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Eine Audienz bei Seiner
Majestät
Während jener Tage in Fontainebleau kam ich zwar
körperlich allmählich wieder zu Kräften, aber geistig dämmerte ich
nur so dahin, mied jede Erinnerung und wollte nichts tun.
Besuch kam nur selten. Das Landhaus war ein
Zufluchtsort, wo mir das hektische Treiben der Pariser Gesellschaft
wie einer der unangenehmen Träume erschien, die mich quälten.
Folglich war ich überrascht, als mich ein Mädchen in den Salon bat,
um einen Besucher zu empfangen. Mir schoß der Gedanke durch den
Kopf, es könnte Jamie sein, und mir wurde schwindelig. Dann aber
schaltete sich mein Verstand ein; Jamie mußte inzwischen nach
Spanien abgereist sein, vor Ende August war nicht mit seiner
Rückkehr zu rechnen. Und was dann?
Ich konnte mich jetzt nicht damit befassen, also
schob ich den Gedanken beiseite.
Zu meiner Verwunderung handelte es sich bei dem
»Besucher« um Magnus, den Butler aus Jareds Haus in Paris.
»Verzeihen Sie, Madame«, sagte er mit einer tiefen
Verbeugung. »Ich wollte mir nicht anmaßen... aber ich wußte nicht,
ob die Angelegenheit nicht vielleicht von Wichtigkeit ist... und da
der Herr fort ist...« Außerhalb seiner gewohnten Umgebung hatte er
die ganze Selbstsicherheit eingebüßt, mit der er in seinem kleinen
Reich herrschte. Daher dauerte es einige Zeit, ihm eine
zusammenhängende Geschichte zu entlocken, aber zu guter Letzt zog
er einen Brief hervor, gefaltet, versiegelt und an mich
adressiert.
»Es ist die Handschrift von Monsieur Murtagh«,
erklärte Magnus mit halb unwilliger Ehrfurcht. Das erklärte sein
Zögern. Jareds Dienstboten betrachteten Murtagh mit einer Art
respektvollem Schrecken, der sich durch die Berichte über die
Ereignisse in der Rue du Faubourg-St.-Honoré noch gesteigert
hatte.
Der Brief war vor zwei Wochen in Paris
eingetroffen, erklärte Magnus. Unsicher, was sie damit anfangen
sollten, hatten die Dienstboten gezögert und konferiert, aber
schließlich hatte Magnus beschlossen, daß mir der Brief zugeleitet
werden mußte.
»Da der Herr fort ist«, wiederholte er. Diesmal
erregte der Satz meine Aufmerksamkeit.
»Fort?« sagte ich. Der Brief war zerknittert und
befleckt nach seiner langen Reise. »Sie meinen, Jamie ist
abgereist, bevor dieser Brief eintraf?« Ich konnte mir keinen Reim
darauf machen. Es mußte sich um das Schreiben handeln, in dem
Murtagh den Namen und den Abreisetag des Schiffes nannte, das
Charles Stuarts Portwein von Lissabon nach Paris transportierte.
Jamie konnte nicht nach Spanien gereist sein, bevor er diese
Information erhalten hatte.
Um mir Klarheit zu verschaffen, erbrach ich das
Siegel und faltete das Briefchen auseinander. Es war an mich
adressiert, da Jamie glaubte, es sei unwahrscheinlich, daß meine
Post abgefangen wurde. Das Schreiben war vor fast einem Monat in
Lissabon datiert worden.
»Die Scalamandre sticht am 18. Juli von
Lissabon aus in See.« Das war alles. Verwundert stellte ich fest,
wie zierlich und sauber Murtaghs Handschrift war; aus irgendeinem
Grund hatte ich ein unleserliches Gekritzel erwartet.
Als ich aufblickte, sah ich, wie Magnus und Louise
einen überaus merkwürdigen Blick tauschten.
»Was ist los?« fragte ich abrupt. »Wo ist Jamie?«
Daß er mich im Höpital des Anges nicht besucht hatte, hatte ich auf
Schuldgefühle zurückgeführt, denn schließlich hatte sein
rücksichtsloses Verhalten unserem Kind, Frank und beinahe auch mir
das Leben gekostet. Damals war es mir gleichgültig gewesen. Ich
hatte ihn gar nicht sehen wollen. Doch nun kam mir eine
unheilvollere Erklärung für sein Fernbleiben in den Sinn.
Schließlich straffte Louise ihre rundlichen
Schultern und ergriff das Wort.
»Er ist in der Bastille«, sagte sie nach einem
tiefen Atemzug. »Wegen des Duells.«
Meine Knie wurden weich, und ich ließ mich auf die
nächstbeste Sitzgelegenheit fallen.
»Warum in aller Welt hast du mir das nicht gesagt?«
Ich war
mir über meine Gefühle nicht ganz im klaren. Stand ich unter
Schock, empfand ich Entsetzen - Angst? Oder ein klein wenig
Genugtuung?
»Ich - ich wollte dich nicht beunruhigen,
chérie«, stotterte Louise, bestürzt über meine Verzweiflung.
»Du warst so schwach... und du hättest ohnehin nichts unternehmen
können. Und du hast nicht gefragt«, betonte sie.
»Aber was... wie... wie lautet das Urteil?« fragte
ich. Ganz gleich, was ich zuerst empfunden hatte, es schien mir
jetzt dringend geboten, etwas zu unternehmen. Murtaghs Brief war
vor zwei Wochen in der Rue Tremoulins eingetroffen. Jamie hätte
gleich nach Empfang abreisen sollen.
Louise rief Dienstboten herbei, bestellte Wein,
Riechsalz und verbrannte Federn, alles auf einmal. Ich mußte einen
besorgniserregenden Anblick geboten haben.
»Er hat den Befehl des Königs mißachtet«, sagte
sie. »Er bleibt so lange im Gefängnis, wie es dem König
beliebt.«
»Jesus H. Roosevelt Christ«, murmelte ich
und wünschte, mir stünden stärkere Worte zu Gebote.
»Ein Glück, daß le petit James seinen Gegner
nicht getötet hat«, fügte Louise hastig hinzu. »In diesem Fall
würde die Strafe viel... ooh!« Sie brachte ihren gestreiften Rock
gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, als ich die soeben
servierten Erfrischungen vom Tisch fegte. Scheppernd ging das
Tablett zu Boden. Ich hielt die Hände gegen die Rippen gepreßt, die
rechte umklammerte schützend den Goldring an der linken.
»Dann ist er also nicht tot?« fragte ich wie im
Traum. »Hauptmann Randall... er lebt?«
»Aber ja.« Sie beäugte mich neugierig. »Du hast es
nicht gewußt? Er ist schwer verletzt, aber angeblich auf dem Wege
der Besserung. Geht es dir gut, Claire? Du siehst...« Aber das Ende
des Satzes ging in dem Dröhnen unter, das meine Ohren
erfüllte.
»Du hast zu früh zu viel getan«, sagte Louise
streng, während sie die Vorhänge aufzog. »Ich habe es dir gesagt,
nicht wahr?«
»Ich glaube schon«, erwiderte ich, als ich mich
aufsetzte und dabei sorgfältig auf etwaige Anzeichen von Schwäche
achtete. Kein Schwindel, kein Ohrensausen, keine Tendenz
umzufallen. Offenbar war ich wieder auf der Höhe.
»Ich brauche mein gelbes Kleid - und würdest du
dann die Kutsche bestellen, Louise?« bat ich.
Entsetzt sah sie mich an. »Du willst doch nicht
etwa ausgehen? Unsinn! Monsieur Clouseau kommt, um nach dir zu
sehen! Ich habe einen Boten geschickt, ihn sofort zu holen!«
Die Nachricht, daß Monsieur Clouseau, ein bekannter
Gesellschaftsarzt, aus Paris unterwegs war, um mich zu untersuchen,
wäre schon allein Grund genug gewesen, wieder auf die Beine zu
kommen.
Der 18. Juli war in zehn Tagen. Mit einem schnellen
Pferd, gutem Wetter und dem Verzicht auf jede körperliche
Bequemlichkeit war die Strecke von Paris nach Oviedo in sechs Tagen
zu schaffen. Damit blieben mir vier Tage, um Jamies Freilassung aus
der Bastille zu erwirken. Ich hatte keine Zeit, mich mit Monsieur
Clouseau abzugeben.
»Hmm.« Nachdenklich sah ich mich im Zimmer um. »Ruf
auf alle Fälle das Mädchen, um mir beim Ankleiden zu helfen. Ich
möchte Monsieur Clouseau nicht im Hemd empfangen.«
Obwohl mich Louise immer noch mißtrauisch musterte,
erschien ihr das wohl plausibel. Die meisten Damen bei Hofe hätten
sich noch vom Totenbett erhoben, um sich einem solchen Anlaß gemäß
zu kleiden.
»Einverstanden«, sagte sie und wandte sich zur Tür.
»Aber du bleibst im Bett, bis Yvonne da ist, hörst du?«
Das gelbe Kleid war eins meiner besten, ein loser,
schöner Schnitt im modischen Kontuschstil mir breitem Kragen,
weiten Ärmeln und einem perlenbesetzten Verschluß vorne. Endlich
gepudert, gekämmt, bestrumpft und parfümiert, musterte ich die
Schuhe, die Yvonne für mich bereitgestellt hatte. Ich schüttelte
bedächtig den Kopf und runzelte die Stirn.
»Hmm, nein«, sagte ich schließlich. »Lieber nicht.
Ich trage die anderen, die mit den roten Saffianabsätzen.«
Das Mädchen blickte zweifelnd auf mein Kleid, als
hielte sie im Geiste rotes Saffianleder gegen gelben Seidenmoire,
begann aber gehorsam, in dem wuchtigen Schrank zu wühlen.
Lautlos schlich ich mich heran, schubste sie mit
dem Kopf voran in den Schrank und schlug die Tür hinter der
zappelnden, kreischenden Yvonne zu. Dann drehte ich den Schlüssel
um, ließ ihn in meine Tasche fallen und gratulierte mir im Geiste
zu meiner Tat.
Gut gemacht, Beauchamp, dachte ich. Durch dieses politische
Intrigenspiel lernst du Dinge, die du dir auf der
Krankenpflegeschule nicht hättest träumen lassen, das steht
fest.
»Keine Sorge«, rief ich dem bebenden Schrank zu.
»Ich denke, daß bald jemand kommt und Sie herausläßt. Und Sie
können der Prinzessin versichern, daß Sie mich nicht haben
entwischen lassen.«
Aus dem verzweifelten Heulen im Schrank hörte ich
Monsieur Clouseaus Namen heraus.
»Sagen Sie ihm, er soll sich den Affen ansehen!«
rief ich über meine Schulter. »Er hat die Räude.«
Dank meiner siegreichen Auseinandersetzung mit
Yvonne hob sich meine Stimmung merklich. Doch als ich in der
Kutsche saß, die holpernd Richtung Paris fuhr, verlor ich
allmählich wieder den Mut.
Ich war zwar nicht mehr ganz so wütend auf Jamie,
wollte ihn aber nach wie vor nicht sehen. Meine Gefühle waren in
Aufruhr, aber ich hatte nicht die Absicht, mich näher mit ihnen
auseinanderzusetzen; es tat einfach viel zu weh. Ich empfand Kummer
und hatte das schreckliche Gefühl, versagt zu haben, und vor allem
hatten wir einander verraten: er mich und ich ihn. Er hätte nie in
den Bois de Boulogne gehen dürfen, und ich hätte ihm nie dorthin
folgen dürfen.
Aber wir hatten beide gehandelt, wie es unser
Charakter und unsere Gefühle geboten, und gemeinsam hatten wir -
vielleicht - den Tod unseres Kindes herbeigeführt. Ich verspürte
nicht den Wunsch, meinen Komplizen zu sehen, und noch weniger
wollte ich ihm meinen Kummer zeigen oder meine Schuld an seiner
messen. Ich floh vor allem, was mich an den naßkalten Morgen im
Wald erinnerte, ich floh vor jeder Erinnerung an Jamie, wie ich ihn
zuletzt gesehen hatte, hochaufgerichtet über dem Körper seines
Opfers, mit vor Rachedurst verzerrtem Gesicht - eine Rache, die
sich kurz darauf gegen seine eigene Familie wenden sollte.
Ich konnte nicht einmal flüchtig daran denken, ohne
daß sich mein Magen verkrampfte und damit der Schmerz der
vorzeitigen Wehen wiederauflebte. Ich preßte die Fäuste gegen den
blauen Samt des Sitzes und richtete mich auf, um das eingebildete
Ziehen im Rücken zu mildern.
Ich sah aus dem Fenstere, um mich abzulenken, nahm
aber die
vorbeiziehende Landschaft nicht wahr, da meine Gedanken
unwillkürlich wieder zum Zweck meiner Reise zurückkehrten.
Unabhängig davon, was ich für Jamie empfand, was wir einander waren
oder sein würden - die Tatsache blieb bestehen, daß er im Gefängnis
saß. Und ich glaubte zu wissen, was die Haft für ihn bedeutete,
angesichts der Erinnerungen an Wentworth, die er mit sich
herumschleppte.
Wichtiger noch war die Angelegenheit, die Charles
Stuart und das Schiff aus Portugal betraf, das Darlehen von
Monsieur Duverney - und Murtagh, der im Begriff war, sich in
Lissabon einzuschiffen, und einem Treffen in Oviedo entgegensah. Es
stand zuviel auf dem Spiel, als daß ich meinen Gefühlen hätte
nachgeben dürfen. Um der schottischen Clans willen, für die
Highlands selbst, für Jamies Familie und seine Pächter in
Lallybroch, für die Tausenden, die bei und nach der Schlacht von
Culloden sterben würden - dafür mußte es gewagt werden. Und um es
zu wagen, mußte Jamie frei sein. Diese Sache konnte ich nicht
selbst in Angriff nehmen.
Nein, keine Frage. Ich mußte tun, was nötig war, um
ihn aus der Bastille freizubekommen.
Aber was konnte ich tun?
Ich beobachtete die Bettler, die sich balgten und
auf die Fenster der Kutsche zustrebten, als wir in die Rue du
Faubourg-St.-Honoré einbogen. In Zweifelsfällen war es am besten,
Rat bei einer höheren Instanz einzuholen.
Nachdenklich trommelte Mutter Hildegarde mit den
Fingern auf ein Notenblatt, wie um den Takt einer schwierigen
Sequenz zu klopfen. Sie saß an dem Mosaiktisch in ihrem privaten
Schreibzimmer gegenüber von Herrn Gerstmann, der zu dieser
Dringlichkeitssitzung gerufen worden war.
»Nun ja«, meinte Herr Gerstmann zweifelnd. »Ich
glaube, daß ich eine Privataudienz bei Seiner Majestät erwirken
könnte, aber... sind Sie sicher, daß Ihr Mann... äh...« Dem
Hofkantor schien es außergewöhnlich schwerzufallen, die rechten
Worte zu finden, so daß sich mir der Verdacht aufdrängte, eine
Petition an den König, um Jamies Freilassung zu erwirken, könnte
ein wenig mehr Schwierigkeiten mit sich bringen, als ich gedacht
hatte. Mutter Hildegarde bestätigte diese Vermutung durch ihre
Reaktion.
»Johannes!« rief sie so aufgeregt, daß sie die
gewohnte förmliche
Anrede beiseite ließ. »Das kann sie nicht! Schließlich gehört
Madame Fraser nicht zu den Hofdamen - sie ist eine tugendhafte
Frau!«
»Danke«, sagte ich höflich. »Wenn Sie jedoch
erlauben... was hat meine Tugendhaftigkeit mit einer Audienz beim
König zu tun?«
Die Nonne und der Kantor tauschten einen Blick, in
dem sich das Entsetzen über meine Naivität ebenso spiegelte wie ihr
Widerwillen, mich aufzuklären. Schließlich biß Mutter Hildegarde,
die mutigere von beiden, in den sauren Apfel.
»Wenn Sie den König allein aufsuchen, um eine Gunst
von ihm zu erbitten, wird er erwarten, daß Sie bei ihm liegen«,
sagte sie schonungslos. Nach dem Wirbel, der dieser Eröffnung
vorausging, wunderte mich das nicht, aber ich warf Herrn Gerstmann
einen fragenden Blick zu, der den Sachverhalt mit einem zögernden
Nikken bestätigte.
»Seine Majestät hat ein offenes Ohr für die Gesuche
von Damen, die über persönliche Reize verfügen«, erklärte er
taktvoll und vertiefte sich in die Betrachtung eines Ornaments auf
dem Tisch.
»Aber solche Gesuche haben ihren Preis«, fügte
Mutter Hildegarde weniger feinfühlig hinzu. »Die meisten Höflinge
sind hocherfreut, wenn ihre Gemahlinnen die Gunst des Königs
erlangen. Der Gewinn, den sie daraus ziehen, ist ihnen das Opfer
der Tugend wert.« Dabei verzog sich ihr breiter Mund verächtlich,
doch bald fand sie wieder zu ihrem gewohnten grimmig-humorvollen
Lächeln.
»Doch Ihr Gatte«, sagte sie, »erweckt nicht den
Anschein, als würde er sich ergeben in die Rolle eines Hahnreis
fügen.« Fragend zog sie die dichten Brauen hoch, und ich schüttelte
den Kopf.
»Das glaube ich auch nicht.« Es war sogar eine der
gröbsten Untertreibungen, die ich je gehört hatte. Zwar war
»ergeben« nicht gerade das letzte Wort, das ich mit Jamie in
Verbindung brachte, es stand aber auch nicht ganz oben auf der
Liste. Ich versuchte mir vorzustellen, was Jamie denken, sagen oder
tun würde, wenn er je erfuhr, daß ich mit einem anderen Mann
geschlafen hatte, und sei es der König von Frankreich.
Ich dachte an das Vertrauen, das uns verbunden
hatte, fast seit dem Tag unserer Heirat, und plötzlich fühlte ich
mich schrecklich
einsam. Ich schloß die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende
Übelkeit an, aber ich mußte dem, was mir bevorstand, ins Auge
sehen.
Ich holte tief Luft und fragte: »Gibt es noch eine
andere Möglichkeit?«
Mutter Hildegarde legte die Stirn in Falten und sah
Herrn Gerstmann an, als erwartete sie von ihm eine Antwort. Der
kleine Kantor zuckte die Achseln und runzelte ebenfalls die
Stirn.
»Wenn Sie einen einflußreichen Freund hätten, der
bei Seiner Majestät ein Wort für Ihren Gatten einlegen könnte?«
fragte er zögernd.
»Wohl kaum.« Diese Möglichkeit hatte ich auf dem
Weg von Fontainebleau hierher schon selbst erwogen, hatte mir aber
eingestehen müssen, daß es niemanden gab, an den ich mich mit einer
solchen Bitte wenden konnte. Aufgrund der Illegalität des Duells
und des nachfolgenden Skandals - denn natürlich hatte Marie
d’Arbanville ihren Klatsch in ganz Paris verbreitet - konnte es
sich kein Franzose aus unserem Bekanntenkreis leisten, sich für uns
einzusetzen. Monsieur Duverney hatte mich zwar freundlich
empfangen, konnte mir aber keinen Mut machen. Abwarten, lautete
sein Rat. In einigen Monaten, wenn der Skandal in Vergessenheit
geraten wäre, dann könnte man sich an Seine Majestät wenden. Aber
im Augenblick...
Und auch der Herzog von Sandringham, der so überaus
delikate diplomatische Verhandlungen führte, daß er seinen
Privatsekretär entlassen hatte, weil es den Anschein hatte, daß er
in einen Skandal verwickelt war - auch er war nicht in der Lage,
von Louis eine solche Gunst zu erbitten.
Ich starrte auf die Mosaikplatte, nahm jedoch die
bunten geometrischen Muster kaum wahr. Wenn es wirklich notwendig
war, Jamie aus dem Gefängnis zu holen, um eine jakobitische
Invasion Schottlands zu verhindern, dann würde wohl ich mich um
seine Freilassung kümmern müssen, ganz gleich, mit welchen Mitteln
und mit welchen Konsequenzen.
Schließlich blickte ich auf und sah dem Kantor in
die Augen. »Ich muß es tun«, sagte ich leise. »Es gibt keinen
anderen Ausweg.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sah
Herr Gerstmann Mutter Hildegarde an.
»Sie wird hierbleiben«, erklärte die Oberin mit
fester Stimme.
»Bitte teilen Sie Tag und Stunde der Audienz mit, sobald Sie alles
in die Wege geleitet haben, Johannes.«
Dann wandte sie sich an mich. »Wenn Sie sich
tatsächlich für diesen Weg entschieden haben, meine liebe
Freundin...« Sie preßte die Lippen fest aufeinander, sagte aber
dann: »Es mag eine Sünde sein, Sie bei einer unmoralischen Tat zu
unterstützen. Ich werde es trotzdem tun. Ich weiß, daß Sie Ihre
Gründe haben, auch wenn ich sie nicht kenne. Und vielleicht wird ja
die Sünde durch den Lohn Ihrer Freundschaft aufgewogen.«
»Oh, Mutter.« Hätte ich noch mehr gesagt, wären mir
die Tränen gekommen, also begnügte ich mich damit, die große,
abgearbeitete Hand zu drücken, die auf meiner Schulter ruhte.
Plötzlich verspürte ich den Drang, mich in ihre Arme zu werfen und
mein Gesicht in dem tröstlichen schwarzen Serge zu bergen, aber sie
nahm die Hand von meiner Schulter und griff nach dem langen
Rosenkranz, der bei jedem Schritt in den Falten ihres Rockes
klickte.
»Ich werde für Sie beten.« Sie lächelte, dann fügte
sie nachdenklich hinzu: »Obwohl ich mich frage, welchen Heiligen
man unter diesen Umständen anrufen sollte?«
Maria Magdalena, schoß es mir durch den Kopf, als
ich die Hände wie zum Gebet hob, um mir das geflochtene Gestell für
den Reifrock über die Schultern und auf die Hüften herunterziehen
zu lassen. Oder Mata Hari, aber ich bezweifelte, daß man sie jemals
heiligsprechen würde. Übrigens war ich mir auch bei Magdalena nicht
sicher, aber wie mir schien, würde eine bekehrte Prostituierte
unter all den himmlischen Heerscharen am ehesten Verständnis für
das Abenteuer aufbringen, auf das ich mich jetzt einließ.
Das Couvent des Anges hatte gewiß noch nie ein so
prachtvolles Kleid wie dieses gesehen. Zwar wurden die Novizinnen,
wenn sie ihr letztes Gelübde ablegten, als Bräute Christi festlich
gekleidet, doch rote Seide und Reispuder spielten bei dieser
Zeremonie wohl keine große Rolle.
Sehr symbolträchtig, dachte ich, als die üppigen
scharlachroten Falten über mein Gesicht glitten. Weiß für Unschuld
und rot für... was immer das sein mochte. Schwester Minerve, eine
junge Nonne aus einer reichen Adelsfamilie, war ausgewählt worden,
mir bei der Toilette zu helfen. Mit großem Geschick frisierte sie
mich und
steckte mir mit Staubperlen besetzte Straußenfedern ins Haar.
Meine Brauen bürstete sie sorgfältig mit kleinen Bleikämmen, und
meine Lippen zog sie mit einer in den Rougetopf getunkten Feder
nach. Es kitzelte unerträglich, was meine Neigung, hemmungslos zu
kichern, verstärkte. Aber es war keine Lustigkeit, sondern
Hysterie.
Schwester Minerve griff nach dem Handspiegel. Doch
ich winkte ab - ich wollte mir nicht in die Augen sehen. Dann
atmete ich tief ein und nickte.
»Ich bin fertig. Bitte, rufen Sie die
Kutsche.«
Diesen Teil des Palasts hatte ich noch nie
betreten. Nachdem ich schier endlose kerzenerleuchtete Korridore
mit zahllosen Spiegeln durchschritten hatte, war ich nicht mehr
ganz sicher, wie viele von meiner Sorte da herumliefen, geschweige
denn, in welche Richtung.
Der diskrete königliche Kammerjunker führte mich zu
einer kleinen holzgetäfelten Tür in einem Alkoven. Er klopfte
einmal, verbeugte sich dann vor mir, drehte sich rasch um und
verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Tür ging nach innen
auf, und ich trat ein.
Der König hatte seine Hose noch an. Diese
Feststellung verminderte meinen Herzschlag auf ein erträgliches
Tempo, und auch das Gefühl, jede Sekunde erbrechen zu müssen, wich
von mir.
Ich wußte nicht genau, was ich erwartet hatte, aber
der Anblick, der sich mir bot, wirkte halbwegs beruhigend. Der
König war zwanglos gekleidet, in Hemd und Kniehose, um die
Schultern einen Morgenmantel aus brauner Seide. Seine Majestät
lächelte und bedeutete mir aufzustehen, indem er mit der Hand
meinen Arm berührte. Seine Hand fühlte sich warm an - unbewußt
hatte ich damit gerechnet, sie würde klamm sein. Ich erwiderte sein
Lächeln, so gut ich konnte.
Der Versuch wirkte offenbar nicht gerade
überzeugend, denn er tätschelte mir freundlich den Arm und sagte:
»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, chère Madame,
ich beiße nicht.«
»Nein«, sagte ich. »Selbstverständlich
nicht.«
Er war wesentlich gelassener als ich. Kein Wunder,
dachte ich bei mir, schließlich macht er das ständig. Ich atmete
tief durch und versuchte mich zu entspannen.
»Trinken Sie ein Glas Wein mit mir, Madame?« fragte
er. Wir
waren allein; der Wein war bereits eingeschenkt. Die Kelche
schimmerten im Kerzenlicht wie Rubine. Das Zimmer war reich
verziert, aber klein, und außer dem Tisch und zwei Stühlen mit
ovalen Lehnen enthielt es nur eine verschwenderisch gepolsterte,
mit grünem Samt bezogene Chaiselongue. Ich versuchte, das
Möbelstück nicht anzusehen, als ich mein Glas nahm und Dankesworte
murmelte.
»Setzten Sie sich doch.« Louis ließ sich auf einem
Stuhl nieder und bedeutete mir, auf dem anderen Platz zu nehmen.
»Nun, bitte«, sagte er lächelnd, »sagen Sie mir, was ich für Sie
tun kann.«
»M-mein Gemahl«, stotterte ich nervös. »Er ist in
der Bastille.«
»Natürlich«, murmelte der König. »Wegen eines
Duells. Ich entsinne mich.« Er nahm meine freie Hand in die seine
und legte seine Finger sanft auf meinen Puls. »Was soll ich machen,
chère Madame? Sie wissen, daß es sich um ein schweres
Vergehen handelt. Ihr Mann hat meinen Erlaß mißachtet.« Er
liebkoste die Unterseite meines Handgelenks, so daß ich ein
leichtes Prickeln im Arm spürte.
»J-ja, das weiß ich. Aber er wurde... provoziert.«
Ich hatte einen Einfall. »Wie Ihr wißt, ist er Schotte. Die Männer
aus diesem Land sind...«, ich suchte nach einem guten Synonym für
Berserker, »voller Ingrimm, wenn es um ihre Ehre geht.«
Louis nickte, den Kopf scheinbar völlig versunken
über meine Hand geneigt. Seine Haut schimmerte ein wenig fettig,
und er roch nach Parfum. Veilchen. Ein intensiver, süßer Duft, der
jedoch den scharfen Geruch seiner Männlichkeit nicht überdecken
konnte.
Er leerte sein Glas in zwei Zügen und stellte den
Kelch ab, um meine Hand mit beiden Händen ergreifen zu können. Ein
Finger zeichnete die Ornamente meines Eherings mit den Distelblüten
nach.
»Ganz recht«, sagte er und zog meine Hand näher zu
sich, als wollte er den Ring genauer betrachten. »Ganz recht,
Madame. Indes...«
»Ich wäre... überaus dankbar, Eure Majestät«,
unterbrach ich ihn. Er hob den Kopf, und ich sah in seine dunklen,
forschenden Augen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ȇberaus...
dankbar.«
Er hatte schmale Lippen und schlechte Zähne. Ich
roch seinen nach Zahnfäule und Zwiebeln stinkenden Atem und
versuchte die Luft anzuhalten, aber das war nur eine vorübergehende
Notlösung.
»Nun...«, sagte er langsam, als überdächte er die
Sache. »Ich persönlich würde dazu neigen, Gnade vor Recht ergehen
zu lassen, Madame...«
Ich atmete aus, und seine Finger drückten warnend
meine Hand. »Aber wissen Sie, es gibt Komplikationen.«
»Tatsächlich?« fragte ich matt.
Er nickte, den Blick auf mich geheftet. Er
streichelte die Venen auf meinem Handrücken.
»Der Engländer, der das Pech hatte, den Herrn von
Broch Tuarach zu beleidigen - er stand im Dienste... eines
englischen Adligen von einiger Bedeutung.«
Sandringham. Mein Herz zog sich zusammen.
»Dieser Adlige führt - nun sagen wir, gewisse
Verhandlungen, durch die er Anspruch auf etwas Rücksichtnahme hat.«
Das Lächeln auf seinen schmalen Lippen betonte den gebieterischen
Schwung der Nase. »Und dieser Edelmann interessiert sich für das
Duell zwischen Ihrem Gatten und dem englischen Hauptmann. Ich
fürchte, er hat überaus nachdrücklich gefordert, daß Ihrem Gemahl
die Höchststrafe für dieses Vergehen auferlegt wird, Madame.«
Verdammter Mist, dachte ich, Natürlich - Jamie
hatte es abgelehnt, sich durch eine Begnadigung bestechen zu
lassen; gab es da einen besseren Weg, ihn an seinem »Kampf« für die
Stuarts zu hindern, als ihn für einige Jahre in der Bastille
verschwinden zu lassen? Sicher, unauffällig und kostengünstig, eine
Methode, die dem Herzog gefallen mußte.
Andererseits beugte sich Louis nach wie vor
schweratmend über meine Hand, woraus ich schloß, daß noch nicht
alles verloren war. Wenn er meinem Ersuchen nicht nachkam, konnte
er wohl kaum erwarten, daß ich mit ihm ins Bett ging - und wenn er
das doch tat, stand ihm eine böse Überraschung ins Haus.
Ich wappnete mich für einen zweiten Anlauf.
»Empfangen Eure Majestät Befehle von den
Engländern?« fragte ich verwegen.
Entsetzt riß Ludwig die Augen auf. Als er verstand,
was ich damit bezweckte, lächelte er gequält. Offenbar hatte ich
einen wunden Punkt berührt. Mit einem leichten Schulterzucken
rückte er das Bewußtsein der Macht zurecht wie einen unsichtbaren
Mantel.
»Nein, Madame, das ist nicht der Fall«, entgegnete
er trocken. »Allerdings ziehe ich... verschiedene Faktoren in
Betracht.« Die
schweren Lider senkten sich für einen Moment, aber er hielt meine
Hand weiter fest.
»Ich habe gehört, daß sich Ihr Gemahl für die
Angelegenheiten meines Cousins interessiert«, sagte er.
»Eure Majestät sind wohlinformiert«, erwiderte ich
höflich. »Und daher werdet Ihr auch wissen, daß mein Gemahl die
Wiedereinsetzung der Stuarts auf den Thron von Schottland nicht
unterstützt.« Ich hoffte inständig, daß er eben dies hören
wollte.
Offenbar hatte ich richtig getippt. Er lächelte,
hob meine Hand an die Lippen und küßte sie.
»Aha? Ich hatte... widersprüchliche Berichte über
Ihren Gatten gehört.«
Ich atmete tief durch und widerstand dem Impuls,
ihm meine Hand zu entziehen.
»Nun ja, es ist eine geschäftliche Angelegenheit.«
Ich versuchte, so sachlich wie möglich zu sprechen. »Der Cousin
meines Gatten, Jared Fraser, ist überzeugter Jakobit. Jamie - mein
Gemahl - kann seine wahren Ansichten natürlich nicht öffentlich
aussprechen, solange er Jareds Partner ist.« Da ich sah, wie sich
seine Zweifel zerstreuten, beeilte ich mich weiterzusprechen.
»Fragt Monsieur Duverney«, schlug ich vor. »Er weiß, auf welcher
Seite mein Gatte wirklich steht.«
»Das habe ich bereits getan.« Louis schwieg eine
lange Weile, während er seine plumpen Finger betrachtete, die feine
Kreise über meinen Handrücken zogen.
»So blaß«, murmelte er. »So zart. Ich meine, das
Blut unter Ihrer Haut fließen zu sehen.«
Dann ließ er meine Hand los und sah mich an. Ich
verstand mich darauf, im Gesicht eines Menschen zu lesen, aber
Louis wirkte völlig undurchschaubar. Plötzlich wurde mir klar, daß
er seit seinem fünften Lebensjahr König war. Die Fähigkeit, seine
Gedanken zu verbergen, gehörte ebenso zu ihm wie seine
Bourbonennase und seine schläfrigen, braunen Augen.
Dieser Gedanke zog andere nach sich, die mich
frösteln ließen. Louis war König. Die Bürger von Paris würden sich
erst in gut vierzig Jahren gegen Louis’ Nachfolger erheben. Bis zu
diesem Tage übte der Monarch die absolute Herrschaft über
Frankreich aus. Ein Wort von Louis konnte Jamie auf freien Fuß
setzen - oder töten. Mit mir konnte er machen, was er wollte, ich
hatte keinerlei Handhabe.
Er brauchte nur zu nicken, und die Schatzkammern Frankreichs
würden das Gold ausspucken, mit dessen Hilfe Charles Stuart wie ein
tödlicher Blitz ins Herz von Schottland vorstoßen konnte.
Er war König. Er würde tun, was ihm beliebte. Und
ich beobachtete seine braunen, nachdenklichen Augen und wartete
zitternd, welche Entscheidung der König zu treffen geruhte.
»Sagen Sie mir, ma chère Madame«, sagte er
schließlich, »wenn ich Ihre Bitte erfülle und ihren Gatten
freilasse...« Er hielt inne und dachte nach.
»Ja?«
»Er würde Frankreich verlassen müssen«, sagte Louis
und zog wie zur Warnung seine buschigen Brauen hoch. »Das wäre eine
Bedingung für seine Freilassung.«
»Ich verstehe.« Ich hatte das Gefühl, daß mein wild
hämmerndes Herz seine Worte übertönte. Daß Jamie Frankreich
verlassen sollte, war schließlich der Punkt, um den es ging. »Aber
er wurde aus Schottland verbannt...«
»Ich denke, das läßt sich regeln.«
Ich zögerte, aber mir blieb keine andere Wahl, als
um Jamies willen zuzustimmen. »Einverstanden.«
»Gut.« Der König nickte erfreut. Dann sah er mich
wieder an, seine Augen ruhten auf meinem Gesicht, glitten über
meinen Hals, meine Brüste, meinen Körper. »Als Gegenleistung möchte
ich einen kleinen Dienst von Ihnen erbitten, Madame«, sagte er
leise.
Ich sah ihm einen Augenblick lang direkt in die
Augen. Dann senkte ich den Kopf. »Ich stehe Eurer Majestät zur
Verfügung.«
»Ah.« Er erhob sich und warf den Morgenmantel ab,
der achtlos auf der Lehne des Sessels liegenblieb. Er lächelte und
streckte mir die Hand entgegen. »Très bien, ma
chère. Dann kommen Sie mit mir.«
Ich schloß kurz die Augen und hoffte, meine Knie
würden mir nicht den Dienst versagen. Du meine Güte, dachte ich, du
hast zwei Ehemänner gehabt. Mach bloß nicht so ein Theater
darum.
Schließlich stand ich auf und nahm seine Hand. Zu
meiner Überraschung führte er mich nicht zu der Chaiselongue,
sondern zur Tür am anderen Ende des Raumes.
In dem Augenblick, als er meine Hand losließ, um
die Tür zu öffnen, sah ich mit eiskalter Klarheit, was ich im
Begriff war zu tun.
Verdammt sollst du sein, Jamie Fraser, dachte
ich. Fahr zur Hölle!
Reglos stand ich auf der Schwelle und blinzelte.
Meine Überlegungen zur königlichen Entkleidungszeremonie wichen
blankem Erstaunen.
Es war ziemlich dunkel; der Raum wurde nur von
Öllämpchen erleuchtet, die in Grüppchen zu je fünf in Wandnischen
standen. Der Raum war rund, ebenso wie der riesige Tisch in der
Mitte. Dort saßen Menschen, die im Dunkel des Zimmers nur
schemenhaft zu erkennen waren.
Bei meinem Eintreten erhob sich ein Raunen, das
jedoch sofort erstarb, als der König erschien. Als sich meine Augen
an die Düsternis gewöhnt hatten, bemerkte ich zu meinem Entsetzen,
daß die Leute am Tisch Kapuzen trugen. Der mir am nächsten Sitzende
wandte sich zu mir um, und ich sah durch die Schlitze im Samt seine
Augen glitzern. Es sah aus wie eine Versammlung von Henkern.
Offensichtlich war ich der Ehrengast. Nervös fragte
ich mich, was man wohl von mir erwartete. Nach dem, was Raymond und
Marguerite angedeutet hatten, hatte ich grausige Visionen von
okkulten Riten, die die Opferung von Säuglingen, zeremonielle
Vergewaltigung und allgemeine Satansmessen umfaßten. Allerdings
werden übernatürliche Phänomene nur selten den Ankündigungen
gerecht, und ich hoffte, daß dies auch jetzt zutraf.
»Wir haben von Ihren außerordentlichen Fähigkeiten
gehört, Madame, und von Ihrem... Ruf.« Louis lächelte, schien aber
auf der Hut zu sein, als wäre er nicht ganz sicher, wie ich
reagieren würde. »Wir wären Ihnen zu allergrößtem Dank
verpflichtet, meine Liebe, wenn Sie uns heute abend in den Genuß
Ihrer Fähigkeiten kommen ließen.«
Ich nickte. Zu allergrößtem Dank verpflichtet, ja?
Das klang vielversprechend, schließlich wollte ich, daß er mir
verpflichtet war. Doch was erwartete er von mir? Ein Lakai stellte
eine große Wachskerze auf den Tisch und zündete sie an, so daß sie
ihr mildes Licht über das glänzende Holz verströmte. Die Kerze war
mit Symbolen dekoriert, wie ich sie am Schrank in Maître Raymonds
Geheimkabinett gesehen hatte.
»Regardez, Madame.« Die Hand des Königs lag
unter meinem Ellbogen, und er lenkte meine Aufmerksamkeit auf zwei
Gestalten,
die hinter dem Tisch still inmitten der zuckenden Schatten
standen. Bei ihrem Anblick fuhr ich zusammen, und der Griff des
Königs wurde fester.
Da standen der Comte de St. Germain und Maître
Raymond nebeneinander, zwischen ihnen etwa zwei Meter Abstand.
Raymond ließ sich nicht anmerken, ob er mich gesehen hatte, sondern
stand ruhig da und starrte vor sich hin.
Als mich der Comte erblickte, weiteten sich seine
Augen ungläubig, dann starrte er mich finster an. Er war sehr
elegant gekleidet, wie immer ganz in Weiß: ein gestreifter
Satinrock über einer Weste und einer Kniehose aus cremefarbener
Seide. Die kunstvoll verflochtenen Staubperlen an seinen Rock- und
Ärmelaufschlägen schimmerten im Kerzenlicht. Trotz dieser Pracht
sah der Comte ziemlich mitgenommen aus - sein Gesicht war vor
Anspannung verzerrt, das Spitzenjabot war erschlafft, und sein
Hemdkragen zeigte einen dunklen Schweißrand.
Raymond hingegen wirkte so ruhig wie ein Steinbutt
auf Eis. Unerschütterlich stand er da, die Hände in den Ärmeln
seiner wie immer recht schmuddligen Samtrobe vergraben, das breite,
flache Gesicht gelassen und undurchdringlich.
»Diese beiden Männer«, erklärte Louis und wies auf
Raymond und den Comte, »sind der Zauberei, der Hexerei und der
Verkehrung des rechtmäßigen Strebens nach Wissen in die Erforschung
der Schwarzen Kunst angeklagt.« Seine Stimme war kalt und voller
Ingrimm. »Derartige Praktiken sind unter der Herrschaft meines
Urgroßvaters aufgeblüht, doch in unserem Reich werden wir solche
Gottlosigkeit nicht dulden.«
Der König schnippte einem Kapuzenträger zu, der mit
Feder und Tinte vor einem Aktenbündel saß. »Lesen Sie bitte die
Anklageschrift vor«, sagte er.
Gehorsam stand der Angesprochene auf und begann aus
den Papieren vorzulesen; man warf den beiden Greueltaten und
abscheuliche Opferungen vor, die Ermordung unschuldiger Menschen,
die Profanierung des allerheiligsten Sakraments durch Entweihung
der Hostie, den Vollzug von Liebesriten auf dem Altar Gottes -
blitzartig erkannte ich, wie die Heilung, die Raymond im Höpital
des Anges an mir vollzogen hatte, ausgesehen haben mußte, und ich
empfand tiefe Dankbarkeit, daß er nicht entdeckt worden war.
Ich hörte, wie der Name »du Carrefours« fiel, und
schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der mir hochkam. Was
hatte Pastor Laurent gesagt? Der Hexer du Carrefours war in Paris
verbrannt worden, und zwar aufgrund einer Anklage, wie ich sie
jetzt hörte: »... die Beschwörung von Dämonen und Mächten der
Finsternis, die Herbeiführung von Krankheit und Tod gegen
Bezahlung...« - ich legte die Hand auf den Magen, eingedenk der
bitteren Faulbaumrinde - »Verwünschungen gegen Mitglieder des
Hofes, Schändung von Jungfrauen...« Ich warf dem Comte einen
flüchtigen Blick zu, doch sein Gesicht war wie versteinert; mit
zusammengekniffenen Lippen lauschte er den Beschuldigungen.
Raymond stand reglos da, das silberne Haar fiel ihm
auf die Schultern, und er sah aus, als wäre das Gesagte für ihn so
folgenlos wie das Lied einer Drossel. Ich hatte die kabbalistischen
Symbole in seinem Kabinett gesehen, konnte mir aber nicht
vorstellen, daß der Mann, den ich kannte - der mitleidsvolle
Giftmischer, der praktische Apotheker -, all die aufgelisteten
Schandtaten begangen hatte. Endlich war die Verlesung der
Anklageschrift abgeschlossen. Der Kapuzenträger sah den König an
und ließ sich auf dessen Zeichen wieder auf seinem Stuhl
nieder.
»Umfangreiche Nachforschungen wurden angestellt«,
erklärte der König, an mich gewandt. »Beweise wurden vorgelegt und
zahlreiche Zeugen gehört. Es scheint klar«, er warf einen kalten
Blick auf die angeklagten Magier, »daß beide Männer die Schriften
der alten Philosophen studiert und die Kunst der Weissagung mit
Hilfe der Bewegungen der Himmelskörper praktiziert haben. Nun...«
Er zuckte die Achseln. »Das ist an sich kein Verbrechen. Mir wurde
zu verstehen gegeben«, er blickte auf einen schwerfälligen Mann mit
Kapuze, vermutlich den Bischof von Paris, »daß dies mit den Lehren
der Kirche nicht unvereinbar ist. Selbst der heilige Augustinus hat
die Geheimnisse der Astrologie erkundet.«
Ich erinnerte mich dunkel, daß sich Augustinus
tatsächlich mit Astrologie befaßt, sie jedoch ziemlich verächtlich
als vollkommenen Unsinn abgetan hatte. Doch ich bezweifelte, daß
Louis die Bekenntnisse des heiligen Augustinus gelesen hatte, und
sich auf ihn zu berufen war einem der Hexerei beschuldigten
Angeklagten zweifellos dienlich. Sternguckerei schien im Vergleich
zu Säuglingsopfern und anderen namenlosen Orgien relativ
harmlos.
Mit wachsender Besorgnis fragte ich mich, was ich
bei dieser Versammlung verloren hatte. War der Besuch von Maitre
Raymond an meinem Krankenbett vielleicht doch nicht unbeobachtet
geblieben?
»An der rechten Anwendung von Wissen und dem
Streben nach Weisheit haben wir nichts auszusetzen«, sagte der
König wohlüberlegt. »Aus den Schriften der alten Philosophen kann
man vieles lernen, wenn man Vorsicht und Demut walten läßt. Aber
wahr ist auch, daß in solchen Schriften nicht nur viel Gutes,
sondern auch Böses zu finden ist und die Suche nach Weisheit in das
Streben nach Macht und Reichtum - nach weltlichen Dingen - verkehrt
werden kann.«
Er ließ seinen Blick nochmals von einem Angeklagten
zum anderen wandern, als wollte er nun entscheiden, wer von
beiden dieser Art von Verirrung mehr zugetan sein könnte.
Der Comte schwitzte immer noch: auf seinem weißen Seidenrock
zeichneten sich dunkle Flecken ab.
»Nein, Eure Majestät!« rief er, schüttelte sein
dunkles Haar und richtete seinen brennenden Blick auf Maître
Raymond. »Es stimmt, daß in diesem Land dunkle Mächte am Werk sind
- die Verworfenheit, von der Ihr sprecht, weilt mitten unter uns!
Aber solche Verruchtheit wohnt nicht in der Brust Eures treuesten
Untertans«, er schlug sich auf die Brust, damit uns nicht entging,
wen er meinte, »nein, Eure Majestät! Diese Verirrungen des Geistes
und die Ausübung verbotener Künste müßt Ihr jenseits Eures
Hofstaats suchen.« Er beschuldigte Maitre Raymond nicht offen, aber
sein Blick in dessen Richtung war eindeutig.
Der König nahm diesen Ausbruch ungerührt zur
Kenntnis. »Solche Greuel griffen während der Herrschaft meines
Urgroßvaters um sich«, sagte er leise. »Wir haben sie ausgemerzt,
wo immer sie sich zeigten. Hexenmeister und Hexen, welche die
Lehren der Kirche verdrehen... Monsieurs, wir werden nicht dulden,
daß solche Verworfenheit wiederauflebt.«
»Also.« Er schlug mit beiden Händen leicht auf den
Tisch und richtete sich auf. Den Blick fest auf Raymond und den
Comte gerichtet, deutete er mit einer Hand auf mich.
»Wir haben eine Zeugin hierhergebracht«, erklärte
er. »Eine unfehlbare Richterin über die Wahrheit, über die Reinheit
des Herzens.«
Ich gab ein leises Glucksen von mir, was den König
veranlaßte, sich zu mir umzudrehen.
»Eine weiße Dame«, sagte er leise. »La Dame
Blanche kann nicht lügen. Sie blickt in das Herz und in die
Seele eines Menschen und kann diese Wahrheit zum Guten wenden...
oder zur Vernichtung.«
Das Gefühl von Unwirklichkeit, das mich den ganzen
Abend lang begleitet hatte, löste sich schlagartig auf. Die durch
den Wein verursachte leichte Benommenheit wich von mir, und mit
einemmal war ich stocknüchtern. Ich öffnete den Mund, schloß ihn
aber gleich wieder, weil mir aufging, daß ich absolut gar nichts zu
sagen wußte.
Es lief mir kalt den Rücken hinunter, und mein
Magen zog sich zusammen, als der König seine Anordnungen traf. Auf
den Boden sollten zwei Pentagramme gemalt werden, in die sich die
beiden Magier stellen mußten. Jeder sollte dann über seine eigenen
Taten und Beweggründe Zeugnis ablegen. Und die weiße Dame würde den
Wahrheitsgehalt der Aussagen beurteilen.
»Jesus. H. Roosevelt Christ«, flüsterte
ich.
»Monsieur le Comte?« Der König deutete auf das
erste Pentagramm, das mit Kreide auf dem Teppich gezogen worden
war. Nur ein König brachte es fertig, einen echten Aubusson so
unbekümmert zu verunstalten.
Im Vorbeigehen wisperte mir der Comte zu: »Ich
warne Sie, Madame. Ich arbeite nicht allein.« Dann nahm er mir
gegenüber seinen Platz ein und verbeugte sich ironisch.
Was das zu bedeuten hatte, war hinlänglich klar:
Wenn ich ihn verurteilte, würden seine Helfershelfer sofort zur
Stelle sein, um mir die Brustwarzen abzuschneiden. Ich leckte mir
die trockenen Lippen und verfluchte Louis. Warum hatte er nicht
einfach meinen Körper gewollt?
Raymond trat gelassen auf den ihm zugewiesenen
Platz und nickte freundlich in meine Richtung. Seine runden
schwarzen Augen gaben mir keinen Hinweis darauf, wie ich mich
verhalten sollte.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich jetzt
tun sollte. Der König bedeutete mir, mich ihm gegenüber zwischen
die beiden Pentagramme zu stellen. Die Kapuzenträger nahmen hinter
dem König Aufstellung, eine gesichtslose, bedrohliche Gruppe.
Es herrschte vollkommenes Schweigen. Der Rauch der
Kerzen
hing in einer Wolke unter der vergoldeten Decke und bewegte sich
in der trägen Luftströmung. Alle Blicke richteten sich auf mich.
Schließlich wandte ich mich in meiner Verzweiflung an den Comte und
nickte.
»Sie können beginnen, Monsieur le Comte«, sagte
ich.
Er lächelte - zumindest vermutete ich, daß es ein
Lächeln sein sollte - und begann. Zunächst erklärte er die
Grundlagen der Kabbala, ging dann zur Exegese der dreiundzwanzig
Buchstaben des hebräischen Alphabets über und erläuterte deren
Symbolgehalt. Der Vortrag klang überaus gelehrt, vollkommen harmlos
und schrecklich langweilig. Der König gähnte und machte sich dabei
nicht die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten.
Unterdessen überdachte ich meine Alternativen.
Dieser Mann hatte mich bedroht und attackiert, er hatte versucht,
Jamie ermorden zu lassen - ob aus persönlichen oder politischen
Gründen, spielte keine Rolle. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er
der Anführer jener Bande von Vergewaltigern, die mir und Mary
aufgelauert hatten. Darüber hinaus und abgesehen von den Gerüchten,
die ich über seine anderen Aktivitäten gehört hatte, bedrohte er
den Erfolg unseres Versuchs, Charles Stuart aufzuhalten. Sollte ich
ihn ungeschoren davonkommen lassen? Damit er den König weiterhin
zugunsten der Stuarts beeinflussen konnte? Damit er die nächtlichen
Straßen von Paris mit seiner Bande maskierter Schläger weiterhin
unsicher machte?
Ein Schauder lief mir über den Rücken, aber ich
nahm mich zusammen und sah St. Germain fest in die Augen.
»Einen Augenblick«, sagte ich. »Alles, was Sie
bisher gesagt haben, ist wahr, Monsieur le Comte, aber ich sehe
einen Schatten hinter Ihren Worten.«
Der Comte stand mit offenem Mund da. Louis, der
sich gegen den Tisch gelehnt hatte, richtete sich interessiert auf.
Ich schloß die Augen und legte die Finger auf meine Lider, als
blickte ich nach innen.
»Ich sehe einen Namen in Ihren Gedanken, Monsieur
le Comte«, sagte ich atemlos und halb erstickt vor Angst, aber das
konnte ich nicht ändern. Ich ließ die Hände sinken und sah ihm in
die Augen. »Les Disciples du Mal. Was haben Sie mit Les
Disciples zu tun, Monsieur le Comte?«
Es fiel ihm wirklich schwer, seine Gefühle zu
verbergen. Seine
Augen traten hervor, er wurde blaß, und trotz meiner Furcht
empfand ich leise Genugtuung.
Der Name Les Disciples du Mal war auch dem
König geläufig; die schläfrigen, dunklen Augen verengten sich zu
schmalen Schlitzen.
Der Comte mochte ein Gauner und ein Scharlatan
sein, aber ein Feigling war er nicht. Er nahm seine letzten Kräfte
zusammen, blickte mich wütend an und warf den Kopf zurück.
»Diese Frau lügt«, sagte er mit derselben
Bestimmtheit, mit der er uns mitgeteilt hatte, daß der Buchstabe
Aleph die Quelle des Blutes Christi symbolisiere. »In Wahrheit ist
sie keine weiße Dame, sondern die Dienerin Satans! Zusammen mit
ihrem Meister, dem berüchtigten Hexer, dem Lehrling du Carrefours!«
Er deutete theatralisch auf Raymond, der gelinde überrascht
aussah.
Einer der Kapuzenträger bekreuzigte sich, und ich
hörte, wie ein kurzes Gebet gemurmelt wurde.
»Ich kann beweisen, was ich sage«, erklärte der
Comte, bevor ein anderer das Wort ergreifen konnte. Er griff in die
Brusttasche seines Rockes. Ich erinnerte mich an den Dolch, den er
bei jener Abendgesellschaft aus dem Ärmel gezogen hatte, und war
bereit, mich rechtzeitig zu ducken. Was er hervorzog, war jedoch
kein Messer.
»In der Heiligen Schrift heißt es: ›Und durch die,
die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen‹«,
donnerte er. »›Wenn sie Schlangen anfassen, wird es ihnen nicht
schaden. ‹«
Es handelte sich um eine Schlange. Sie war fast
einen Meter lang, glatt und geschmeidig wie ein geöltes Seil,
schimmerte goldbraun und besaß beunruhigende goldene Augen.
Bei ihrem Erscheinen war aus den Reihen der
Zuschauer ein Keuchen zu hören, und zwei der maskierten Richter
traten rasch einen Schritt zurück. Louis selbst war sichtlich
bestürzt und sah sich hastig nach seinem Leibwächter um, der an der
Tür stand.
Die Schlange züngelte ein-, zweimal, als kostete
sie die Luft. Scheinbar kam sie zu dem Schluß, daß die Mischung aus
Kerzenwachs und Weihrauch ungenießbar war, drehte sich um und
versuchte, wieder in die warme Tasche zu schlüpfen, aus der sie so
grob herausgezerrt worden war. Der Comte packte sie geschickt
hinten am Kopf und streckte sie mir entgegen.
»Seht!« sagte er triumphierend. »Die Frau schreckt
davor zurück! Sie ist eine Hexe!«
Im Vergleich zu einem der Richter, der sich gegen
die Wand drückte, war ich die Standhaftigkeit in Person, aber ich
muß zugeben daß ich unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten war,
als die Schlange vor mir auftauchte. Jetzt ging ich wieder auf dem
Comte zu, denn ich beabsichtigte, ihm die Schlange abzunehmen. Das
verdammte Vieh war höchstwahrscheinlich nicht giftig, sonst würde
sie der Comte kaum in seiner Brusttasche spazierentragen.
Vielleicht offenbarte sich, wie harmlos sie wirklich war, wenn ich
sie ihm um den Hals wickelte.
Bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte,
ergriff hinter mir Maitre Raymond das Wort. In all dem
Durcheinander hätte ich ihn fast vergessen.
»Das ist nicht alles, was in der Bibel steht,
Monsieur le Comte«, bemerkte Raymond. Er sprach nicht laut, und
sein breites Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Dennoch erstarb
das Stimmengewirr, und der König wandte ihm seine Aufmerksamkeit
zu.
»Ja, Monsieur?« sagte er.
Mit einem höflichen Nicken dankte Raymond für die
Erteilung des Wortes und griff mit beiden Händen in seine Robe. Aus
einer Tasche holte er eine Flasche, aus der anderen einen kleinen
Becher.
»›Wenn sie Schlangen anfassen‹«, zitierte er,
»›oder tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden.‹« Auf
seiner Handfläche hielt er uns einen Becher entgegen, der im
Kerzenlicht silbern schimmerte. Die Flasche hielt er zum
Einschenken bereit.
»Da sowohl die Herrin von Broch Tuarach als auch
ich selbst beschuldigt wurden«, sagte Raymond mit einem raschen
Blick in meine Richtung, »schlage ich vor, daß wir uns alle drei
dieser Probe unterziehen. Mit Eurer Erlaubnis, Majestät?«
Louis wirkte ziemlich verblüfft ob des raschen
Gangs der Ereignisse, nickte aber und eine bernsteinfarbene
Flüssigkeit ergoß sich in den Becher. Sofort verfärbte sich der
Inhalt rot und begann zu blubbern.
»Drachenblut«, erläuterte Raymond, auf den Becher
deutend. »Vollkommen harmlos für jene, die reinen Herzens sind.« Er
lächelte ein zahnloses, aufmunterndes Lächeln und reichte mir den
Becher.
Es blieb mir praktisch nichts anderes übrig, als zu
trinken. Ich hatte den Eindruck, daß es sich bei dem Drachenblut um
doppeltkohlensaures Natron handelte; es schmeckte wie Weinbrand mit
Alka-Seltzer. Ich nahm ein paar Schluck und gab den Becher
zurück.
Mit angemessener Feierlichkeit trank auch Raymond
davon. Als er den Becher absetzte, zeigten sich seine rotgefärbten
Lippen. Dann wandte er sich an den König.
»Dürfte ich La Dame Blanche bitten, Monsieur
le Comte den Becher zu reichen?« sagte er und deutete auf die
Kreidelinien zu seinen Füßen, um darauf hinzuweisen, daß er den
Schutz des Pentagramms nicht verlassen durfte.
Auf das Nicken des Königs hin nahm ich den Becher
und drehte mich um. Von St. Germain trennten mich etwa zwei Meter.
Ich tat einen Schritt und dann noch einen. Meine Knie zitterten
heftiger als in dem kleinen Vorzimmer, wo ich mit dem König allein
gewesen war.
Die Weiße Dame erkennt den wahren Charakter eines
Menschen? Konnte ich das? Wußte ich wirklich über die beiden
Bescheid, über Raymond und den Comte?
Hätte ich dem ganzen Einhalt gebieten können? Das
habe ich mich hundertmal, tausendmal gefragt - später. Hätte ich
anders handeln können?
Ich erinnerte mich meiner sündigen Gedanken bei
meiner ersten Begegnung mit Charles Stuart: Es würde auf lange
Sicht allen eine Menge Ärger ersparen, wenn er rasch und sanft
entschlummern würde. Aber man darf einen Menschen nicht wegen
seiner Überzeugungen töten, selbst wenn der Kampf für diese
Überzeugungen Unschuldige das Leben kostet - oder doch?
Ich wußte es nicht. Ich wußte nicht, ob der Comte
schuldig und ob Raymond unschuldig war. Ich wußte nicht, ob ein
rühmliches Ziel den Einsatz unrühmlicher Mittel rechtfertigt. Ich
wußte nicht, was ein Menschenleben wert ist-oder tausend. Und ich
wußte nicht, wie hoch der Preis der Rache ist.
Aber ich wußte, daß der Becher in meinen Händen den
Tod barg. Der weiße Kristall, den ich am Hals trug, erinnerte mich
an Gift. Ich hatte nicht gesehen, daß Raymond noch etwas
hinzugefügt hatte, niemand hatte es gesehen, da war ich mir sicher.
Aber ich brauchte den Kristall nicht in die blutrote Flüssigkeit zu
tauchen, um zu wissen, was sie jetzt enthielt.
Der Comte las mir die Wahrheit vom Gesicht ab.
La Dame Blanche kann nicht lügen. Zögernd betrachtete er die
blubbernde Flüssigkeit.
»Trinken Sie, Monsieur«, sagte der König. Sein
Blick war wieder verschleiert und gab nichts preis. »Oder haben Sie
Angst?«
Der Comte besaß eine Reihe schändlicher
Eigenschaften, aber Feigheit zählte nicht dazu. Sein Gesicht war
blaß und starr, aber er blickte den König offen an und lächelte ein
wenig.
»Nein, Majestät«, sagte er.
Er nahm den Becher aus meiner Hand und leerte ihn,
wobei er mich unverwandt ansah. Auch als seine Augen im Wissen um
den nahenden Tod glasig wurden, sah er mir noch ins Gesicht. Die
Weiße Dame kann das Innerste eines Menschen zum Guten wenden oder
zur Vernichtung.
Der Comte fiel zu Boden und krümmte sich, während
die Rufe und Schreie der maskierten Zuschauer die Laute übertönten,
die er von sich geben mochte. Seine Fersen hämmerten kurz und
geräuschlos auf den gemusterten Teppich, er bäumte sich auf, dann
erschlaffte sein Körper. Die Schlange aber befreite sich aus den
weißen Satinfalten seines Gewandes und schlüpfte hurtig davon, um
zu Louis’ Füßen Zuflucht zu suchen.
Ein Tumult brach aus.