27
Eine Audienz bei Seiner Majestät
Während jener Tage in Fontainebleau kam ich zwar körperlich allmählich wieder zu Kräften, aber geistig dämmerte ich nur so dahin, mied jede Erinnerung und wollte nichts tun.
Besuch kam nur selten. Das Landhaus war ein Zufluchtsort, wo mir das hektische Treiben der Pariser Gesellschaft wie einer der unangenehmen Träume erschien, die mich quälten. Folglich war ich überrascht, als mich ein Mädchen in den Salon bat, um einen Besucher zu empfangen. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, es könnte Jamie sein, und mir wurde schwindelig. Dann aber schaltete sich mein Verstand ein; Jamie mußte inzwischen nach Spanien abgereist sein, vor Ende August war nicht mit seiner Rückkehr zu rechnen. Und was dann?
Ich konnte mich jetzt nicht damit befassen, also schob ich den Gedanken beiseite.
Zu meiner Verwunderung handelte es sich bei dem »Besucher« um Magnus, den Butler aus Jareds Haus in Paris.
»Verzeihen Sie, Madame«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Ich wollte mir nicht anmaßen... aber ich wußte nicht, ob die Angelegenheit nicht vielleicht von Wichtigkeit ist... und da der Herr fort ist...« Außerhalb seiner gewohnten Umgebung hatte er die ganze Selbstsicherheit eingebüßt, mit der er in seinem kleinen Reich herrschte. Daher dauerte es einige Zeit, ihm eine zusammenhängende Geschichte zu entlocken, aber zu guter Letzt zog er einen Brief hervor, gefaltet, versiegelt und an mich adressiert.
»Es ist die Handschrift von Monsieur Murtagh«, erklärte Magnus mit halb unwilliger Ehrfurcht. Das erklärte sein Zögern. Jareds Dienstboten betrachteten Murtagh mit einer Art respektvollem Schrecken, der sich durch die Berichte über die Ereignisse in der Rue du Faubourg-St.-Honoré noch gesteigert hatte.
Der Brief war vor zwei Wochen in Paris eingetroffen, erklärte Magnus. Unsicher, was sie damit anfangen sollten, hatten die Dienstboten gezögert und konferiert, aber schließlich hatte Magnus beschlossen, daß mir der Brief zugeleitet werden mußte.
»Da der Herr fort ist«, wiederholte er. Diesmal erregte der Satz meine Aufmerksamkeit.
»Fort?« sagte ich. Der Brief war zerknittert und befleckt nach seiner langen Reise. »Sie meinen, Jamie ist abgereist, bevor dieser Brief eintraf?« Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es mußte sich um das Schreiben handeln, in dem Murtagh den Namen und den Abreisetag des Schiffes nannte, das Charles Stuarts Portwein von Lissabon nach Paris transportierte. Jamie konnte nicht nach Spanien gereist sein, bevor er diese Information erhalten hatte.
Um mir Klarheit zu verschaffen, erbrach ich das Siegel und faltete das Briefchen auseinander. Es war an mich adressiert, da Jamie glaubte, es sei unwahrscheinlich, daß meine Post abgefangen wurde. Das Schreiben war vor fast einem Monat in Lissabon datiert worden.
»Die Scalamandre sticht am 18. Juli von Lissabon aus in See.« Das war alles. Verwundert stellte ich fest, wie zierlich und sauber Murtaghs Handschrift war; aus irgendeinem Grund hatte ich ein unleserliches Gekritzel erwartet.
Als ich aufblickte, sah ich, wie Magnus und Louise einen überaus merkwürdigen Blick tauschten.
»Was ist los?« fragte ich abrupt. »Wo ist Jamie?« Daß er mich im Höpital des Anges nicht besucht hatte, hatte ich auf Schuldgefühle zurückgeführt, denn schließlich hatte sein rücksichtsloses Verhalten unserem Kind, Frank und beinahe auch mir das Leben gekostet. Damals war es mir gleichgültig gewesen. Ich hatte ihn gar nicht sehen wollen. Doch nun kam mir eine unheilvollere Erklärung für sein Fernbleiben in den Sinn.
Schließlich straffte Louise ihre rundlichen Schultern und ergriff das Wort.
»Er ist in der Bastille«, sagte sie nach einem tiefen Atemzug. »Wegen des Duells.«
Meine Knie wurden weich, und ich ließ mich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen.
»Warum in aller Welt hast du mir das nicht gesagt?« Ich war mir über meine Gefühle nicht ganz im klaren. Stand ich unter Schock, empfand ich Entsetzen - Angst? Oder ein klein wenig Genugtuung?
»Ich - ich wollte dich nicht beunruhigen, chérie«, stotterte Louise, bestürzt über meine Verzweiflung. »Du warst so schwach... und du hättest ohnehin nichts unternehmen können. Und du hast nicht gefragt«, betonte sie.
»Aber was... wie... wie lautet das Urteil?« fragte ich. Ganz gleich, was ich zuerst empfunden hatte, es schien mir jetzt dringend geboten, etwas zu unternehmen. Murtaghs Brief war vor zwei Wochen in der Rue Tremoulins eingetroffen. Jamie hätte gleich nach Empfang abreisen sollen.
Louise rief Dienstboten herbei, bestellte Wein, Riechsalz und verbrannte Federn, alles auf einmal. Ich mußte einen besorgniserregenden Anblick geboten haben.
»Er hat den Befehl des Königs mißachtet«, sagte sie. »Er bleibt so lange im Gefängnis, wie es dem König beliebt.«
»Jesus H. Roosevelt Christ«, murmelte ich und wünschte, mir stünden stärkere Worte zu Gebote.
»Ein Glück, daß le petit James seinen Gegner nicht getötet hat«, fügte Louise hastig hinzu. »In diesem Fall würde die Strafe viel... ooh!« Sie brachte ihren gestreiften Rock gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, als ich die soeben servierten Erfrischungen vom Tisch fegte. Scheppernd ging das Tablett zu Boden. Ich hielt die Hände gegen die Rippen gepreßt, die rechte umklammerte schützend den Goldring an der linken.
»Dann ist er also nicht tot?« fragte ich wie im Traum. »Hauptmann Randall... er lebt?«
»Aber ja.« Sie beäugte mich neugierig. »Du hast es nicht gewußt? Er ist schwer verletzt, aber angeblich auf dem Wege der Besserung. Geht es dir gut, Claire? Du siehst...« Aber das Ende des Satzes ging in dem Dröhnen unter, das meine Ohren erfüllte.
 
»Du hast zu früh zu viel getan«, sagte Louise streng, während sie die Vorhänge aufzog. »Ich habe es dir gesagt, nicht wahr?«
»Ich glaube schon«, erwiderte ich, als ich mich aufsetzte und dabei sorgfältig auf etwaige Anzeichen von Schwäche achtete. Kein Schwindel, kein Ohrensausen, keine Tendenz umzufallen. Offenbar war ich wieder auf der Höhe.
»Ich brauche mein gelbes Kleid - und würdest du dann die Kutsche bestellen, Louise?« bat ich.
Entsetzt sah sie mich an. »Du willst doch nicht etwa ausgehen? Unsinn! Monsieur Clouseau kommt, um nach dir zu sehen! Ich habe einen Boten geschickt, ihn sofort zu holen!«
Die Nachricht, daß Monsieur Clouseau, ein bekannter Gesellschaftsarzt, aus Paris unterwegs war, um mich zu untersuchen, wäre schon allein Grund genug gewesen, wieder auf die Beine zu kommen.
Der 18. Juli war in zehn Tagen. Mit einem schnellen Pferd, gutem Wetter und dem Verzicht auf jede körperliche Bequemlichkeit war die Strecke von Paris nach Oviedo in sechs Tagen zu schaffen. Damit blieben mir vier Tage, um Jamies Freilassung aus der Bastille zu erwirken. Ich hatte keine Zeit, mich mit Monsieur Clouseau abzugeben.
»Hmm.« Nachdenklich sah ich mich im Zimmer um. »Ruf auf alle Fälle das Mädchen, um mir beim Ankleiden zu helfen. Ich möchte Monsieur Clouseau nicht im Hemd empfangen.«
Obwohl mich Louise immer noch mißtrauisch musterte, erschien ihr das wohl plausibel. Die meisten Damen bei Hofe hätten sich noch vom Totenbett erhoben, um sich einem solchen Anlaß gemäß zu kleiden.
»Einverstanden«, sagte sie und wandte sich zur Tür. »Aber du bleibst im Bett, bis Yvonne da ist, hörst du?«
Das gelbe Kleid war eins meiner besten, ein loser, schöner Schnitt im modischen Kontuschstil mir breitem Kragen, weiten Ärmeln und einem perlenbesetzten Verschluß vorne. Endlich gepudert, gekämmt, bestrumpft und parfümiert, musterte ich die Schuhe, die Yvonne für mich bereitgestellt hatte. Ich schüttelte bedächtig den Kopf und runzelte die Stirn.
»Hmm, nein«, sagte ich schließlich. »Lieber nicht. Ich trage die anderen, die mit den roten Saffianabsätzen.«
Das Mädchen blickte zweifelnd auf mein Kleid, als hielte sie im Geiste rotes Saffianleder gegen gelben Seidenmoire, begann aber gehorsam, in dem wuchtigen Schrank zu wühlen.
Lautlos schlich ich mich heran, schubste sie mit dem Kopf voran in den Schrank und schlug die Tür hinter der zappelnden, kreischenden Yvonne zu. Dann drehte ich den Schlüssel um, ließ ihn in meine Tasche fallen und gratulierte mir im Geiste zu meiner Tat. Gut gemacht, Beauchamp, dachte ich. Durch dieses politische Intrigenspiel lernst du Dinge, die du dir auf der Krankenpflegeschule nicht hättest träumen lassen, das steht fest.
»Keine Sorge«, rief ich dem bebenden Schrank zu. »Ich denke, daß bald jemand kommt und Sie herausläßt. Und Sie können der Prinzessin versichern, daß Sie mich nicht haben entwischen lassen.«
Aus dem verzweifelten Heulen im Schrank hörte ich Monsieur Clouseaus Namen heraus.
»Sagen Sie ihm, er soll sich den Affen ansehen!« rief ich über meine Schulter. »Er hat die Räude.«
 
Dank meiner siegreichen Auseinandersetzung mit Yvonne hob sich meine Stimmung merklich. Doch als ich in der Kutsche saß, die holpernd Richtung Paris fuhr, verlor ich allmählich wieder den Mut.
Ich war zwar nicht mehr ganz so wütend auf Jamie, wollte ihn aber nach wie vor nicht sehen. Meine Gefühle waren in Aufruhr, aber ich hatte nicht die Absicht, mich näher mit ihnen auseinanderzusetzen; es tat einfach viel zu weh. Ich empfand Kummer und hatte das schreckliche Gefühl, versagt zu haben, und vor allem hatten wir einander verraten: er mich und ich ihn. Er hätte nie in den Bois de Boulogne gehen dürfen, und ich hätte ihm nie dorthin folgen dürfen.
Aber wir hatten beide gehandelt, wie es unser Charakter und unsere Gefühle geboten, und gemeinsam hatten wir - vielleicht - den Tod unseres Kindes herbeigeführt. Ich verspürte nicht den Wunsch, meinen Komplizen zu sehen, und noch weniger wollte ich ihm meinen Kummer zeigen oder meine Schuld an seiner messen. Ich floh vor allem, was mich an den naßkalten Morgen im Wald erinnerte, ich floh vor jeder Erinnerung an Jamie, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, hochaufgerichtet über dem Körper seines Opfers, mit vor Rachedurst verzerrtem Gesicht - eine Rache, die sich kurz darauf gegen seine eigene Familie wenden sollte.
Ich konnte nicht einmal flüchtig daran denken, ohne daß sich mein Magen verkrampfte und damit der Schmerz der vorzeitigen Wehen wiederauflebte. Ich preßte die Fäuste gegen den blauen Samt des Sitzes und richtete mich auf, um das eingebildete Ziehen im Rücken zu mildern.
Ich sah aus dem Fenstere, um mich abzulenken, nahm aber die vorbeiziehende Landschaft nicht wahr, da meine Gedanken unwillkürlich wieder zum Zweck meiner Reise zurückkehrten. Unabhängig davon, was ich für Jamie empfand, was wir einander waren oder sein würden - die Tatsache blieb bestehen, daß er im Gefängnis saß. Und ich glaubte zu wissen, was die Haft für ihn bedeutete, angesichts der Erinnerungen an Wentworth, die er mit sich herumschleppte.
Wichtiger noch war die Angelegenheit, die Charles Stuart und das Schiff aus Portugal betraf, das Darlehen von Monsieur Duverney - und Murtagh, der im Begriff war, sich in Lissabon einzuschiffen, und einem Treffen in Oviedo entgegensah. Es stand zuviel auf dem Spiel, als daß ich meinen Gefühlen hätte nachgeben dürfen. Um der schottischen Clans willen, für die Highlands selbst, für Jamies Familie und seine Pächter in Lallybroch, für die Tausenden, die bei und nach der Schlacht von Culloden sterben würden - dafür mußte es gewagt werden. Und um es zu wagen, mußte Jamie frei sein. Diese Sache konnte ich nicht selbst in Angriff nehmen.
Nein, keine Frage. Ich mußte tun, was nötig war, um ihn aus der Bastille freizubekommen.
Aber was konnte ich tun?
Ich beobachtete die Bettler, die sich balgten und auf die Fenster der Kutsche zustrebten, als wir in die Rue du Faubourg-St.-Honoré einbogen. In Zweifelsfällen war es am besten, Rat bei einer höheren Instanz einzuholen.
 
Nachdenklich trommelte Mutter Hildegarde mit den Fingern auf ein Notenblatt, wie um den Takt einer schwierigen Sequenz zu klopfen. Sie saß an dem Mosaiktisch in ihrem privaten Schreibzimmer gegenüber von Herrn Gerstmann, der zu dieser Dringlichkeitssitzung gerufen worden war.
»Nun ja«, meinte Herr Gerstmann zweifelnd. »Ich glaube, daß ich eine Privataudienz bei Seiner Majestät erwirken könnte, aber... sind Sie sicher, daß Ihr Mann... äh...« Dem Hofkantor schien es außergewöhnlich schwerzufallen, die rechten Worte zu finden, so daß sich mir der Verdacht aufdrängte, eine Petition an den König, um Jamies Freilassung zu erwirken, könnte ein wenig mehr Schwierigkeiten mit sich bringen, als ich gedacht hatte. Mutter Hildegarde bestätigte diese Vermutung durch ihre Reaktion.
»Johannes!« rief sie so aufgeregt, daß sie die gewohnte förmliche Anrede beiseite ließ. »Das kann sie nicht! Schließlich gehört Madame Fraser nicht zu den Hofdamen - sie ist eine tugendhafte Frau!«
»Danke«, sagte ich höflich. »Wenn Sie jedoch erlauben... was hat meine Tugendhaftigkeit mit einer Audienz beim König zu tun?«
Die Nonne und der Kantor tauschten einen Blick, in dem sich das Entsetzen über meine Naivität ebenso spiegelte wie ihr Widerwillen, mich aufzuklären. Schließlich biß Mutter Hildegarde, die mutigere von beiden, in den sauren Apfel.
»Wenn Sie den König allein aufsuchen, um eine Gunst von ihm zu erbitten, wird er erwarten, daß Sie bei ihm liegen«, sagte sie schonungslos. Nach dem Wirbel, der dieser Eröffnung vorausging, wunderte mich das nicht, aber ich warf Herrn Gerstmann einen fragenden Blick zu, der den Sachverhalt mit einem zögernden Nikken bestätigte.
»Seine Majestät hat ein offenes Ohr für die Gesuche von Damen, die über persönliche Reize verfügen«, erklärte er taktvoll und vertiefte sich in die Betrachtung eines Ornaments auf dem Tisch.
»Aber solche Gesuche haben ihren Preis«, fügte Mutter Hildegarde weniger feinfühlig hinzu. »Die meisten Höflinge sind hocherfreut, wenn ihre Gemahlinnen die Gunst des Königs erlangen. Der Gewinn, den sie daraus ziehen, ist ihnen das Opfer der Tugend wert.« Dabei verzog sich ihr breiter Mund verächtlich, doch bald fand sie wieder zu ihrem gewohnten grimmig-humorvollen Lächeln.
»Doch Ihr Gatte«, sagte sie, »erweckt nicht den Anschein, als würde er sich ergeben in die Rolle eines Hahnreis fügen.« Fragend zog sie die dichten Brauen hoch, und ich schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich auch nicht.« Es war sogar eine der gröbsten Untertreibungen, die ich je gehört hatte. Zwar war »ergeben« nicht gerade das letzte Wort, das ich mit Jamie in Verbindung brachte, es stand aber auch nicht ganz oben auf der Liste. Ich versuchte mir vorzustellen, was Jamie denken, sagen oder tun würde, wenn er je erfuhr, daß ich mit einem anderen Mann geschlafen hatte, und sei es der König von Frankreich.
Ich dachte an das Vertrauen, das uns verbunden hatte, fast seit dem Tag unserer Heirat, und plötzlich fühlte ich mich schrecklich einsam. Ich schloß die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, aber ich mußte dem, was mir bevorstand, ins Auge sehen.
Ich holte tief Luft und fragte: »Gibt es noch eine andere Möglichkeit?«
Mutter Hildegarde legte die Stirn in Falten und sah Herrn Gerstmann an, als erwartete sie von ihm eine Antwort. Der kleine Kantor zuckte die Achseln und runzelte ebenfalls die Stirn.
»Wenn Sie einen einflußreichen Freund hätten, der bei Seiner Majestät ein Wort für Ihren Gatten einlegen könnte?« fragte er zögernd.
»Wohl kaum.« Diese Möglichkeit hatte ich auf dem Weg von Fontainebleau hierher schon selbst erwogen, hatte mir aber eingestehen müssen, daß es niemanden gab, an den ich mich mit einer solchen Bitte wenden konnte. Aufgrund der Illegalität des Duells und des nachfolgenden Skandals - denn natürlich hatte Marie d’Arbanville ihren Klatsch in ganz Paris verbreitet - konnte es sich kein Franzose aus unserem Bekanntenkreis leisten, sich für uns einzusetzen. Monsieur Duverney hatte mich zwar freundlich empfangen, konnte mir aber keinen Mut machen. Abwarten, lautete sein Rat. In einigen Monaten, wenn der Skandal in Vergessenheit geraten wäre, dann könnte man sich an Seine Majestät wenden. Aber im Augenblick...
Und auch der Herzog von Sandringham, der so überaus delikate diplomatische Verhandlungen führte, daß er seinen Privatsekretär entlassen hatte, weil es den Anschein hatte, daß er in einen Skandal verwickelt war - auch er war nicht in der Lage, von Louis eine solche Gunst zu erbitten.
Ich starrte auf die Mosaikplatte, nahm jedoch die bunten geometrischen Muster kaum wahr. Wenn es wirklich notwendig war, Jamie aus dem Gefängnis zu holen, um eine jakobitische Invasion Schottlands zu verhindern, dann würde wohl ich mich um seine Freilassung kümmern müssen, ganz gleich, mit welchen Mitteln und mit welchen Konsequenzen.
Schließlich blickte ich auf und sah dem Kantor in die Augen. »Ich muß es tun«, sagte ich leise. »Es gibt keinen anderen Ausweg.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sah Herr Gerstmann Mutter Hildegarde an.
»Sie wird hierbleiben«, erklärte die Oberin mit fester Stimme. »Bitte teilen Sie Tag und Stunde der Audienz mit, sobald Sie alles in die Wege geleitet haben, Johannes.«
Dann wandte sie sich an mich. »Wenn Sie sich tatsächlich für diesen Weg entschieden haben, meine liebe Freundin...« Sie preßte die Lippen fest aufeinander, sagte aber dann: »Es mag eine Sünde sein, Sie bei einer unmoralischen Tat zu unterstützen. Ich werde es trotzdem tun. Ich weiß, daß Sie Ihre Gründe haben, auch wenn ich sie nicht kenne. Und vielleicht wird ja die Sünde durch den Lohn Ihrer Freundschaft aufgewogen.«
»Oh, Mutter.« Hätte ich noch mehr gesagt, wären mir die Tränen gekommen, also begnügte ich mich damit, die große, abgearbeitete Hand zu drücken, die auf meiner Schulter ruhte. Plötzlich verspürte ich den Drang, mich in ihre Arme zu werfen und mein Gesicht in dem tröstlichen schwarzen Serge zu bergen, aber sie nahm die Hand von meiner Schulter und griff nach dem langen Rosenkranz, der bei jedem Schritt in den Falten ihres Rockes klickte.
»Ich werde für Sie beten.« Sie lächelte, dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Obwohl ich mich frage, welchen Heiligen man unter diesen Umständen anrufen sollte?«
 
Maria Magdalena, schoß es mir durch den Kopf, als ich die Hände wie zum Gebet hob, um mir das geflochtene Gestell für den Reifrock über die Schultern und auf die Hüften herunterziehen zu lassen. Oder Mata Hari, aber ich bezweifelte, daß man sie jemals heiligsprechen würde. Übrigens war ich mir auch bei Magdalena nicht sicher, aber wie mir schien, würde eine bekehrte Prostituierte unter all den himmlischen Heerscharen am ehesten Verständnis für das Abenteuer aufbringen, auf das ich mich jetzt einließ.
Das Couvent des Anges hatte gewiß noch nie ein so prachtvolles Kleid wie dieses gesehen. Zwar wurden die Novizinnen, wenn sie ihr letztes Gelübde ablegten, als Bräute Christi festlich gekleidet, doch rote Seide und Reispuder spielten bei dieser Zeremonie wohl keine große Rolle.
Sehr symbolträchtig, dachte ich, als die üppigen scharlachroten Falten über mein Gesicht glitten. Weiß für Unschuld und rot für... was immer das sein mochte. Schwester Minerve, eine junge Nonne aus einer reichen Adelsfamilie, war ausgewählt worden, mir bei der Toilette zu helfen. Mit großem Geschick frisierte sie mich und steckte mir mit Staubperlen besetzte Straußenfedern ins Haar. Meine Brauen bürstete sie sorgfältig mit kleinen Bleikämmen, und meine Lippen zog sie mit einer in den Rougetopf getunkten Feder nach. Es kitzelte unerträglich, was meine Neigung, hemmungslos zu kichern, verstärkte. Aber es war keine Lustigkeit, sondern Hysterie.
Schwester Minerve griff nach dem Handspiegel. Doch ich winkte ab - ich wollte mir nicht in die Augen sehen. Dann atmete ich tief ein und nickte.
»Ich bin fertig. Bitte, rufen Sie die Kutsche.«
 
Diesen Teil des Palasts hatte ich noch nie betreten. Nachdem ich schier endlose kerzenerleuchtete Korridore mit zahllosen Spiegeln durchschritten hatte, war ich nicht mehr ganz sicher, wie viele von meiner Sorte da herumliefen, geschweige denn, in welche Richtung.
Der diskrete königliche Kammerjunker führte mich zu einer kleinen holzgetäfelten Tür in einem Alkoven. Er klopfte einmal, verbeugte sich dann vor mir, drehte sich rasch um und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Tür ging nach innen auf, und ich trat ein.
Der König hatte seine Hose noch an. Diese Feststellung verminderte meinen Herzschlag auf ein erträgliches Tempo, und auch das Gefühl, jede Sekunde erbrechen zu müssen, wich von mir.
Ich wußte nicht genau, was ich erwartet hatte, aber der Anblick, der sich mir bot, wirkte halbwegs beruhigend. Der König war zwanglos gekleidet, in Hemd und Kniehose, um die Schultern einen Morgenmantel aus brauner Seide. Seine Majestät lächelte und bedeutete mir aufzustehen, indem er mit der Hand meinen Arm berührte. Seine Hand fühlte sich warm an - unbewußt hatte ich damit gerechnet, sie würde klamm sein. Ich erwiderte sein Lächeln, so gut ich konnte.
Der Versuch wirkte offenbar nicht gerade überzeugend, denn er tätschelte mir freundlich den Arm und sagte: »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, chère Madame, ich beiße nicht.«
»Nein«, sagte ich. »Selbstverständlich nicht.«
Er war wesentlich gelassener als ich. Kein Wunder, dachte ich bei mir, schließlich macht er das ständig. Ich atmete tief durch und versuchte mich zu entspannen.
»Trinken Sie ein Glas Wein mit mir, Madame?« fragte er. Wir waren allein; der Wein war bereits eingeschenkt. Die Kelche schimmerten im Kerzenlicht wie Rubine. Das Zimmer war reich verziert, aber klein, und außer dem Tisch und zwei Stühlen mit ovalen Lehnen enthielt es nur eine verschwenderisch gepolsterte, mit grünem Samt bezogene Chaiselongue. Ich versuchte, das Möbelstück nicht anzusehen, als ich mein Glas nahm und Dankesworte murmelte.
»Setzten Sie sich doch.« Louis ließ sich auf einem Stuhl nieder und bedeutete mir, auf dem anderen Platz zu nehmen. »Nun, bitte«, sagte er lächelnd, »sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
»M-mein Gemahl«, stotterte ich nervös. »Er ist in der Bastille.«
»Natürlich«, murmelte der König. »Wegen eines Duells. Ich entsinne mich.« Er nahm meine freie Hand in die seine und legte seine Finger sanft auf meinen Puls. »Was soll ich machen, chère Madame? Sie wissen, daß es sich um ein schweres Vergehen handelt. Ihr Mann hat meinen Erlaß mißachtet.« Er liebkoste die Unterseite meines Handgelenks, so daß ich ein leichtes Prickeln im Arm spürte.
»J-ja, das weiß ich. Aber er wurde... provoziert.« Ich hatte einen Einfall. »Wie Ihr wißt, ist er Schotte. Die Männer aus diesem Land sind...«, ich suchte nach einem guten Synonym für Berserker, »voller Ingrimm, wenn es um ihre Ehre geht.«
Louis nickte, den Kopf scheinbar völlig versunken über meine Hand geneigt. Seine Haut schimmerte ein wenig fettig, und er roch nach Parfum. Veilchen. Ein intensiver, süßer Duft, der jedoch den scharfen Geruch seiner Männlichkeit nicht überdecken konnte.
Er leerte sein Glas in zwei Zügen und stellte den Kelch ab, um meine Hand mit beiden Händen ergreifen zu können. Ein Finger zeichnete die Ornamente meines Eherings mit den Distelblüten nach.
»Ganz recht«, sagte er und zog meine Hand näher zu sich, als wollte er den Ring genauer betrachten. »Ganz recht, Madame. Indes...«
»Ich wäre... überaus dankbar, Eure Majestät«, unterbrach ich ihn. Er hob den Kopf, und ich sah in seine dunklen, forschenden Augen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. »Überaus... dankbar.«
Er hatte schmale Lippen und schlechte Zähne. Ich roch seinen nach Zahnfäule und Zwiebeln stinkenden Atem und versuchte die Luft anzuhalten, aber das war nur eine vorübergehende Notlösung.
»Nun...«, sagte er langsam, als überdächte er die Sache. »Ich persönlich würde dazu neigen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, Madame...«
Ich atmete aus, und seine Finger drückten warnend meine Hand. »Aber wissen Sie, es gibt Komplikationen.«
»Tatsächlich?« fragte ich matt.
Er nickte, den Blick auf mich geheftet. Er streichelte die Venen auf meinem Handrücken.
»Der Engländer, der das Pech hatte, den Herrn von Broch Tuarach zu beleidigen - er stand im Dienste... eines englischen Adligen von einiger Bedeutung.«
Sandringham. Mein Herz zog sich zusammen.
»Dieser Adlige führt - nun sagen wir, gewisse Verhandlungen, durch die er Anspruch auf etwas Rücksichtnahme hat.« Das Lächeln auf seinen schmalen Lippen betonte den gebieterischen Schwung der Nase. »Und dieser Edelmann interessiert sich für das Duell zwischen Ihrem Gatten und dem englischen Hauptmann. Ich fürchte, er hat überaus nachdrücklich gefordert, daß Ihrem Gemahl die Höchststrafe für dieses Vergehen auferlegt wird, Madame.«
Verdammter Mist, dachte ich, Natürlich - Jamie hatte es abgelehnt, sich durch eine Begnadigung bestechen zu lassen; gab es da einen besseren Weg, ihn an seinem »Kampf« für die Stuarts zu hindern, als ihn für einige Jahre in der Bastille verschwinden zu lassen? Sicher, unauffällig und kostengünstig, eine Methode, die dem Herzog gefallen mußte.
Andererseits beugte sich Louis nach wie vor schweratmend über meine Hand, woraus ich schloß, daß noch nicht alles verloren war. Wenn er meinem Ersuchen nicht nachkam, konnte er wohl kaum erwarten, daß ich mit ihm ins Bett ging - und wenn er das doch tat, stand ihm eine böse Überraschung ins Haus.
Ich wappnete mich für einen zweiten Anlauf.
»Empfangen Eure Majestät Befehle von den Engländern?« fragte ich verwegen.
Entsetzt riß Ludwig die Augen auf. Als er verstand, was ich damit bezweckte, lächelte er gequält. Offenbar hatte ich einen wunden Punkt berührt. Mit einem leichten Schulterzucken rückte er das Bewußtsein der Macht zurecht wie einen unsichtbaren Mantel.
»Nein, Madame, das ist nicht der Fall«, entgegnete er trocken. »Allerdings ziehe ich... verschiedene Faktoren in Betracht.« Die schweren Lider senkten sich für einen Moment, aber er hielt meine Hand weiter fest.
»Ich habe gehört, daß sich Ihr Gemahl für die Angelegenheiten meines Cousins interessiert«, sagte er.
»Eure Majestät sind wohlinformiert«, erwiderte ich höflich. »Und daher werdet Ihr auch wissen, daß mein Gemahl die Wiedereinsetzung der Stuarts auf den Thron von Schottland nicht unterstützt.« Ich hoffte inständig, daß er eben dies hören wollte.
Offenbar hatte ich richtig getippt. Er lächelte, hob meine Hand an die Lippen und küßte sie.
»Aha? Ich hatte... widersprüchliche Berichte über Ihren Gatten gehört.«
Ich atmete tief durch und widerstand dem Impuls, ihm meine Hand zu entziehen.
»Nun ja, es ist eine geschäftliche Angelegenheit.« Ich versuchte, so sachlich wie möglich zu sprechen. »Der Cousin meines Gatten, Jared Fraser, ist überzeugter Jakobit. Jamie - mein Gemahl - kann seine wahren Ansichten natürlich nicht öffentlich aussprechen, solange er Jareds Partner ist.« Da ich sah, wie sich seine Zweifel zerstreuten, beeilte ich mich weiterzusprechen. »Fragt Monsieur Duverney«, schlug ich vor. »Er weiß, auf welcher Seite mein Gatte wirklich steht.«
»Das habe ich bereits getan.« Louis schwieg eine lange Weile, während er seine plumpen Finger betrachtete, die feine Kreise über meinen Handrücken zogen.
»So blaß«, murmelte er. »So zart. Ich meine, das Blut unter Ihrer Haut fließen zu sehen.«
Dann ließ er meine Hand los und sah mich an. Ich verstand mich darauf, im Gesicht eines Menschen zu lesen, aber Louis wirkte völlig undurchschaubar. Plötzlich wurde mir klar, daß er seit seinem fünften Lebensjahr König war. Die Fähigkeit, seine Gedanken zu verbergen, gehörte ebenso zu ihm wie seine Bourbonennase und seine schläfrigen, braunen Augen.
Dieser Gedanke zog andere nach sich, die mich frösteln ließen. Louis war König. Die Bürger von Paris würden sich erst in gut vierzig Jahren gegen Louis’ Nachfolger erheben. Bis zu diesem Tage übte der Monarch die absolute Herrschaft über Frankreich aus. Ein Wort von Louis konnte Jamie auf freien Fuß setzen - oder töten. Mit mir konnte er machen, was er wollte, ich hatte keinerlei Handhabe. Er brauchte nur zu nicken, und die Schatzkammern Frankreichs würden das Gold ausspucken, mit dessen Hilfe Charles Stuart wie ein tödlicher Blitz ins Herz von Schottland vorstoßen konnte.
Er war König. Er würde tun, was ihm beliebte. Und ich beobachtete seine braunen, nachdenklichen Augen und wartete zitternd, welche Entscheidung der König zu treffen geruhte.
»Sagen Sie mir, ma chère Madame«, sagte er schließlich, »wenn ich Ihre Bitte erfülle und ihren Gatten freilasse...« Er hielt inne und dachte nach.
»Ja?«
»Er würde Frankreich verlassen müssen«, sagte Louis und zog wie zur Warnung seine buschigen Brauen hoch. »Das wäre eine Bedingung für seine Freilassung.«
»Ich verstehe.« Ich hatte das Gefühl, daß mein wild hämmerndes Herz seine Worte übertönte. Daß Jamie Frankreich verlassen sollte, war schließlich der Punkt, um den es ging. »Aber er wurde aus Schottland verbannt...«
»Ich denke, das läßt sich regeln.«
Ich zögerte, aber mir blieb keine andere Wahl, als um Jamies willen zuzustimmen. »Einverstanden.«
»Gut.« Der König nickte erfreut. Dann sah er mich wieder an, seine Augen ruhten auf meinem Gesicht, glitten über meinen Hals, meine Brüste, meinen Körper. »Als Gegenleistung möchte ich einen kleinen Dienst von Ihnen erbitten, Madame«, sagte er leise.
Ich sah ihm einen Augenblick lang direkt in die Augen. Dann senkte ich den Kopf. »Ich stehe Eurer Majestät zur Verfügung.«
»Ah.« Er erhob sich und warf den Morgenmantel ab, der achtlos auf der Lehne des Sessels liegenblieb. Er lächelte und streckte mir die Hand entgegen. »Très bien, ma chère. Dann kommen Sie mit mir.«
Ich schloß kurz die Augen und hoffte, meine Knie würden mir nicht den Dienst versagen. Du meine Güte, dachte ich, du hast zwei Ehemänner gehabt. Mach bloß nicht so ein Theater darum.
Schließlich stand ich auf und nahm seine Hand. Zu meiner Überraschung führte er mich nicht zu der Chaiselongue, sondern zur Tür am anderen Ende des Raumes.
In dem Augenblick, als er meine Hand losließ, um die Tür zu öffnen, sah ich mit eiskalter Klarheit, was ich im Begriff war zu tun.
Verdammt sollst du sein, Jamie Fraser, dachte ich. Fahr zur Hölle!
 
Reglos stand ich auf der Schwelle und blinzelte. Meine Überlegungen zur königlichen Entkleidungszeremonie wichen blankem Erstaunen.
Es war ziemlich dunkel; der Raum wurde nur von Öllämpchen erleuchtet, die in Grüppchen zu je fünf in Wandnischen standen. Der Raum war rund, ebenso wie der riesige Tisch in der Mitte. Dort saßen Menschen, die im Dunkel des Zimmers nur schemenhaft zu erkennen waren.
Bei meinem Eintreten erhob sich ein Raunen, das jedoch sofort erstarb, als der König erschien. Als sich meine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß die Leute am Tisch Kapuzen trugen. Der mir am nächsten Sitzende wandte sich zu mir um, und ich sah durch die Schlitze im Samt seine Augen glitzern. Es sah aus wie eine Versammlung von Henkern.
Offensichtlich war ich der Ehrengast. Nervös fragte ich mich, was man wohl von mir erwartete. Nach dem, was Raymond und Marguerite angedeutet hatten, hatte ich grausige Visionen von okkulten Riten, die die Opferung von Säuglingen, zeremonielle Vergewaltigung und allgemeine Satansmessen umfaßten. Allerdings werden übernatürliche Phänomene nur selten den Ankündigungen gerecht, und ich hoffte, daß dies auch jetzt zutraf.
»Wir haben von Ihren außerordentlichen Fähigkeiten gehört, Madame, und von Ihrem... Ruf.« Louis lächelte, schien aber auf der Hut zu sein, als wäre er nicht ganz sicher, wie ich reagieren würde. »Wir wären Ihnen zu allergrößtem Dank verpflichtet, meine Liebe, wenn Sie uns heute abend in den Genuß Ihrer Fähigkeiten kommen ließen.«
Ich nickte. Zu allergrößtem Dank verpflichtet, ja? Das klang vielversprechend, schließlich wollte ich, daß er mir verpflichtet war. Doch was erwartete er von mir? Ein Lakai stellte eine große Wachskerze auf den Tisch und zündete sie an, so daß sie ihr mildes Licht über das glänzende Holz verströmte. Die Kerze war mit Symbolen dekoriert, wie ich sie am Schrank in Maître Raymonds Geheimkabinett gesehen hatte.
»Regardez, Madame.« Die Hand des Königs lag unter meinem Ellbogen, und er lenkte meine Aufmerksamkeit auf zwei Gestalten, die hinter dem Tisch still inmitten der zuckenden Schatten standen. Bei ihrem Anblick fuhr ich zusammen, und der Griff des Königs wurde fester.
Da standen der Comte de St. Germain und Maître Raymond nebeneinander, zwischen ihnen etwa zwei Meter Abstand. Raymond ließ sich nicht anmerken, ob er mich gesehen hatte, sondern stand ruhig da und starrte vor sich hin.
Als mich der Comte erblickte, weiteten sich seine Augen ungläubig, dann starrte er mich finster an. Er war sehr elegant gekleidet, wie immer ganz in Weiß: ein gestreifter Satinrock über einer Weste und einer Kniehose aus cremefarbener Seide. Die kunstvoll verflochtenen Staubperlen an seinen Rock- und Ärmelaufschlägen schimmerten im Kerzenlicht. Trotz dieser Pracht sah der Comte ziemlich mitgenommen aus - sein Gesicht war vor Anspannung verzerrt, das Spitzenjabot war erschlafft, und sein Hemdkragen zeigte einen dunklen Schweißrand.
Raymond hingegen wirkte so ruhig wie ein Steinbutt auf Eis. Unerschütterlich stand er da, die Hände in den Ärmeln seiner wie immer recht schmuddligen Samtrobe vergraben, das breite, flache Gesicht gelassen und undurchdringlich.
»Diese beiden Männer«, erklärte Louis und wies auf Raymond und den Comte, »sind der Zauberei, der Hexerei und der Verkehrung des rechtmäßigen Strebens nach Wissen in die Erforschung der Schwarzen Kunst angeklagt.« Seine Stimme war kalt und voller Ingrimm. »Derartige Praktiken sind unter der Herrschaft meines Urgroßvaters aufgeblüht, doch in unserem Reich werden wir solche Gottlosigkeit nicht dulden.«
Der König schnippte einem Kapuzenträger zu, der mit Feder und Tinte vor einem Aktenbündel saß. »Lesen Sie bitte die Anklageschrift vor«, sagte er.
Gehorsam stand der Angesprochene auf und begann aus den Papieren vorzulesen; man warf den beiden Greueltaten und abscheuliche Opferungen vor, die Ermordung unschuldiger Menschen, die Profanierung des allerheiligsten Sakraments durch Entweihung der Hostie, den Vollzug von Liebesriten auf dem Altar Gottes - blitzartig erkannte ich, wie die Heilung, die Raymond im Höpital des Anges an mir vollzogen hatte, ausgesehen haben mußte, und ich empfand tiefe Dankbarkeit, daß er nicht entdeckt worden war.
Ich hörte, wie der Name »du Carrefours« fiel, und schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der mir hochkam. Was hatte Pastor Laurent gesagt? Der Hexer du Carrefours war in Paris verbrannt worden, und zwar aufgrund einer Anklage, wie ich sie jetzt hörte: »... die Beschwörung von Dämonen und Mächten der Finsternis, die Herbeiführung von Krankheit und Tod gegen Bezahlung...« - ich legte die Hand auf den Magen, eingedenk der bitteren Faulbaumrinde - »Verwünschungen gegen Mitglieder des Hofes, Schändung von Jungfrauen...« Ich warf dem Comte einen flüchtigen Blick zu, doch sein Gesicht war wie versteinert; mit zusammengekniffenen Lippen lauschte er den Beschuldigungen.
Raymond stand reglos da, das silberne Haar fiel ihm auf die Schultern, und er sah aus, als wäre das Gesagte für ihn so folgenlos wie das Lied einer Drossel. Ich hatte die kabbalistischen Symbole in seinem Kabinett gesehen, konnte mir aber nicht vorstellen, daß der Mann, den ich kannte - der mitleidsvolle Giftmischer, der praktische Apotheker -, all die aufgelisteten Schandtaten begangen hatte. Endlich war die Verlesung der Anklageschrift abgeschlossen. Der Kapuzenträger sah den König an und ließ sich auf dessen Zeichen wieder auf seinem Stuhl nieder.
»Umfangreiche Nachforschungen wurden angestellt«, erklärte der König, an mich gewandt. »Beweise wurden vorgelegt und zahlreiche Zeugen gehört. Es scheint klar«, er warf einen kalten Blick auf die angeklagten Magier, »daß beide Männer die Schriften der alten Philosophen studiert und die Kunst der Weissagung mit Hilfe der Bewegungen der Himmelskörper praktiziert haben. Nun...« Er zuckte die Achseln. »Das ist an sich kein Verbrechen. Mir wurde zu verstehen gegeben«, er blickte auf einen schwerfälligen Mann mit Kapuze, vermutlich den Bischof von Paris, »daß dies mit den Lehren der Kirche nicht unvereinbar ist. Selbst der heilige Augustinus hat die Geheimnisse der Astrologie erkundet.«
Ich erinnerte mich dunkel, daß sich Augustinus tatsächlich mit Astrologie befaßt, sie jedoch ziemlich verächtlich als vollkommenen Unsinn abgetan hatte. Doch ich bezweifelte, daß Louis die Bekenntnisse des heiligen Augustinus gelesen hatte, und sich auf ihn zu berufen war einem der Hexerei beschuldigten Angeklagten zweifellos dienlich. Sternguckerei schien im Vergleich zu Säuglingsopfern und anderen namenlosen Orgien relativ harmlos.
Mit wachsender Besorgnis fragte ich mich, was ich bei dieser Versammlung verloren hatte. War der Besuch von Maitre Raymond an meinem Krankenbett vielleicht doch nicht unbeobachtet geblieben?
»An der rechten Anwendung von Wissen und dem Streben nach Weisheit haben wir nichts auszusetzen«, sagte der König wohlüberlegt. »Aus den Schriften der alten Philosophen kann man vieles lernen, wenn man Vorsicht und Demut walten läßt. Aber wahr ist auch, daß in solchen Schriften nicht nur viel Gutes, sondern auch Böses zu finden ist und die Suche nach Weisheit in das Streben nach Macht und Reichtum - nach weltlichen Dingen - verkehrt werden kann.«
Er ließ seinen Blick nochmals von einem Angeklagten zum anderen wandern, als wollte er nun entscheiden, wer von beiden dieser Art von Verirrung mehr zugetan sein könnte. Der Comte schwitzte immer noch: auf seinem weißen Seidenrock zeichneten sich dunkle Flecken ab.
»Nein, Eure Majestät!« rief er, schüttelte sein dunkles Haar und richtete seinen brennenden Blick auf Maître Raymond. »Es stimmt, daß in diesem Land dunkle Mächte am Werk sind - die Verworfenheit, von der Ihr sprecht, weilt mitten unter uns! Aber solche Verruchtheit wohnt nicht in der Brust Eures treuesten Untertans«, er schlug sich auf die Brust, damit uns nicht entging, wen er meinte, »nein, Eure Majestät! Diese Verirrungen des Geistes und die Ausübung verbotener Künste müßt Ihr jenseits Eures Hofstaats suchen.« Er beschuldigte Maitre Raymond nicht offen, aber sein Blick in dessen Richtung war eindeutig.
Der König nahm diesen Ausbruch ungerührt zur Kenntnis. »Solche Greuel griffen während der Herrschaft meines Urgroßvaters um sich«, sagte er leise. »Wir haben sie ausgemerzt, wo immer sie sich zeigten. Hexenmeister und Hexen, welche die Lehren der Kirche verdrehen... Monsieurs, wir werden nicht dulden, daß solche Verworfenheit wiederauflebt.«
»Also.« Er schlug mit beiden Händen leicht auf den Tisch und richtete sich auf. Den Blick fest auf Raymond und den Comte gerichtet, deutete er mit einer Hand auf mich.
»Wir haben eine Zeugin hierhergebracht«, erklärte er. »Eine unfehlbare Richterin über die Wahrheit, über die Reinheit des Herzens.«
Ich gab ein leises Glucksen von mir, was den König veranlaßte, sich zu mir umzudrehen.
»Eine weiße Dame«, sagte er leise. »La Dame Blanche kann nicht lügen. Sie blickt in das Herz und in die Seele eines Menschen und kann diese Wahrheit zum Guten wenden... oder zur Vernichtung.«
Das Gefühl von Unwirklichkeit, das mich den ganzen Abend lang begleitet hatte, löste sich schlagartig auf. Die durch den Wein verursachte leichte Benommenheit wich von mir, und mit einemmal war ich stocknüchtern. Ich öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder, weil mir aufging, daß ich absolut gar nichts zu sagen wußte.
Es lief mir kalt den Rücken hinunter, und mein Magen zog sich zusammen, als der König seine Anordnungen traf. Auf den Boden sollten zwei Pentagramme gemalt werden, in die sich die beiden Magier stellen mußten. Jeder sollte dann über seine eigenen Taten und Beweggründe Zeugnis ablegen. Und die weiße Dame würde den Wahrheitsgehalt der Aussagen beurteilen.
»Jesus. H. Roosevelt Christ«, flüsterte ich.
»Monsieur le Comte?« Der König deutete auf das erste Pentagramm, das mit Kreide auf dem Teppich gezogen worden war. Nur ein König brachte es fertig, einen echten Aubusson so unbekümmert zu verunstalten.
Im Vorbeigehen wisperte mir der Comte zu: »Ich warne Sie, Madame. Ich arbeite nicht allein.« Dann nahm er mir gegenüber seinen Platz ein und verbeugte sich ironisch.
Was das zu bedeuten hatte, war hinlänglich klar: Wenn ich ihn verurteilte, würden seine Helfershelfer sofort zur Stelle sein, um mir die Brustwarzen abzuschneiden. Ich leckte mir die trockenen Lippen und verfluchte Louis. Warum hatte er nicht einfach meinen Körper gewollt?
Raymond trat gelassen auf den ihm zugewiesenen Platz und nickte freundlich in meine Richtung. Seine runden schwarzen Augen gaben mir keinen Hinweis darauf, wie ich mich verhalten sollte.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Der König bedeutete mir, mich ihm gegenüber zwischen die beiden Pentagramme zu stellen. Die Kapuzenträger nahmen hinter dem König Aufstellung, eine gesichtslose, bedrohliche Gruppe.
Es herrschte vollkommenes Schweigen. Der Rauch der Kerzen hing in einer Wolke unter der vergoldeten Decke und bewegte sich in der trägen Luftströmung. Alle Blicke richteten sich auf mich. Schließlich wandte ich mich in meiner Verzweiflung an den Comte und nickte.
»Sie können beginnen, Monsieur le Comte«, sagte ich.
Er lächelte - zumindest vermutete ich, daß es ein Lächeln sein sollte - und begann. Zunächst erklärte er die Grundlagen der Kabbala, ging dann zur Exegese der dreiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets über und erläuterte deren Symbolgehalt. Der Vortrag klang überaus gelehrt, vollkommen harmlos und schrecklich langweilig. Der König gähnte und machte sich dabei nicht die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten.
Unterdessen überdachte ich meine Alternativen. Dieser Mann hatte mich bedroht und attackiert, er hatte versucht, Jamie ermorden zu lassen - ob aus persönlichen oder politischen Gründen, spielte keine Rolle. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er der Anführer jener Bande von Vergewaltigern, die mir und Mary aufgelauert hatten. Darüber hinaus und abgesehen von den Gerüchten, die ich über seine anderen Aktivitäten gehört hatte, bedrohte er den Erfolg unseres Versuchs, Charles Stuart aufzuhalten. Sollte ich ihn ungeschoren davonkommen lassen? Damit er den König weiterhin zugunsten der Stuarts beeinflussen konnte? Damit er die nächtlichen Straßen von Paris mit seiner Bande maskierter Schläger weiterhin unsicher machte?
Ein Schauder lief mir über den Rücken, aber ich nahm mich zusammen und sah St. Germain fest in die Augen.
»Einen Augenblick«, sagte ich. »Alles, was Sie bisher gesagt haben, ist wahr, Monsieur le Comte, aber ich sehe einen Schatten hinter Ihren Worten.«
Der Comte stand mit offenem Mund da. Louis, der sich gegen den Tisch gelehnt hatte, richtete sich interessiert auf. Ich schloß die Augen und legte die Finger auf meine Lider, als blickte ich nach innen.
»Ich sehe einen Namen in Ihren Gedanken, Monsieur le Comte«, sagte ich atemlos und halb erstickt vor Angst, aber das konnte ich nicht ändern. Ich ließ die Hände sinken und sah ihm in die Augen. »Les Disciples du Mal. Was haben Sie mit Les Disciples zu tun, Monsieur le Comte?«
Es fiel ihm wirklich schwer, seine Gefühle zu verbergen. Seine Augen traten hervor, er wurde blaß, und trotz meiner Furcht empfand ich leise Genugtuung.
Der Name Les Disciples du Mal war auch dem König geläufig; die schläfrigen, dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Der Comte mochte ein Gauner und ein Scharlatan sein, aber ein Feigling war er nicht. Er nahm seine letzten Kräfte zusammen, blickte mich wütend an und warf den Kopf zurück.
»Diese Frau lügt«, sagte er mit derselben Bestimmtheit, mit der er uns mitgeteilt hatte, daß der Buchstabe Aleph die Quelle des Blutes Christi symbolisiere. »In Wahrheit ist sie keine weiße Dame, sondern die Dienerin Satans! Zusammen mit ihrem Meister, dem berüchtigten Hexer, dem Lehrling du Carrefours!« Er deutete theatralisch auf Raymond, der gelinde überrascht aussah.
Einer der Kapuzenträger bekreuzigte sich, und ich hörte, wie ein kurzes Gebet gemurmelt wurde.
»Ich kann beweisen, was ich sage«, erklärte der Comte, bevor ein anderer das Wort ergreifen konnte. Er griff in die Brusttasche seines Rockes. Ich erinnerte mich an den Dolch, den er bei jener Abendgesellschaft aus dem Ärmel gezogen hatte, und war bereit, mich rechtzeitig zu ducken. Was er hervorzog, war jedoch kein Messer.
»In der Heiligen Schrift heißt es: ›Und durch die, die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen‹«, donnerte er. »›Wenn sie Schlangen anfassen, wird es ihnen nicht schaden. ‹«
Es handelte sich um eine Schlange. Sie war fast einen Meter lang, glatt und geschmeidig wie ein geöltes Seil, schimmerte goldbraun und besaß beunruhigende goldene Augen.
Bei ihrem Erscheinen war aus den Reihen der Zuschauer ein Keuchen zu hören, und zwei der maskierten Richter traten rasch einen Schritt zurück. Louis selbst war sichtlich bestürzt und sah sich hastig nach seinem Leibwächter um, der an der Tür stand.
Die Schlange züngelte ein-, zweimal, als kostete sie die Luft. Scheinbar kam sie zu dem Schluß, daß die Mischung aus Kerzenwachs und Weihrauch ungenießbar war, drehte sich um und versuchte, wieder in die warme Tasche zu schlüpfen, aus der sie so grob herausgezerrt worden war. Der Comte packte sie geschickt hinten am Kopf und streckte sie mir entgegen.
»Seht!« sagte er triumphierend. »Die Frau schreckt davor zurück! Sie ist eine Hexe!«
Im Vergleich zu einem der Richter, der sich gegen die Wand drückte, war ich die Standhaftigkeit in Person, aber ich muß zugeben daß ich unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten war, als die Schlange vor mir auftauchte. Jetzt ging ich wieder auf dem Comte zu, denn ich beabsichtigte, ihm die Schlange abzunehmen. Das verdammte Vieh war höchstwahrscheinlich nicht giftig, sonst würde sie der Comte kaum in seiner Brusttasche spazierentragen. Vielleicht offenbarte sich, wie harmlos sie wirklich war, wenn ich sie ihm um den Hals wickelte.
Bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, ergriff hinter mir Maitre Raymond das Wort. In all dem Durcheinander hätte ich ihn fast vergessen.
»Das ist nicht alles, was in der Bibel steht, Monsieur le Comte«, bemerkte Raymond. Er sprach nicht laut, und sein breites Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Dennoch erstarb das Stimmengewirr, und der König wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu.
»Ja, Monsieur?« sagte er.
Mit einem höflichen Nicken dankte Raymond für die Erteilung des Wortes und griff mit beiden Händen in seine Robe. Aus einer Tasche holte er eine Flasche, aus der anderen einen kleinen Becher.
»›Wenn sie Schlangen anfassen‹«, zitierte er, »›oder tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden.‹« Auf seiner Handfläche hielt er uns einen Becher entgegen, der im Kerzenlicht silbern schimmerte. Die Flasche hielt er zum Einschenken bereit.
»Da sowohl die Herrin von Broch Tuarach als auch ich selbst beschuldigt wurden«, sagte Raymond mit einem raschen Blick in meine Richtung, »schlage ich vor, daß wir uns alle drei dieser Probe unterziehen. Mit Eurer Erlaubnis, Majestät?«
Louis wirkte ziemlich verblüfft ob des raschen Gangs der Ereignisse, nickte aber und eine bernsteinfarbene Flüssigkeit ergoß sich in den Becher. Sofort verfärbte sich der Inhalt rot und begann zu blubbern.
»Drachenblut«, erläuterte Raymond, auf den Becher deutend. »Vollkommen harmlos für jene, die reinen Herzens sind.« Er lächelte ein zahnloses, aufmunterndes Lächeln und reichte mir den Becher.
Es blieb mir praktisch nichts anderes übrig, als zu trinken. Ich hatte den Eindruck, daß es sich bei dem Drachenblut um doppeltkohlensaures Natron handelte; es schmeckte wie Weinbrand mit Alka-Seltzer. Ich nahm ein paar Schluck und gab den Becher zurück.
Mit angemessener Feierlichkeit trank auch Raymond davon. Als er den Becher absetzte, zeigten sich seine rotgefärbten Lippen. Dann wandte er sich an den König.
»Dürfte ich La Dame Blanche bitten, Monsieur le Comte den Becher zu reichen?« sagte er und deutete auf die Kreidelinien zu seinen Füßen, um darauf hinzuweisen, daß er den Schutz des Pentagramms nicht verlassen durfte.
Auf das Nicken des Königs hin nahm ich den Becher und drehte mich um. Von St. Germain trennten mich etwa zwei Meter. Ich tat einen Schritt und dann noch einen. Meine Knie zitterten heftiger als in dem kleinen Vorzimmer, wo ich mit dem König allein gewesen war.
Die Weiße Dame erkennt den wahren Charakter eines Menschen? Konnte ich das? Wußte ich wirklich über die beiden Bescheid, über Raymond und den Comte?
Hätte ich dem ganzen Einhalt gebieten können? Das habe ich mich hundertmal, tausendmal gefragt - später. Hätte ich anders handeln können?
Ich erinnerte mich meiner sündigen Gedanken bei meiner ersten Begegnung mit Charles Stuart: Es würde auf lange Sicht allen eine Menge Ärger ersparen, wenn er rasch und sanft entschlummern würde. Aber man darf einen Menschen nicht wegen seiner Überzeugungen töten, selbst wenn der Kampf für diese Überzeugungen Unschuldige das Leben kostet - oder doch?
Ich wußte es nicht. Ich wußte nicht, ob der Comte schuldig und ob Raymond unschuldig war. Ich wußte nicht, ob ein rühmliches Ziel den Einsatz unrühmlicher Mittel rechtfertigt. Ich wußte nicht, was ein Menschenleben wert ist-oder tausend. Und ich wußte nicht, wie hoch der Preis der Rache ist.
Aber ich wußte, daß der Becher in meinen Händen den Tod barg. Der weiße Kristall, den ich am Hals trug, erinnerte mich an Gift. Ich hatte nicht gesehen, daß Raymond noch etwas hinzugefügt hatte, niemand hatte es gesehen, da war ich mir sicher. Aber ich brauchte den Kristall nicht in die blutrote Flüssigkeit zu tauchen, um zu wissen, was sie jetzt enthielt.
Der Comte las mir die Wahrheit vom Gesicht ab. La Dame Blanche kann nicht lügen. Zögernd betrachtete er die blubbernde Flüssigkeit.
»Trinken Sie, Monsieur«, sagte der König. Sein Blick war wieder verschleiert und gab nichts preis. »Oder haben Sie Angst?«
Der Comte besaß eine Reihe schändlicher Eigenschaften, aber Feigheit zählte nicht dazu. Sein Gesicht war blaß und starr, aber er blickte den König offen an und lächelte ein wenig.
»Nein, Majestät«, sagte er.
Er nahm den Becher aus meiner Hand und leerte ihn, wobei er mich unverwandt ansah. Auch als seine Augen im Wissen um den nahenden Tod glasig wurden, sah er mir noch ins Gesicht. Die Weiße Dame kann das Innerste eines Menschen zum Guten wenden oder zur Vernichtung.
Der Comte fiel zu Boden und krümmte sich, während die Rufe und Schreie der maskierten Zuschauer die Laute übertönten, die er von sich geben mochte. Seine Fersen hämmerten kurz und geräuschlos auf den gemusterten Teppich, er bäumte sich auf, dann erschlaffte sein Körper. Die Schlange aber befreite sich aus den weißen Satinfalten seines Gewandes und schlüpfte hurtig davon, um zu Louis’ Füßen Zuflucht zu suchen.
Ein Tumult brach aus.
Die Geliehene Zeit
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