5
Über den Tod hinaus
Still lag der Friedhof von St. Kilda im
Sonnenlicht. Er befand sich auf einem Plateau, das eine Laune der
Natur in einem Abhang hinterlassen hatte. Das Gelände war so
uneben, daß manche Grabsteine in Senken verschwanden. Andere
lehnten sich wie betrunken zur Seite oder waren ganz
umgefallen.
»Ein bißchen unordentlich«, entschuldigte sich
Roger. Sie waren an dem überdachten Friedhofseingang
stehengeblieben und betrachteten die altertümlichen Grabsteine im
Schatten der mächtigen Eiben. Über der entfernten Bucht ballten
sich Wolken zusammen, doch die Bergkuppe lag im Sonnenlicht, und es
war windstill und warm.
»Mein Vater hat ein- oder zweimal im Jahr ein paar
Männer aus der Gemeinde zusammengetrommelt und ist mit ihnen
hergefahren, um hier Ordnung zu schaffen. Aber in letzter Zeit ist
der Ort recht verwahrlost.« Versuchsweise bewegte Roger das Tor,
dessen Scharniere gebrochen waren und dessen Schnappschloß nur noch
an einem Nagel baumelte.
»Hübsch und friedlich ist es hier.« Brianna schob
sich vorsichtig an dem rostigen Tor vorbei. »Und wirklich alt,
nicht wahr?«
»Aye, das stimmt. Dad war der Meinung, diese Kirche
sei auf der Stätte eines frühzeitlichen Heiligtums oder irgendeines
Tempels errichtet worden; deswegen liegt sie auch so abseits. Einer
seiner Freunde aus Oxford hat immer wieder angedroht, er würde hier
mit Ausgrabungen beginnen, um zu sehen, was darunter verborgen ist.
Aber natürlich hat er dafür keine Genehmigung bekommen, obwohl dies
schon längst kein heiliger Ort mehr ist.«
»Der Aufstieg ist ja ziemlich anstrengend.« Brianna
fächelte sich mit dem Reiseführer Luft zu. »Aber schön ist es
hier.« Bewundernd musterte sie die Kirchenfassade. In mühevoller
Handarbeit waren
Natursteine in eine natürliche Öffnung im Felsen gefügt und die
Spalten mit Torf und Lehm ausgefüllt worden. Die Kirche wirkte wie
eine organische Fortsetzung des Gesteins. Türen und Fenster
schmückten Ornamente, die christliche und auch sehr viel ältere
Symbole zeigten.
»Finden wir hier Jonathan Randalls Grabstein?«
Brianna wies auf den Friedhof, der sich vor ihnen ausbreitete.
»Mutter wird staunen.«
»Aye, das vermute ich auch. Ich habe sein Grab auch
noch nicht gesehen.« Er hoffte, die Überraschung würde angenehmer
Natur sein; Brianna zumindest war begeistert gewesen, als er ihr am
Abend zuvor am Telefon behutsam von dem Grab erzählt hatte.
»Ich weiß Bescheid über Jonathan Randall«, erklärte
sie jetzt. »Daddy hat ihn bewundert; er meinte, er sei einer der
wenigen interessanten Menschen in unserer Ahnenreihe. Ich vermute,
er war ein guter Soldat, denn Daddy hatte eine Menge von
Auszeichnungen und Orden, die ihm verliehen worden waren.«
«Wirklich?« Suchend blickte sich Roger nach Claire
um. »Sollen wir Ihrer Mutter mit der Pflanzenpresse helfen?«
Brianna schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat
wahrscheinlich nur am Wegrand eine Pflanze gefunden, der sie nicht
widerstehen konnte. Sie wird gleich hier sein.«
Es war ein friedlicher Ort. Jetzt, um die
Mittagszeit, schwiegen selbst die Vögel, und kein Windhauch strich
durch die Nadelbäume, die den Rand des Plateaus säumten. Es gab
weder frisch ausgehobene Gräber noch Plastikblumen, die auf einen
neueren Trauerfall hingedeutet hätten; hier herrschte der Frieden
der längst Verstorbenen.
Langsam und ohne festen Plan schlenderten die drei
über den alten Friedhof. Roger und Brianna blieben hin und wieder
stehen, um sich altmodische Inschriften vorzulesen, während sich
Claire abgesondert hatte und sich immer wieder bückte, um eine
Ranke abzuschneiden oder ein blühendes Pflänzchen behutsam mit der
Wurzel herauszureißen.
Roger blieb lächelnd vor einem Stein stehen und
forderte Brianna auf, den Vers zu lesen.
»Zieht den Hut vor diesem Mann«, buchstabierte sie,
»der niemals geriet in des Whiskys Bann. Bailie William Watson, er
ruhe in Frieden, hat Versuchung und Anfechtungen stets gemieden.«
Als
sie aufstand, war ihr Gesicht rot vor Lachen. »Keine Lebensdaten.
Wann mag William Watson wohl gelebt haben?«
»Im achtzehnten Jahrhundert wahrscheinlich«,
erwiderte Roger. »Die Steine aus dem siebzehnten Jahrhundert sind
größtenteils schon zu sehr verwittert, als daß man ihre Inschrift
noch lesen könnte. Und weil die Kirche im Jahre 1800 aufgegeben
wurde, ist hier in den letzten zweihundert Jahren niemand mehr
beerdigt worden.«
Gleich darauf stieß Brianna einen gedämpften Schrei
aus. »Hier ist es!« Sie stand auf und winkte Claire zu, die am
anderen Ende des Friedhofs stand und einen grünen Zweig
betrachtete. »Mama! Komm und sieh dir das an!«
Claire winkte zurück. Dann stapfte sie mit
bedächtigen Schritten über die überwucherten Grabhügel zu ihnen und
dem flachen, quadratischen Stein.
»Was ist?« fragte sie. »Habt ihr etwas
Interessantes gefunden?«
»Ich glaube, ja. Kennen Sie diesen Namen?« Roger
trat beiseite, damit sie besser sehen konnte.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« Urplötzlich war
Claire blaß geworden. Sie starrte wie gelähmt auf den
wettergegerbten Stein. Die Pflanze, die sie gepflückt hatte, lag
zerdrückt in ihrer Hand.
»Mrs. Randall - Claire - was ist mit Ihnen?«
Ihre bernsteinfarbenen Augen wirkten ausdruckslos,
und es war, als hätte sie Roger nicht gehört. Doch dann blickte sie
blinzelnd auf. Zwar war sie noch blaß, doch sie schien sich wieder
gefaßt zu haben.
»Es geht schon«, sagte sie mit gepreßter Stimme.
Dann ließ sie die Finger über die Buchstaben der Inschrift
gleiten.
»Jonathan Wolverton Randall«, sagte sie leise,
»1705 bis 1746. Ich habe es dir gesagt! Habe ich es dir nicht
gesagt, du Hurensohn? Ich habe es dir gesagt!« Ihre Stimme, die
eben noch so beherrscht geklungen hatte, vibrierte nun vor
unterdrückter Wut.
»Mama! Ist alles in Ordnung?« Brianna packte ihre
Mutter bestürzt am Arm.
Roger hatte den Eindruck, als legte sich ein
Schatten über Claires Augen. Die Erregung, die sich dort eben noch
gezeigt hatte, war plötzlich wie weggewischt. Mechanisch lächelnd
nickte sie.
»Ja. Ja, es ist alles in Ordnung.« Sie öffnete die
Hand, und die schlaffe Pflanze fiel zu Boden.
»Ich hatte mir schon gedacht, daß du staunen
wirst.« Brianna warf ihrer Mutter einen besorgten Blick zu. »Ist
das nicht einer von Daddys Vorfahren? Der Soldat, der in Culloden
gestorben ist?«
»Ja«, erwiderte Claire, den Blick auf den Grabstein
gerichtet. »Und er ist wirklich tot, nicht wahr?«
Roger und Brianna sahen sich an. Roger, der ein
schlechtes Gewissen hatte, faßte Claire an den Schultern.
»Es ist ziemlich heiß heute«, sagte er, um
Beiläufigkeit bemüht. »Vielleicht sollten wir in die Kirche gehen.
Dort ist es kühler. Außerdem können wir uns die interessanten
Steinmetzarbeiten am Taufbecken ansehen.«
Claire lächelte ihn an. Ein ungezwungenes Lächeln,
ein wenig müde vielleicht, aber ohne jede Spur einer geistigen
Verwirrung.
»Geht ihr schon vor«, sagte sie und nickte Brianna
zu. »Ich brauche frische Luft und bleibe noch ein wenig
draußen.«
»Ich kann dich doch nicht allein lassen!« Brianna
schien ihrer Mutter Gesellschaft leisten zu wollen, doch Claire
hatte mittlerweile nicht nur ihre Fassung wiedergewonnen, sondern
auch ihre Autorität.
»Unsinn«, erwiderte sie resolut. »Mir geht es gut.
Ich setze mich dort in den Schatten der Bäume. Seht ihr euch die
Kirche an. Ich möchte ein wenig allein sein«, fügte sie
entschlossen hinzu, als sie sah, daß Roger widersprechen
wollte.
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging
zu der Reihe dunkler Eiben, die den Friedhof im Westen säumten.
Brianna sah ihr zweifelnd nach, doch Roger nahm sie am
Ellenbogen.
»Ist vielleicht ganz gut so«, murmelte er.
»Schließlich ist Ihre Mutter Ärztin. Sie wird schon wissen, was sie
sich zumuten kann.«
»Na ja... das hoffe ich.« Nach einem letzten
besorgten Blick auf ihre Mutter ließ sich Brianna fortführen.
Sie betraten die Kirche, einen leeren Raum mit
Holzdielen. Das alte Taufbecken stand nur deshalb noch an seinem
Platz, weil es sich nicht hatte ausbauen lassen. Es war aus dem
Steinsims gehauen, das an einer Seite des Innenraums entlanglief.
Oberhalb des Taufbekkens stand eine Skulptur der heiligen Kilda,
den leeren Blick fromm gen Himmel gewandt.
»Dies war wohl früher eine heidnische Gottheit«,
erklärte Roger, während er die Umrisse der Statue mit dem Finger
nachfuhr. »Hier
kann man noch genau sehen, wo nachträglich der Nonnenschleier
hinzugefügt wurde - von den Augen ganz zu schweigen.«
»Wie pochierte Eier«, stimmte Brianna zu und
imitierte den nach oben gewandten Blick. »Und was sind das für
Meißelarbeiten? Die sehen aus wie die Ornamente auf den piktischen
Steinen von Clava.«
Langsam schlenderten sie an den Wänden der Kirche
entlang und lasen die Inschriften auf den Holztafeln, die von
längst verblichenen Gemeindemitgliedern zum Angedenken an ihre noch
früher verstorbenen Vorfahren gestiftet worden waren. Sie sprachen
leise, weil sie insgeheim auf ein Geräusch vom Friedhof lauschten,
doch als alles ruhig blieb, entspannten sie sich allmählich.
Roger folgte Brianna zum vorderen Teil des
Kirchenschiffs. Dabei fiel sein Blick immer wieder auf die
Löckchen, die aus ihrem Zopf gerutscht waren und sich im Nacken
kräuselten.
An der Vorderfront fanden sie anstelle des früheren
Altarsteins lediglich ein Loch, über das man blanke Holzplanken
gelegt hatte. Roger lief ein Schauer über den Rücken, als er so
nahe neben Brianna stand.
Seine Gefühle waren so übermächtig, daß er den
Eindruck hatte, sie würden im leeren Raum widerhallen, und er
hoffte nur, Brianna könnte sie nicht hören. Sie kannten sich jetzt
knapp eine Woche und hatten bisher kaum die Gelegenheit zu einem
ungestörten Gespräch gehabt. Gewiß würde sie ihn abweisen oder,
schlimmer noch, auslachen, wenn sie wüßte, was er empfand.
Aber als er ihr einen verstohlenen Blick zuwarf,
stellte er fest, daß sie ruhig und ernst geblieben war. Auch sie
sah ihn an, mit einem Ausdruck in ihren tiefblauen Augen, der ihn
alles vergessen ließ. Er wandte sich ihr zu und streckte die Arme
nach ihr aus.
Ihr Kuß war kurz und sanft - und doch vermittelte
er ihnen das Gefühl, als hätten sie sich in diesem Augenblick das
Eheversprechen gegeben.
Roger ließ die Hände sinken, doch ihre Wärme
haftete auf seinem Körper und seinen Lippen, als hielte er sie noch
immer im Arm. Einen Moment lang blieben sie so stehen, und ihr Atem
streifte den seinen. Dann trat Brianna einen Schritt zurück. Roger
spürte noch immer ihre Berührung auf seiner Hand, und er ballte die
Hände zur Faust, um sie festzuhalten.
Plötzlich durchbrach ein Schrei die Stille der
Kirche. Ohne weiter
zu überlegen, stürzte Roger nach draußen. Eilig stolperte er über
umgefallene Grabsteine auf die Eiben zu. Er machte sich nicht
einmal die Mühe, die Zweige für Brianna beiseite zu halten, die ihm
folgte.
Da sah er Claire Randalls blutleeres Gesicht.
Kreidebleich hob es sich von den dunklen Zweigen der Eiben ab. Sie
taumelte und sank auf die Knie, als wollten ihre Füße sie nicht
mehr tragen.
»Mutter!« Brianna kniete sich neben sie ins Gras.
»Mama! Was ist los? Bist du ohnmächtig? Du solltest den Kopf
zwischen die Knie stecken. Oder leg dich lieber hin.«
Ohne die gutgemeinten Vorschläge ihrer Tochter zu
beachten, hob Claire den Kopf.
»Ich will mich nicht hinlegen«, keuchte sie. »Ich
will... O Gott! O du mein Herr im Himmel!« Während sie sich in dem
hohen Gras aufrichtete, strich sie mit zitternder Hand über einen
Grabstein.
»Mrs. Randall! Claire!«« Roger hockte sich neben
sie und ergriff ihren zitternden Arm. Jetzt machte er sich wirklich
Sorgen. Auf ihren Schläfen perlte der Schweiß, und sie sah aus, als
würde sie gleich zusammenbrechen. »Claire!« rief er noch einmal,
drängender als zuvor, um sie aus der Trance zu wecken, in die sie
offensichtlich gefallen war. »Was ist los? Haben Sie einen Namen
entdeckt, den Sie kennen?« Doch noch während er dies aussprach,
wußte er, wie unsinnig es war. In den letzten zweihundert Jahren
ist hier niemand mehr beerdigt worden, hatte er Brianna
erklärt.
Doch Claire schob seine Hand beiseite und strich
liebkosend über den Stein. Zärtlich fuhr sie die verwitterten
Buchstaben nach.
»JAMES ALEXANDER MALCOLM MACKENZIE FRASER«, las sie
laut. »Ja, ich kannte ihn.« Sie senkte den Arm und streifte die
Grashalme zur Seite, die in dichten Büscheln um den Grabstein
wuchsen. Unter dem Namen wurde eine etwas kleinere Inschrift
sichtbar.
»Verbunden mit Claire über den Tod hinaus«, las
sie.
»Ja, ich kannte ihn«, wiederholte sie so leise, daß
Roger sie kaum verstand. »Claire, das bin ich. Er war mein Mann.«
Dann blickte sie auf und sah in das bleiche, entsetzte Gesicht
ihrer Tochter. »Und dein Vater.«
Fassungslos starrten Roger und Brianna sie an.
Außer dem Rauschen der Eiben lag über dem Friedhof
Grabesstille.
»Nein«, sagte ich, mittlerweile ziemlich wütend.
»Zum fünftenmal, nein! Ich will keinen Schluck Wasser. Ich habe
keinen Sonnenstich. Ich werde nicht ohnmächtig; mir ist auch nicht
übel. Und geisteskrank bin ich erst recht nicht, obwohl ihr das
wahrscheinlich glaubt.«
Roger und Brianna tauschten einen Blick, der mir
verriet, daß ich recht vermutet hatte. Mit vereinten Kräften hatten
sie mich vom Friedhof ins Auto gebracht, und da ich nicht ins
Krankenhaus wollte, waren wir ins Pfarrhaus gefahren. Roger hatte
mir eine Dosis Whisky gegen den Schock verordnet, doch noch immer
schweiften seine Blicke ab und zu zum Telefon, als wollte er sich
zusätzlicher Hilfe versichern - der einer Zwangsjacke
vermutlich.
»Mama«, sagte Brianna, während sie mir fürsorglich
das Haar aus der Stirn strich. »Du bist durcheinander.«
»Natürlich bin ich durcheinander«, entgegnete ich.
Bebend holte ich Luft und preßte die Lippen zusammen, bis ich das
Gefühl hatte, mich wieder auf meine Stimme verlassen zu
können.
»Durcheinander, gewiß«, setzte ich an, »aber nicht
verrückt.« Um Fassung ringend, hielt ich inne. Es lief anders als
geplant. Was ich im einzelnen vorgehabt hatte, wußte ich nicht,
aber sicher nicht dies: so mit der Wahrheit herauszuplatzen, ohne
mich vorzubereiten oder meine Gedanken ordnen zu können. Beim
Anblick dieses Grabsteins war jedweder Plan über den Haufen
geworfen worden.
»Verdammt noch mal, Jamie Fräser!« rief ich wütend
aus. »Was hast du dort überhaupt zu suchen? Culloden liegt Meilen
entfernt!«
Brianna fielen fast die Augen aus dem Kopf, und
Rogers Blicke schweiften wieder zum Telefon. Ich zügelte mich rasch
und versuchte, mich zusammenzureißen.
Ruhe bewahren, Beauchamp, sagte ich mir vor. Tief
einatmen! Einmal... zweimal... und noch einmal. Gut so. Du brauchst
nichts weiter zu tun, als ihnen die Wahrheit zu sagen. Deshalb bist
du doch nach Schottland gekommen, oder nicht?
Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton
heraus. Also schloß ich die Augen. Wenn ich nicht in die beiden
aschfahlen Gesichter vor mir blicken mußte, würde ich vielleicht
eher den Mut aufbringen. Bitte, ich will einfach nur die Wahrheit
sagen, flehte ich, ohne zu wissen, an wen ich mich wandte. An Jamie
vielleicht.
Ich hatte schon einmal die Wahrheit gesagt, und es
war nicht gutgegangen.
Ich preßte die Augen noch fester zu. Jetzt meinte
ich, wieder den Karbolgeruch des Krankenhauses einzuatmen und den
ungewohnt steifen Kopfkissenbezug an meiner Wange zu spüren. Und
vom Korridor her drang Franks Stimme zu mir, fast keuchend vor
unterdrückter Wut.
»Was meinen Sie damit, ich soll sie nicht
bedrängen? Ist das Ihr Ernst? Meine Frau ist fast drei Jahre lang
verschwunden, kommt schmutzig, mißhandelt und schwanger
zurück, und ich soll ihr keine Fragen stellen?«
Beruhigend flüsterte der Arzt auf ihn ein. Ich
verstand nur die Worte »Wahnvorstellungen«, »Trauma« und »Heben Sie
sich das für später auf, mein Guter, zumindest noch eine Weile«.
Dann hörte ich Franks protestierende Stimme schwächer werden,
während er resolut den Flur entlang zum Ausgang komplimentiert
wurde. Franks vertraute Stimme, die auch jetzt noch einen Ansturm
von Trauer, Wut und Verzweiflung in mir wachrief.
Damals hatte ich mich hilfesuchend zusammengerollt,
das Kopfkissen an die Brust gepreßt und so fest hineingebissen, daß
der Baumwollstoff zerriß und ich die plustrigen Federn in meinem
Mund spürte.
Ich biß auch jetzt die Zähne zusammen, doch in
Ermangelung einer Füllung knirschten sie nur. Endlich gab ich mir
einen Ruck und öffnete die Augen.
»Hört mal«, sagte ich so sachlich und vernünftig
ich konnte. »Es tut mir leid. Ich weiß, daß es unsinnig klingt.
Aber es ist nun einmal wahr, und daran kann ich nichts
ändern.«
Brianna beruhigten meine Worte nicht im mindesten.
Sie rückte näher an Roger heran. Der hatte sein ungläubiges Staunen
abgelegt und zeigte vorsichtiges Interesse. Besaß er vielleicht
doch das nötige Vorstellungsvermögen, um die Wahrheit zu
begreifen?
Ich entschloß mich jedenfalls, seinen
Gesichtsausdruck als hoffnungsvollen Hinweis zu werten, und öffnete
meine Fäuste.
»Diese verdammten Steine sind schuld«, erklärte
ich. »Ihr wißt doch, der Steinkreis auf dem Feenhügel im
Westen.«
»Craigh na Dun«, murmelte Roger. »Meinen Sie
den?«
»Genau.« Erleichtert seufzte ich auf. »Dann kennen
Sie vielleicht auch die Sagen, die man sich über die Feenhügel
erzählt, nicht wahr? Über Menschen, die im Felsgestein gefangen
sind und zweihundert Jahre später wieder aufwachen?«
Briannas Unruhe wuchs von Minute zu Minute.
»Mutter, ich finde wirklich, du solltest dich jetzt
hinlegen«, erklärte sie und stand auf. »Vielleicht kann ich
Fiona...«
Doch Roger hielt sie fest.
»Nein, warte!« sagte er. Er sah mich mit jener
gezügelten Neugier an, die ein Wissenschaftler zeigt, bevor er eine
neue Probe unters Mikroskop schiebt. »Fahren Sie fort«, forderte er
mich auf.
»Danke«, erwiderte ich trocken. »Macht euch keine
Sorgen. Ich habe nicht vor, euch Vorträge über das Feenreich zu
halten. Ich dachte nur, ihr würdet gern hören, daß diese Legenden
einen wahren Kern enthalten. Allerdings weiß ich nicht, was sich
wirklich dort oben befindet oder wie es funktioniert. Ich weiß
lediglich...« Ich holte tief Luft. »Ich weiß lediglich, daß ich im
Jahr 1945 in einen dieser verdammten gespaltenen Steine geriet und
im Jahr 1743 am Fuß des Berges wieder aufwachte.«
Genau das hatte ich auch Frank erzählt. Sprachlos
hatte er mich einen Moment lang angestarrt; dann hatte er nach der
Vase auf dem Nachttisch gegriffen und sie auf den Boden
geschmettert.
Doch Roger blickte mich an wie ein Wissenschaftler,
dessen neue Mikrobe seine kühnsten Erwartungen erfüllt hat. Ich
fragte mich, warum, doch momentan war ich zu sehr damit
beschäftigt, Worte zu finden, die einigermaßen vernünftig
klangen.
»Der erste, der mir über den Weg lief, war ein
englischer Dragoner in voller Montur«, sagte ich. »Und da dämmerte
mir, daß etwas nicht stimmte.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Über Rogers Gesicht
huschte ein Lächeln, doch Brianna wirkte entsetzt wie zuvor.
»Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich
zurückkehren sollte.« Ich wandte mich lieber an Roger, da er
zumindest die Bereitschaft zeigte, mir zuzuhören.
»Zudem war es so, daß Damen nicht ohne Begleitung
in der Gegend herumspazierten, und wenn doch, dann trugen sie kein
dünnes Kleid und Halbschuhe«, erklärte ich. »Angefangen vom
Dragonerhauptmann wußte jeder, der mir begegnete, daß mit mir etwas
nicht stimmte - aber sie wußten nicht, was. Wie sollten sie auch?
Ich konnte es damals nicht besser erklären als heute - und die
Irrenanstalten waren damals noch weitaus ungemütlicher. Kein
Korbflechten«, fügte ich hinzu, um einen Scherz bemüht. Besonderen
Erfolg erntete ich damit nicht. Brianna zog eine Grimasse, und die
Besorgnis stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Dieser Dragoner«, fuhr ich fort, während mir bei
der Erinnerung an Jonathan Wolverton Randall, Hauptmann des Achten
Dragonerregiments Seiner Majestät, ein Schauer über den Rücken
lief. »Zuerst glaubte ich zu träumen, weil er Frank so ähnlich sah;
ich dachte, er wäre es.« Mein Blick fiel auf den Tisch, wo eines
von Franks Büchern mit der Rückseite nach oben lag, so daß man sein
Foto mit dem dunklen, attraktiven Gesicht sah.
»Das war sicher ein Zufall«, meinte Roger, der mich
aufmerksam musterte.
»Ja und nein«, erwiderte ich, während ich meinen
Blick widerstrebend von dem Bücherstapel abwandte. »Sie wissen ja,
daß er einer von Franks Vorfahren war. Und die Männer dieser
Familie sind sich alle sehr ähnlich - zumindest körperlich«, fügte
ich hinzu, weil ich an die großen Unterschiede in anderen Bereichen
dachte.
»Was war er für ein Mensch?« Brianna schien
zumindest ansatzweise aus ihrer Erstarrung zu erwachen.
»Er war ein Widerling und ein Sadist«, erklärte
ich. Verblüfft blickten sich die beiden an.
»Schaut nicht so«, fuhr ich fort. »Im achtzehnten
Jahrhundert gab es auch schon Perverse; das ist keine Erfindung
unserer Zeit. Vielleicht war es damals sogar schlimmer, weil sich
niemand darum scherte, solange der Anstand nach außen hin gewahrt
wurde. Und Jonathan Randall war Soldat, Hauptmann einer Garnison im
Hochland, die die Clans in Schach halten sollte - und so hatte er
genügend Spielraum für seine Aktivitäten, ja, sogar offizielle
Sanktionierung.« Um mich zu stärken, nahm ich einen Schluck aus dem
Whiskyglas, das ich in der Hand hielt.
»Er hat Menschen gequält«, ergänzte ich. »Und er
hatte seinen Spaß daran.«
»Hat er... hat er Sie auch gequält?« Roger stellte
diese Frage mit äußerster Behutsamkeit und erst nach längerem
Zögern. Brianna hingegen schien sich in sich selbst
zurückzuziehen.
»Nicht direkt. Oder zumindest nicht sehr.« Ich
schüttelte den Kopf. In meinem Magen gefror eine Stelle zu Eis,
gegen die auch der Whisky nicht ankam. Hier hatte mich ein Schlag
von Jack Randall getroffen, und plötzlich kehrte der Schmerz mit
seiner ganzen Wucht zurück.
»Er hatte ausgesprochen seltsame Vorlieben. Aber es
war Jamie, den er... haben wollte.« Um nichts in der Welt hätte ich
das Wort »liebte« über die Lippen gebracht. Mein Hals war wie
ausgetrocknet, und ich schluckte den letzten Rest des Whiskys
herunter. Roger hob fragend die Karaffe hoch, und mit einem Nicken
hielt ich ihm mein Glas entgegen.
»Jamie? Ist das Jamie Fraser? Und das war...«
»Er war mein Mann«, bestätigte ich.
Brianna schüttelte den Kopf so heftig wie ein
Pferd, das Fliegen verscheucht.
»Aber du hattest doch schon einen Mann«, wandte sie
ein. »Du konntest doch nicht... selbst wenn... ich meine... das
durftest du nicht!«
»Ich mußte«, entgegnete ich. »Schließlich habe ich
es nicht mit Absicht getan.«
»Mutter, man heiratet nicht aus Versehen!« Brianna
hatte jetzt die freundliche Krankenschwesterhaltung abgelegt. Ich
hielt das für ein gutes Zeichen, obwohl wahrscheinlich Wut an deren
Stelle trat.
»Nun, aus Versehen geschah es nicht gerade«,
erklärte ich. »Aber da die Alternative darin bestand, Jonathan
Randall ausgeliefert zu werden, war die Ehe mit Jamie das kleinere
Übel. Er hat mich zu meinem Schutz geheiratet - und das war
verdammt großzügig von ihm.« Scharf fixierte ich Brianna über mein
Glas hinweg. »Er hätte es nicht tun müssen.«
Plötzlich überwältigte mich die Erinnerung an
unsere Hochzeitsnacht. Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen,
und seine Hände zitterten, als er mich berührte. Auch ich hatte
Angst - und die war begründeter als seine. Doch als er mich im
Morgengrauen umarmte und ich seine warme Brust an meinem Rücken
spürte und seine Oberschenkel mich umschlangen, hatte er
geflüstert: »Fürchte dich nicht. Wir sind jetzt zu zweit.«
»Verstehen Sie«, sagte ich zu Roger. »Ich konnte
nicht zurückkehren. Als die Schotten mich fanden, war ich auf der
Flucht vor Hauptmann Randall. Die Gruppe um Jamie war gerade auf
Viehdiebstahl. Es waren Männer vom Clan der MacKenzies von Leoch,
der Familie seiner Mutter. Da sie nicht wußten, was sie mit mir
anfangen sollten, haben sie mich als ihre Gefangene mitgenommen.
Und so konnte ich nicht wieder fort.«
Ich dachte an meine fruchtlosen Versuche, aus der
Burg von
Leoch zu fliehen, und an den Tag, als ich Jamie die Wahrheit
gesagt hatte. Er hatte mir nicht mehr Glauben geschenkt als Frank,
aber zumindest war er bereit gewesen, so zu tun als ob - und hatte
mich zu dem Feenhügel und dem Steinkreis gebracht.
»Vielleicht hielt er mich für eine Hexe«, sagte
ich, eine Vorstellung, bei der ich lächeln mußte. »In unserer Zeit
gelte ich als verrückt, damals war ich eine Hexe. Was gerade so im
Schwange ist«, erklärte ich. »Heute nennt man es Psychologie,
damals war es Magie. Fragt mich nicht, worin der Unterschied
besteht.« Roger nickte, offensichtlich verblüfft.
»In dem Dörfchen Cranesmuir unterhalb der Burg«,
fuhr ich fort, »hat man mir als Hexe den Prozeß gemacht. Aber Jamie
hat mich gerettet, und dann habe ich ihm alles erzählt. Daraufhin
brachte er mich zu dem Berg und sagte mir, ich solle zurückkehren.
Zurück zu Frank.« Ich hielt inne und holte tief Luft. Deutlich
stand mir jener Nachmittag im Oktober vor Augen, der Tag, als mir
die Herrschaft über mein Schicksal plötzlich wieder in die Hände
gelegt wurde - und ich nicht nur frei entscheiden konnte, sondern
mußte.
»Geh!« hatte er gesagt. »Auf dieser Seite gibt es
nichts für dich! Nichts außer Gewalt und Gefahr.«
»Gibt es hier wirklich nichts für mich?« hatte ich
gefragt. Er, der Ehrenmann, hatte geschwiegen, und ich traf
meineWahl.
»Es war schon zu spät«, sagte ich und starrte auf
meine Hände. Der Himmel hatte sich mit Regenwolken bezogen, doch
meine beiden Ringe glänzten golden und silbern in dem allmählich
blasser werdenden Licht. Als ich mit Jamie vermählt wurde, hatte
ich Franks Goldreif nicht abgelegt. Statt dessen trug ich Jamies
Silberring am Ringfinger meiner rechten Hand, und das nun schon
seit mehr als zwanzig Jahren - seit er ihn mir angesteckt
hatte.
»Ich habe Frank geliebt«, fuhr ich fort, wobei ich
Briannas Blick auswich. »Sehr sogar. Doch damals war Jamie schon zu
einem Teil von mir geworden. Ich konnte ihn nicht verlassen, ich
brachte es einfach nicht über mich.« Flehend sah ich zu Brianna.
Sie starrte mich mit versteinertem Gesicht an.
Und so sah ich wieder auf meine Hände hinab und
fuhr fort: »Er brachte mich dann auf sein Gut. Es hieß Lallybroch
und war wunderschön.« Um den entsetzten Ausdruck auf Briannas
Gesicht zu entkommen, schloß ich die Augen, und sofort entstand vor
meinem Geist das Bild von Broch Tuarach - oder Lallybroch, wie
es seine Bewohner nannten. Das malerische Anwesen war von Wäldern,
Flüssen und sogar ein wenig fruchtbarem Ackerland umgeben - im
Hochland eine Seltenheit. Dort herrschten Ruhe und Frieden, denn
die hohen Berge schirmten es ab vor den Kämpfen, die die Highlands
erschütterten. Doch selbst Lallybroch hatte uns nur vorübergehend
Zuflucht bieten können.
»Jamie war ein Geächteter«, erklärte ich und sah
wieder die Narben vor mir, die die Peitschenhiebe der Engländer auf
seinem Rücken hinterlassen hatten. Ein Netzwerk feiner weißer
Linien, das die breiten Schultern wie Brandzeichen überzog. »Auf
seinen Kopf war ein Preis ausgesetzt. Einer seiner Pächter verriet
ihn an die Engländer. Und so wurde er gefangengenommen und ins
Wentworth-Gefängnis geworfen. Er sollte gehängt werden.«
Roger pfiff durch die Zähne.
»Die reine Hölle!« meinte er. »Haben Sie es mal
gesehen? Die Wände sind mindestens drei Meter dick.«
Ich schlug die Augen auf. »Das stimmt«, entgegnete
ich trocken. »Ich war drinnen. Doch selbst die dicksten Wände haben
Türen.« Ich spürte etwas von jenem Mut der Verzweiflung, der mich
ins Gefängnis geführt hatte, um meine Liebe zu retten. Wenn ich das
damals für dich fertiggebracht habe, erklärte ich Jamie stumm, dann
schaffe ich das hier auch. Aber hilf mir, du verdammter Schotte,
hilf mir!
»Ich konnte ihn retten«, sagte ich mit einem tiefen
Seufzer. »Oder das, was von ihm übrig war. Der Kommandeur der
Garnison in Wentworth hieß nämlich Jonathan Randall.« Den Bildern,
die diese Worte in mir heraufbeschworen, wäre ich lieber
ausgewichen, doch ich konnte nichts dagegen tun. Jamie, wie er
nackt und blutig in Eldridge Hall lag, wo wir Zuflucht gefunden
hatten.
»Ich lasse mich nicht wieder fangen, Sassenach«,
hatte er mit zusammengebissenen Zähnen geraunt, als ich ihm die
gebrochene Hand einrenkte und seine Wunden säuberte. »Sassenach«,
das gälische Wort für einen Fremden, einen Engländer. So hatte er
mich von Anfang an genannt. Zunächst verächtlich, später voller
Zuneigung.
Mit Hilfe von Murtagh, einem Mitglied des
Fraser-Clans, hatte ich ihn verstecken und dann über den Kanal nach
Frankreich bringen können. Dort fanden wir Schutz in der Abtei Ste.
Anne de Beaupre, der ein Onkel von Jamie als Abt vorstand. Doch
hinter
den sicheren Mauern des Klosters mußte ich feststellen, daß meine
Aufgabe nicht damit endete, Jamie das Leben gerettet zu
haben.
Die Demütigungen, die ihm Jonathan Randall zugefügt
hatte, hatten sich in seine Seele eingebrannt wie die Lederpeitsche
in sein Fleisch, und die Wunden schmerzten ebenso stark. Noch heute
wußte ich nicht, wie es mir gelungen war, die bösen Geister zu
bannen. Bei manchen Heilungen verwischen sich die Grenzen zwischen
Medizin und Magie.
»Aber ich habe ihn geheilt«, sagte ich leise. »Er
ist zu mir zurückgekommen.«
Ratlos schüttelte Brianna den Kopf, und den
trotzigen Ausdruck, den sie dabei zeigte, kannte ich nur zu gut.
»Die Grahams sind dumm, die Campbells sind verlogen, die MacKenzies
sind bezaubernd, aber arglistig, und die Frasers sind stur.« Mit
diesen Worten hatte mich Jamie einmal in seine Vorstellung über die
Eigenschaften der einzelnen Clans eingeweiht. In einer Hinsicht
hatte er recht gehabt: Die Frasers, und nicht zuletzt er, waren
wirklich trotzig. Brianna auch.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie jetzt. Sie
richtete sich auf und betrachtete mich. »Vielleicht hast du zuviel
über die Soldaten von Culloden nachgedacht«, rätselte sie.
»Schließlich war die letzte Zeit eine große Belastung für dich, und
Daddys Tod...«
»Frank war nicht dein Vater«, sagte ich
rundheraus.
»Doch!« schoß sie so unvermittelt zurück, daß wir
beide überrascht auffuhren.
Frank hatte sich mit der Zeit der ärztlichen
Meinung, daß jeder Druck, »mich der Realität zu stellen«, eine
Gefahr für die Schwangerschaft bedeuten würde, gebeugt. Im Korridor
vor meinem Zimmer wurden viele Gespräche geführt und hin und wieder
wurde auch geschrien, doch schließlich gab er es auf, mich nach der
Wahrheit zu fragen. Und ich, gesundheitlich angeschlagen und mit
Sehnsucht im Herzen, hatte es aufgegeben, sie ihm zu
erzählen.
Doch diesmal würde ich nicht aufgeben.
»Vor fast zwanzig Jahren«, fuhr ich fort, »bei
deiner Geburt, habe ich Frank etwas versprochen. Ich wollte ihn
verlassen, doch er ließ mich nicht gehen. Er hat dich geliebt.«
Meine Stimme wurde weicher, als ich Brianna so vor mir sitzen sah.
»Er wollte mir nicht glauben, doch natürlich wußte er, daß er nicht
dein Vater war. Er hat mich darum gebeten, es dir nicht zu sagen.
Solange er lebte,
wollte er dein Vater sein, und zwar der einzige. Danach hätte ich
es in der Hand.« Ich schluckte und fuhr mir mit der Zunge über die
trockenen Lippen.
»Das war ich ihm schuldig«, fuhr ich fort, »denn er
hat dich geliebt. Aber jetzt ist Frank tot, und du hast ein Recht
darauf zu wissen, woher du stammst. Wenn du es nicht glauben
willst, dann geh in die National Portrait Gallery. Dort hängt ein
Bild von Ellen MacKenzie, Jamies Mutter. Sie trägt das hier.« Ich
berührte die Kette, die ich um meinen Hals trug. Unregelmäßig
geformte Barockperlen aus schottischen Flüssen zwischen
durchbohrten Goldplättchen. »Jamie hat sie mir zur Hochzeit
geschenkt.«
Steif und aufrecht und unverkennbar empört saß
Brianna da. »Nimm einen Handspiegel mit«, fuhr ich fort, »und
betrachte zuerst das Porträt und dann dich selbst. Du bist deiner
Großmutter zwar nicht wie aus dem Gesicht geschnitten, aber du
ähnelst ihr sehr.«
Roger warf Brianna einen Blick zu, als würde er sie
zum ersten Mal sehen. Er blickte mich, dann sie, dann wieder mich
an, und schließlich stand er auf.
»Hier ist etwas, was du lesen solltest«, meinte er
dann. Rasch ging er zum alten Schreibtisch des Reverend und zog ein
Bündel vergilbter Zeitungsausschnitte aus einem der Fächer.
»Achte auf das Datum«, erklärte er Brianna, als er
es ihr gab. Dann wandte er sich zu mir um und musterte mich mit dem
leidenschaftslosen Blick eines Gelehrten, der es gewohnt ist, die
Dinge nüchtern zu sehen. Noch glaubte er mir nicht, aber er besaß
die Vorstellungskraft, es in Erwägung zu ziehen.
»1743«, sagte er, als dächte er laut nach. Staunend
schüttelte er den Kopf. »Und ich habe gedacht, Sie hätten hier 1945
einen Mann kennengelernt. Nie wäre ich auf die Idee gekommen...
aber wer wäre das schon?«
Ich war überrascht. »Sie wußten davon? Von Briannas
Vater?«
Er nickte und wies auf die Zeitungsausschnitte, die
Brianna in der Hand hielt. Sie hatte noch keinen Blick darauf
geworfen, sondern starrte Roger mit einer Mischung aus Erstaunen
und Wut an. In ihr braute sich etwas zusammen. Roger, der dies
ebenfalls spürte, wandte seinen Blick schnell von ihr ab.
»Dann haben Sie die Männer, die auf der Liste
stehen und in Culloden gekämpft haben, also gekannt?« fragte
er.
Es gelang mir, mich etwas zu entspannen. »Ja, ich
habe sie gekannt.« Da grollte ein Donner, und plötzlich prasselten
Regentropfen gegen die hohen Fenster. Brianna hatte den Kopf über
die Zeitungsausschnitte gebeugt, und unter ihren herabhängenden
Locken sah man nichts anderes als ihre Nasenspitze. Die war
knallrot. Jamie war auch immer rot geworden, wenn er aufgeregt oder
wütend war. Der Anblick eines Frasers kurz vor einem Wutausbruch
war mir nur allzu vertraut.
»Sie waren in Frankreich«, murmelte Roger, mehr zu
sich selbst. Sein Entsetzen war einer aufgeregten Neugier gewichen.
»Aber Sie haben doch nicht etwa gewußt...«
»Doch«, erwiderte ich. »Deshalb sind wir ja nach
Frankreich gegangen. Ich habe Jamie von der Schlacht von Culloden
im Jahre 1746 erzählt. Wir sind nach Paris gegangen, um Charles
Stuart aufzuhalten.«