen konnte.
Pastor Laurent sah beinahe so entsetzt aus wie
ich.
»Priester?« echote er. »Ein Papist? Niemals!«
Plötzlich dämmerte es mir.
»Ein Hugenotte!« rief ich. »Das heißt - Sie sind
Protestant, nicht wahr?« Ich erinnerte mich an die Leichen, die ich
im Wald hatte hängen sehen. Das erklärte einiges.
Seine Lippen zitterten, aber er preßte sie fest
zusammen, bevor er antwortete.
»Ja, Madame. Ich bin Pastor. Ich predige seit einem
Monat in dieser Gegend.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen
und musterte mich. »Verzeihen Sie, Madame - Sie sind, glaube ich,
keine Französin.«
»Ich bin Engländerin«, sagte ich, und er ließ
erleichtert die Schultern sinken.
»Großer Gott im Himmel«, sagte er andächtig. »Sie
sind also auch Protestantin?«
»Nein, ich bin Katholikin«, antwortete ich. »Aber
ich bin deshalb nicht bösartig«, fügte ich hastig hinzu, als ich
sah, wie seine hellbraunen Augen beunruhigt flackerten. »Keine
Sorge, ich sage niemandem, daß Sie hier sind. Vermutlich wollten
Sie etwas zu essen stehlen?« fragte ich mitfühlend.
»Stehlen ist eine Sünde«, entgegnete er empört.
»Nein, Madame. Aber...« Er preßte die Lippen zusammen, doch sein
Blick in Richtung Chäteau verriet ihn.
»Also werden Sie von einem der Dienstboten mit
Essen versorgt«, sagte ich. »Jemand stiehlt für Sie. Aber
vermutlich können Sie ihm dafür die Absolution erteilen, und alles
regelt sich von selbst. Das moralische Eis, auf dem Sie sich
bewegen, ist ziemlich dünn, wenn Sie mich fragen«, fuhr ich tadelnd
fort, »aber das geht mich im Grunde nichts an.«
In seinen Augen glomm ein Fünkchen Hoffnung. »Heißt
das - Sie werden mich nicht festnehmen lassen, Madame?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Ich fühle mich
Leuten, die vor dem Gesetz auf der Flucht sind, irgendwie
verbunden, wo ich doch selbst beinahe auf dem Scheiterhaufen
gelandet wäre.« Mir war nicht ganz klar, warum ich soviel
ausplauderte, vermutlich aus Erleichterung darüber, einem
intelligenten Menschen gegenüberzustehen. Louise war lieb, treu und
fürsorglich, aber sie hatte ungefähr soviel Verstand wie die
Kuckucksuhr in ihrem Salon. Beim Gedanken an die Schweizer Uhr
ahnte ich plötzlich, wer zu Pastor Laurents heimlicher Gemeinde
gehörte.
»Hören Sie«, sagte ich, »wenn Sie hierbleiben
wollen, werde ich ins Chäteau gehen und Berta oder Maurice sagen,
daß Sie hier sind.«
Der arme Mann bestand nur noch aus Haut, Knochen
und Augen. Jeder seiner Gedanken spiegelte sich in diesen großen,
sanften Braunaugen. Just in diesem Moment dachte er offenbar, daß
diejenigen, die mich auf den Scheiterhaufen bringen wollten, auf
dem richtigen Weg gewesen seien.
»Ich habe«, begann er bedächtig und griff wieder
nach seinem Kruzifix, »von einer Engländerin gehört, die in Paris
La Dame Blanche genannt wird. Eine Komplizin von Raymond,
dem Ketzer.«
Ich seufzte. »Das bin ich. Obwohl ich mich nicht
als Komplizin von Maitre Raymond bezeichnen würde, eher als
Freundin.« Als ich seinen argwöhnischen Blick sah, holte ich wieder
tief Luft. »Pater noster...«
»Nein, nein, Madame, bitte.« Zu meiner Verwunderung
hatte er das Kruzifix gesenkt und lächelte.
»Auch ich bin mit Maître Raymond bekannt, ich habe
ihn in
Genf getroffen. Dort war er als angesehener Arzt und
Kräuterheilkundiger tätig. Nun hat er sich leider dunkleren Zielen
verschrieben, obwohl ihm natürlich nichts nachgewiesen
wurde.«
»Nachgewiesen? In welcher Hinsicht? Und was
bedeutet dieses Gerede über Raymond, den Ketzer?«
»Sie wußten es nicht?« Er zog seine schmalen Brauen
hoch. »Ah, dann haben sie mit Maître Raymonds... Aktivitäten nichts
zu tun.« Er entspannte sich sichtlich.
»Aktivitäten« schien mir eine unzureichende
Beschreibung für das Verfahren, mit dem Raymond mich geheilt hatte,
also schüttelte ich den Kopf.
»Nein, ich würde jedoch gern mehr darüber erfahren.
Aber ich sollte nicht herumstehen und reden, ich sollte gehen und
Berta mit einem Imbiß zu Ihnen schicken.«
Würdevoll winkte er ab.
»Es eilt nicht, Madame. Die Bedürfnisse des Körpers
müssen hinter denen der Seele zurückstehen. Sie mögen Katholikin
sein, aber Sie waren freundlich zu mir. Wenn Sie mit Maître
Raymonds okkultem Treiben nichts zu tun haben, dann ist es nur gut,
Sie rechtzeitig zu warnen.«
Ohne den Schmutz und die gesplitterten
Fußbodenbretter zu beachten, ließ er sich mit gekreuzten Beinen
nieder, lehnte sich gegen die Stallwand und bedeutete mir höflich,
mich ebenfalls zu setzen. Interessiert hockte ich mich ihm
gegenüber auf den Boden.
»Haben Sie schon einmal von einem gewissen du
Carrefours gehört, Madame?« fragte der Pastor. »Nein? Sein Name ist
in Paris wohlbekannt, das versichere ich Ihnen, aber Sie tun besser
daran, ihn nicht zu erwähnen. Dieser Mann war Gründer und Anführer
einer Gruppe, die sich übelsten Lastern hingab, und zwar in
Verbindung mit den verderbtesten okkulten Praktiken. Ich bringe es
nicht über mich, Ihnen die Zeremonien zu schildern, die insgeheim
in adligen Kreisen abgehalten wurden. Und sie nennen mich
einen Hexer!« sagte er im Flüsterton.
Er hob einen knochigen Finger, als wollte er meinen
unausgesprochenen Einwänden vorbeugen.
»Ich bin mir darüber im klaren, Madame, welch
schlimmer Klatsch ohne jede Grundlage verbreitet wird - wer sollte
das besser wissen als wir? Aber die Praktiken von du Carrefours und
seinen Anhängern sind allgemein bekannt, denn er wurde deshalb vor
Gerichtgestellt, ins Gefängnis geworfen und schließlich auf der
Place de la Bastille verbrannt.«
Ich erinnerte mich an Raymonds sorglose Bemerkung:
»In Paris wurde seit... mindestens zwanzig Jahren niemand mehr
wegen Hexerei verbrannt.« Ungeachtet der Wärme fröstelte
ich.
»Und Maître Raymond stand mit diesem du Carrefours
in Verbindung?«
Der Pastor runzelte die Stirn und kratzte
geistesabwesend seinen verfilzten Bart. Wahrscheinlich hat er
sowohl Läuse als auch Flöhe, dachte ich und versuchte, unauffällig
von ihm abzurücken.
»Tja, schwer zu sagen. Niemand weiß, woher Maitre
Raymond stammt. Er spricht mehrere Sprachen, alle ohne erkennbaren
Akzent. Ein sehr mysteriöser Mensch, dieser Maître Raymond, aber -
das würde ich bei Gott beschwören - ein guter.«
Ich lächelte ihn an. »Das glaube ich auch.«
Er nickte und lächelte, wurde aber wieder ernst,
als er weitererzählte: »Sie haben recht, Madame. Dennoch
korrespondierte er von Genf aus mit du Carrefours. Ich weiß es,
denn er hat es mir selbst gesagt - er lieferte verschiedene Artikel
auf Bestellung: Pflanzen, Elixiere, getrocknete Tierhäute, sogar
eine Art Fisch - ein überaus seltsames und erschreckendes
Lebewesen, das, wie er sagte, aus den dunkelsten Tiefen des Meeres
stammt. Ein entsetzliches Ding, nur Zähne, fast kein Fleisch - aber
mit den fürchterlichsten kleinen... Lichtern... wie winzige
Laternen, hinter den Augen.«
»Wirklich«, sagte ich fasziniert.
Pastor Laurent zuckte die Achseln. »Das alles kann
natürlich vollkommen harmlos sein, eine reine Geschäftsbeziehung.
Aber Maître Raymond verschwand um dieselbe Zeit aus Genf, als du
Carrefours erstmals unter Verdacht geriet - und wenige Wochen nach
du Carrefours Hinrichtung hörte ich, daß Maître Raymond sein
Geschäft in Paris eröffnet hatte. Angeblich hat er auch eine Reihe
von du Carrefours heimlichen Praktiken übernommen.«
»Hmm.« Ich dachte an Raymonds Kabinett und an den
Schrank, der mit kabbalistischen Symbolen bemalt war. Um diejenigen
fernzuhalten, die daran glauben. »Sonst noch etwas?«
Pastor Laurent blickte mich erstaunt an.
»Nein, Madame«, sagte er leise. »Meines Wissens
nicht.«
»Ich selbst neige wirklich nicht zu solchen
Dingen«, versicherte ich ihm.
»Oh? Gut«, erwiderte er zögernd. Nach kurzem
Schweigen schien er eine Entscheidung getroffen zu haben, und er
neigte höflich den Kopf in meine Richtung.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich mich einmische,
Madame. Berta und Maurice haben mir von Ihrem Verlust erzählt. Es
tut mir leid, Madame.«
»Ich danke Ihnen«, sagte ich und starrte auf die
Streifen, die das Sonnenlicht auf den Boden malte.
Wieder herrschte Schweigen, dann fragte Pastor
Laurent feinfühlig: »Ihr Mann, Madame? Ist er nicht hier bei
Ihnen?«
»Nein«, erwiderte ich, den Blick immer noch auf den
Boden geheftet. Fliegen schwirrten durchs Licht, machten sich aber
bald davon, da sie keine Nahrung fanden. »Ich weiß nicht, wo er
ist.«
Ich wollte eigentlich nicht weitersprechen, aber
etwas bewog mich, den zerlumpten Prediger anzusehen.
»Seine Ehre war ihm wichtiger als ich oder sein
Kind oder ein unschuldiger Mann«, erklärte ich verbittert. »Mir ist
es gleich, wo er ist. Ich will ihn niemals wiedersehen!«
Erschüttert hielt ich inne. Ich hatte das niemals
zuvor in Worte gefaßt. Aber es war die Wahrheit. Es hatte tiefes
Vertrauen zwischen uns geherrscht, und Jamie hatte es um seiner
Rache willen zerstört. Ich verstand ihn: Ich kannte die Gewalt der
Gefühle, die ihn trieben, und wußte, daß sie sich nicht auf ewig
unterdrücken ließen. Aber ich hatte ihn um ein paar Monate Aufschub
gebeten, und die hatte er mir gewährt. Und dann hatte er sein Wort
gebrochen und damit alles, was zwischen uns war, geopfert. Nicht
nur das: Er hatte das Vorhaben gefährdet, das wir unternommen
hatten. Ich verstand ihn, aber ich konnte ihm nicht
verzeihen.
Pastor Laurent legte seine Hand auf meine. Sie war
schmutzverkrustet, seine Nägel waren abgebrochen und
schwarzgerändert, aber ich schreckte nicht zurück. Ich erwartete
Plattheiten oder eine Predigt, aber er sagte nichts. Er hielt
einfach meine Hand, sehr sanft, sehr lange, während die
Sonnenstrahlen über den Boden zogen und um uns herum die Fliegen
summten.
»Sie sollten lieber gehen«, sagte er schließlich
und ließ meine Hand los. »Man wird Sie vermissen.«
»Das glaube ich auch.« Ich holte tief Luft. Jetzt
fühlte ich mich ruhiger, wenn auch nicht unbedingt besser. In der
Tasche meines Kleides ertastete ich eine kleine Börse.
Ich zögerte, da ich ihn nicht beleidigen wollte.
Schließlich war ich nach seinen Maßstäben eine Ketzerin, auch wenn
er mich nicht für eine Hexe hielt.
»Darf ich Ihnen etwas Geld geben?« fragte ich
vorsichtig.
Er dachte kurz nach, dann lächelte er, und seine
hellbraunen Augen leuchteten.
»Nur unter einer Bedingung, Madame. Wenn Sie
erlauben, daß ich für Sie bete?«
»Das ist ein guter Tausch«, sagte ich und gab ihm
die Börse.