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Der Bois de Boulogne
Es erwies sich, daß Monsieur Forez’ Besuch nur der
erste einer Reihe merkwürdiger Zwischenfälle war.
»Unten wartet ein Italiener auf Sie, Madame«,
teilte mir Magnus mit. »Seinen Namen wollte er nicht nennen.« Als
ich den zusammengekniffenen Mund des Butlers sah, war mir klar, daß
der Gast Magnus dafür mit einigen anderen Ausdrücken bedacht
hatte.
Das reichte, um mir über die Identität des
»Italieners« Aufschluß zu geben, und so war meine Überraschung
gering, als ich den Salon betrat und Charles Stuart am Fenster
stehen sah.
Er wirbelte herum, den Hut in der Hand, und war
offensichtlich überrascht, mich zu sehen, denn er musterte mich mit
offenem Mund. Doch er faßte sich rasch und verbeugte sich
hastig.
»Der Herr von Broch Tuarach ist nicht zu Hause?«
fragte er und zog mißvergnügt die Brauen zusammen.
»Nein«, erwiderte ich. »Darf ich Euch eine kleine
Erfrischung anbieten, Hoheit?«
Neugierig sah er sich in dem vornehm ausgestatteten
Salon um, schüttelte aber den Kopf. Soweit ich wußte, hatte er das
Haus nur ein einziges Mal betreten, und zwar bei seiner Flucht über
die Dächer. Weder er noch Jamie hielten es für ratsam, ihn zu
unseren Abendgesellschaften einzuladen. Solange Louis ihn nicht
offiziell empfing, würde sich der französische Adel nicht mit ihm
abgeben.
»Nein, vielen Dank, Madame Fraser. Ich bleibe nicht
lange, mein Diener wartet draußen, und ich habe noch einen weiten
Weg bis nach Hause. Ich wollte meinen Freund James nur um einen
Gefallen bitten.«
»Äh... ich bin überzeugt, daß mein Gatte Eurer
Hoheit mit Freuden zu Diensten wäre - wenn es in seiner Macht
steht«, antwortete ich bedächtig. Ich fragte mich, um welche Bitte
es sich
handelte. Vermutlich wollte er sich Geld leihen. In letzter Zeit
hatte Fergus von seinen Beutezügen eine Menge ungeduldiger Briefe
von Schneidern, Schuhmachern und anderen Gläubigern
mitgebracht.
Charles lächelte - ein überraschend charmantes
Lächeln.
»Ich weiß. Ich kann nicht mit Worten ausdrücken,
wie hoch ich die treuen Dienste Ihres Gemahls schätze. In der
desolaten Lage, in der ich mich befinde, wärmt mir der Anblick
meines ergebenen Untertanen das Herz.«
»Oh?«
»Was ich erbitten will, ist nicht schwer zu
erfüllen«, versicherte er mir. »Es geht nur darum, daß ich eine
kleine Investition gemacht habe - eine Schiffsladung
Portwein.«
»Wirklich?« sagte ich. »Wie interessant.« Murtagh
war am Morgen nach Lissabon aufgebrochen, die Fläschchen mit
Nesselsaft und Färberwurzel in der Tasche.
»Es ist eine unbedeutende Angelegenheit.« Mit einer
großartigen Handbewegung tat Charles die Unternehmung ab, in die er
jeden Pfennig, den er hatte borgen können, investiert hatte. »Aber
ich habe den Wunsch, daß mein Freund James es auf sich nimmt, sich
um die Fracht zu kümmern, sobald sie eintrifft. Es ziemt sich
nicht«, bei diesen Worten straffte er die Schultern und hob
unbewußt ein wenig die Nase, »wenn eine Person meines Standes als
Kaufmann auftritt.«
»Ja, ich verstehe, Hoheit«, entgegnete ich und biß
mir auf die Lippen. Ich fragte mich, ob er seinem Geschäftspartner
St. Germain diesen Standpunkt ebenfalls klargemacht hatte - denn
dieser betrachtete den jungen Thronprätendenten zweifellos als
Person von geringerem Ansehen als den gesamten französischen Adel,
und der stürzte sich ohne Skrupel ins Geschäftsleben, sobald sich
eine Gewinnchance bot.
»Habt Ihr diese Investition ganz allein getätigt,
Hoheit?« fragte ich unschuldig.
Er runzelte leicht die Stirn. »Nein, ich habe einen
Partner. Aber er ist Franzose. Viel lieber würde ich die weitere
Abwicklung des Geschäfts in die Hände eines Landsmanns legen.
Außerdem«, fügte er nachdenklich hinzu, »habe ich gehört, daß mein
lieber James ein überaus gerissener, fähiger Kaufmann ist.
Vielleicht ist er in der Lage, den Wert meiner Investition durch
einen umsichtigen Verkauf zu steigern.«
Ich wußte nicht, wer Charles von Jamies Fähigkeiten
erzählt hatte, aber der Betreffende hatte es offenbar versäumt, ihm
mitzuteilen, daß es wohl in ganz Paris keinen Weinhändler gab, den
St. Germain weniger schätzte. Doch wenn alles wie geplant
funktionierte, spielte das kaum eine Rolle. Und wenn nicht, dann
löste St. Germain wahrscheinlich alle unsere Probleme, indem er
Charles Stuart strangulierte, sobald er herausfand, daß dieser
seinen verhaßtesten Rivalen mit dem Verkauf der einen Hälfte seines
exklusiven Portweins beauftragt hatte.
»Ich bin sicher, mein Gatte wird sein Bestes tun,
die Waren Eurer Hoheit zum größtmöglichen Nutzen aller Beteiligten
zu veräußern«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Seine Hoheit dankte mir huldvoll, wie es sich für
einen Prinzen ziemte, der die Dienste eines treuen Untertanen in
Anspruch nahm. Er verbeugte sich, küßte mir höflich die Hand und
verabschiedete sich unter zahlreichen Dankesbezeugungen. Magnus
schloß, noch immer verstimmt und gänzlich unbeeindruckt, die Tür
hinter ihm.
Jamie kam erst nach Hause, als ich schon schlief,
aber beim Frühstück erzählte ich ihm von Charles’ Besuch und seinem
Anliegen.
»Ob Seine Hoheit es wohl dem Comte erzählen wird?«
bemerkte Jamie. Nachdem er seinen verdauungsfördernden Haferbrei
gelöffelt hatte, widmete er sich einem französischen Frühstück,
bestehend aus dampfender Schokolade und Brötchen mit Butter. Beim
Gedanken an die Reaktion des Comte verzog er den Mund zu einem
breiten Grinsen.
»Ich frage mich, ob es Majestätsbeleidigung ist,
wenn man einen Prinzen im Exil mit den Fäusten bearbeitet? Wenn
nicht, hoffe ich, daß Seine Hoheit Sheridan oder Balhaldy bei sich
hat, wenn St. Germain davon erfährt.«
Weitere Mutmaßungen in diese Richtung wurden
abgeschnitten, da in der Halle plötzlich Stimmen laut wurden. Dann
erschien Magnus in der Tür. Auf seinem Silbertablett lag ein
Brief.
»Verzeihung, Monsieur«, sagte er mit einer
Verbeugung. »Der Bote, der das gebracht hat, verlangt mit höchster
Dringlichkeit, daß Ihnen die Nachricht sofort übergeben
wird.«
Stirnrunzelnd nahm Jamie den Brief vom Tablett, riß
ihn auf und las.
»Der Teufel soll ihn holen!« rief er
ärgerlich.
»Was ist los? Es kann doch noch nicht von Murtagh
sein?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist vom Aufseher
des Lagerhauses.«
»Gibt’s Ärger an den Docks?«
Auf Jamies Gesicht spiegelten sich widerstreitende
Gefühle - Empörung und Belustigung.
»Das nicht gerade. Der Mann ist in Schwierigkeiten
geraten, und zwar in einem Bordell. Er bittet demütig um Vergebung,
hofft aber, daß ich es für angebracht halte, vorbeizukommen und ihm
aus der Klemme zu helfen. Mit anderen Worten«, fuhr er fort,
während er aufstand und seine Serviette zerknüllte, »er fragt an,
ob ich seine Rechnung bezahle.«
»Hast du das vor?« fragte ich amüsiert.
Mit einem verächtlichen Schnauben fegte er die
Krümel von seinem Schoß.
»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, wenn ich
das Lagerhaus nicht selbst beaufsichtigen will - und dafür habe ich
keine Zeit.« In Gedanken ging er die Arbeiten durch, die an diesem
Tag erledigt werden mußten. Die vorliegende Sache würde ihn nicht
wenig Zeit kosten, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich
Bestellungen, an den Docks warteten die Kapitäne und im Lagerhaus
die Fässer.
»Ich nehme Fergus mit für die Botengänge«, sagte er
resigniert. »Vielleicht kann er einen Brief zum Montmartre bringen,
wenn ich keine Zeit dafür finde.«
»Ein gutes Herz zählt mehr als eine Adelskrone«,
tröstete ich Jamie, der am Schreibtisch stand und wehmütig in den
Papieren blätterte, die sich dort stapelten.
»Ach ja? Und wer vertritt diese Meinung?«
»Alfred, Lord Tennyson, glaube ich. Ein Dichter.
Ich glaube nicht, daß er schon auf der Welt ist. Onkel Lamb hatte
ein Buch mit den Werken berühmter englischer Dichter. Soweit ich
mich erinnere, war auch was von Burns darunter - er ist Schotte«,
erklärte ich. »Er sagt: ›Freiheit und Whiskey gehören
zusammen.‹«
Jamie lachte. »Ob er ein Dichter ist, kann ich
nicht beurteilen, aber ein Schotte ist er bestimmt.« Lächelnd
beugte er sich zu mir herunter und küßte mich auf die Stirn. »Zum
Abendessen bin ich wieder da, mo duinne. Gehab dich
wohl.«
Ich verzehrte mein Frühstück und putzte auch noch
Jamies Toast weg, dann zog ich mich zurück, um mein
Morgennickerchen zu halten. Noch ein-, zweimal hatte ich leicht
geblutet, doch seit einigen Wochen war alles gut. Dennoch legte ich
mich, sooft es ging, ins Bett oder auf die Chaiselongue und ging
nur hinunter, um im Salon Besucher zu empfangen oder um mit Jamie
im Speisezimmer zu essen. Doch als ich mittags hinunterkam, stand
nur ein Gedeck auf dem Tisch.
»Ist der Herr noch nicht heimgekommen?« fragte ich
überrascht. Der ältliche Butler schüttelte den Kopf.
»Nein, Madame.«
»Nun, ich bin sicher, daß er bald kommt. Sorgen Sie
dafür, daß das Essen für ihn bereitsteht.« Ich war jedoch zu
hungrig, um auf Jamie zu warten.
Nach dem Essen legte ich mich wieder hin.
Gegenwärtig wurde in unserem Ehebett nur gelesen und geschlafen und
beides tat ich ausgiebig. Auf dem Bauch zu liegen war unmöglich und
die Rükkenlage unbequem, weil das Baby unruhig wurde. Folglich
legte ich mich auf die Seite und rollte mich um meinen rundlichen
Unterleib wie eine Cocktailkrabbe um eine Kaper. Ich schlief selten
tief, meist döste ich und ließ mich in Phantasien treiben, die sich
um die sanften Bewegungen des Kindes rankten.
In meinen Träumen fühlte ich Jamies Nähe, aber als
ich die Augen öffnete, war niemand im Raum, also schloß ich sie
wieder und fühlte mich eingelullt, als schwömme auch ich schwerelos
in einem warmen See.
Irgendwann am Spätnachmittag wurde ich durch ein
leises Klopfen an der Schlafzimmertür geweckt.
»Entrez«, sagte ich, während ich blinzelnd
aufwachte. Es war der Butler Magnus, der entschuldigend Besucher
meldete.
»Es ist die Princesse de Rohan, Madame. Die
Prinzessin wünschte zu warten, bis Sie erwacht sind, aber als auch
Madame d’Arbanville eintraf, dachte ich, vielleicht...«
»Schon gut Magnus.« Mühsam richtete ich mich auf
und ließ die Füße über den Rand des Bettes gleiten. »Ich
komme.«
Über den Besuch freute ich mich. Seit einem Monat
gaben wir keine Gesellschaften mehr, und ich vermißte das
geschäftige Treiben und die Gespräche, so albern sie manchmal
waren. Louise besuchte mich oft, um mich mit Neuigkeiten vom Hof zu
versorgen,
aber Marie d’Arbanville hatte ich schon seit einiger Zeit nicht
mehr gesehen. Ich fragte mich, was sie herführte.
Behäbig stieg ich die Treppe hinunter. Obwohl die
Tür zum Salon geschlossen war, konnte ich die Stimmen deutlich
hören.
»Glauben Sie, sie weiß schon Bescheid?«
Diese Frage - in einem Ton, der den pikantesten
Klatsch versprach - drang an mein Ohr, als ich den Salon gerade
betreten wollte.
Es war die Stimme von Marie d’ Arbanville. Aufgrund
der Stellung ihres erheblich älteren Mannes war sie in allen
Häusern gern gesehen. Selbst für französische Verhältnisse nahm sie
überaus regen Anteil am gesellschaftlichen Leben und war über jeden
Skandal im Raum von Paris informiert.
»Worüber soll sie Bescheid wissen?«
Die hohe, getragene Stimme von Louise vermittelte
das unerschütterliche Selbstbewußtsein der geborenen Aristokratin,
die es wenig kümmert, wer worüber Bescheid weiß.
»Oh, Sie haben es auch noch nicht gehört!« Marie
stürzte sich begeistert auf dieses Eingeständnis. »Meine Güte,
natürlich, ich habe es ja selbst erst vor einer Stunde
erfahren.«
Und läuft hierher, um es mir brühwarm zu erzählen,
dachte ich. Was immer »es« sein mochte, ich hielt es für besser, in
der Halle zu bleiben und die unbeschönigte Version zu hören.
»Es geht um den Herrn von Broch Tuarach«, erklärte
Marie. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich vorbeugte, wie ihre
grünen Augen hin und her huschten und vor Eifer funkelten. »Heute
morgen hat er einen Engländer zum Duell gefordert - wegen einer
Hure!«
»Was?« Louises erstaunter Ausruf übertönte mein
Keuchen. Ich klammerte mich an dem Tischchen fest, neben dem ich
stand, und vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken.
»O ja!« rief Marie. »Jacques Vincennes war dabei.
Er hat meinem Mann alles erzählt! Es war in diesem Bordell unten am
Fischmarkt - stellen Sie sich vor, zu so früher Stunde ein Bordell
aufzusuchen! Männer sind wirklich seltsam. Auf jeden Fall hat
Jacques mit Madame Elise, der Inhaberin des Etablissements, etwas
getrunken, als plötzlich ein entsetzlicher Schrei aus dem oberen
Stockwerk drang, und dann gab es ein Gepolter und einen heftigen
Wortwechsel.«
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen - und die
dramatische Wirkung zu steigern. Ich hörte, wie ein Getränk
eingeschenkt wurde.
»Jacques rannte natürlich zur Treppe - zumindest
behauptet er das. Ich vermute, daß er sich in Wirklichkeit hinter
dem Sofa versteckt hat, er ist ein schrecklicher Feigling - und
nach weiterem Lärmen und Schreien tat es einen großen Schlag, und
ein englischer Offizier polterte die Treppe hinunter, nur halb
bekleidet, ohne Perücke - er torkelte gegen die Wand. Und wer
erscheint oben an der Treppe wie der Rachegott persönlich, niemand
anders als unser petit James!«
»Nein! Und ich hätte geschworen, daß er der letzte
wäre... aber fahren Sie fort! Was geschah dann?«
Eine Teetasse wurde behutsam auf dem Unterteller
abgesetzt, dann erklang wieder die Stimme Maries, die vor Aufregung
jede Mäßigung vergaß.
»Als der Engländer wie durch ein Wunder heil unten
ankam, drehte er sich um und blickte zu dem Herrn von Tuarach
hinauf. Jacques sagt, für einen Mann, der gerade mit offenem
Hosenlatz die Treppe hinuntergestoßen worden ist, habe er große
Selbstbeherrschung bewiesen. Er lächelte - nicht freundlich, wissen
Sie, eher gehässig - und sagte: ›Gewalt wäre nicht nötig gewesen,
Fraser. Sie hätten doch gewiß warten können, bis Sie dran sind? Ich
möchte meinen, daß Sie zu Hause gut bedient werden. Aber manchen
Leuten macht es mehr Spaß, wenn sie dafür bezahlen.‹«
Entrüstet rief Louise: »Wie schrecklich! Die
canaille! Aber natürlich kann den Herrn von Tuarach eine
solche Beleidigung nicht treffen...« Ich merkte an ihrer Stimme,
wie Freundschaft und Klatschsucht miteinander rangen. Es
überraschte mich nicht, daß die Klatschsucht siegte.
»Der Herr von Broch Tuarach kann die Gunst seiner
Frau zur Zeit nicht genießen. Sie ist in anderen Umständen, und die
Schwangerschaft ist gefährdet. Daher befriedigt er seine
Bedürfnisse in einem Bordell, wie es sich für einen Ehrenmann
geziemt. Aber fahren Sie fort, Marie! Was geschah dann?«
»Nun gut.« Marie schöpfte Atem, als sie sich dem
Höhepunkt ihrer Geschichte näherte. »Der Herr von Tuarach rannte
die Treppe hinunter, packte den Engländer am Hals und schüttelte
ihn wie eine Ratte!«
»Non! Ce n’est pas vrai!«
»Aber ja! Drei Diener von Madame Elise waren nötig,
um ihn zu bändigen - ein wunderbar starker Mann, nicht wahr? So
wild und ungestüm!«
»Ja, und weiter?«
»Ach ja, Jacques sagt, der Engländer habe nach Luft
gerungen. Dann richtete er sich auf und sagte zum Herrn von
Tuarach: ›Schon zweimal hätten Sie mich beinah umgebracht, Fraser.
Vielleicht gelingt es Ihnen eines Tages.< Und der Herr von
Tuarach fluchte in dieser schrecklichen schottischen Sprache - ich
verstehe kein Wort, Sie etwa? -, befreite sich aus dem Griff der
Männer, die ihn hielten, schlug den Engländer mit der Hand ins
Gesicht und sagte: ›Morgen bei Tagesanbruch sind Sie ein toter
Mann!< Damit drehte er sich um, eilte wieder die Treppe hinauf,
und der Engländer ging. Jacques meint, er sei kreidebleich gewesen
- kein Wunder! Stellen Sie sich vor!«
Auch ich stellte es mir vor.
»Geht es Ihnen gut, Madame?« Magnus’ besorgte
Stimme übertönte Louises Ausrufe des Erstaunens. Hilfesuchend
streckte ich die Hand aus. Er nahm sie sofort und stützte mit der
anderen Hand meinen Ellbogen.
»Nein. Es geht mir nicht gut. Bitte... sagen Sie es
den Damen?« Kraftlos deutete ich auf den Salon.
»Selbstverständlich, Madame. Sogleich, aber zuerst
bringe ich Sie auf Ihr Zimmer. Hier entlang, chére
Madame...« Er führte mich die Treppe hinauf, wobei er tröstende
Worte murmelte, und geleitete mich zur Chaiselongue im
Schlafzimmer. Dann ließ er mich allein, versprach aber, sofort ein
Mädchen heraufzuschicken.
Ich wartete jedoch nicht ab, bis Hilfe kam. Nachdem
ich den ersten Schock überwunden hatte, fand ich die Kraft
aufzustehen. Ich tastete mich zur Kommode, auf der mein kleiner
Medizinkasten stand. Zwar rechnete ich nicht damit, jetzt noch
ohnmächtig zu werden, aber ich besaß ein Fläschchen mit Riechsalz,
das ich für den Notfall zur Hand haben wollte.
Doch als ich den Deckel öffnete, erstarrte ich.
Einen Augenblick lang weigerte sich mein Verstand zu registrieren,
was meine Augen sahen: das zusammengefaltete Blatt Papier, das
sorgfältig zwischen die Fläschchen geklemmt war. Meine Finger
zitterten, als ich es herausholte.
Es tut mir leid. Kühn und schwarz standen
die Worte mitten auf dem Papier. Der Buchstabe J war ebenso
sorgfältig daruntergesetzt. Aber darunter waren hastig noch zwei
Worte hingekritzelt worden, ein verzweifeltes Postskriptum: Ich
muß!
»Du mußt«, flüsterte ich vor mich hin, dann gaben
meine Knie nach. Als ich auf dem Boden lag, sah ich die
Holztäfelung der Decke über mir flimmern. Da fiel mir ein, daß ich
bisher immer angenommen hatte, die Neigung der Damen des
achtzehnten Jahrhunderts, in Ohnmacht zu fallen, sei auf zu eng
geschnürte Mieder zurückzuführen. Jetzt glaubte ich eher, daß der
Schwachsinn der Männer des achtzehnten Jahrhunderts dafür
verantwortlich war.
In nächster Nähe vernahm ich einen Schrei des
Entsetzens, dann hoben mich hilfreiche Hände auf; unter mir spürte
ich eine tröstlich weiche Matratze und auf der Stirn und den
Handgelenken kühle, nach Essig riechende Tücher.
Bald war ich wieder Herrin meiner Sinne, verspürte
aber keine Lust zu sprechen. Also versicherte ich den Mädchen, es
gehe mir gut, scheuchte sie aus dem Zimmer und lehnte mich in die
Kissen zurück, um nachzudenken.
Natürlich war es Jack Randall, und Jamie hatte sich
aufgemacht, ihn zu töten. Das war der einzige klare Gedanke, den
ich in diesem Sumpf aus Entsetzen und wirren Vermutungen fassen
konnte. Warum aber? Was konnte ihn bewegen, das Versprechen zu
brechen, das er mir gegeben hatte?
Ich versuchte, mir einen Reim auf die Ereignisse zu
machen, von denen Marie - wenn auch aus dritter Hand - berichtet
hatte. Dahinter steckte mehr als nur der Schreck über eine
unerwartete Begegnung. Ich kannte den Hauptmann, und zwar
wesentlich besser, als mir angenehm war. Daher konnte ich mir
ziemlich sicher sein, daß er die üblichen Dienstleistungen eines
Bordells nicht in Anspruch nehmen würde. Sich mit einer Frau zu
vergnügen entsprach nicht seinem Naturell. Was er genoß - was er
brauchte -, waren Angst, Schmerz und Demütigung.
Diese Handelswaren waren natürlich ebenfalls
käuflich, wenn auch zu einem etwas höheren Preis. Bei meiner Arbeit
im Höpital des Anges hatte ich genug gesehen, um zu wissen, daß es
Putains gab, deren wichtigstes Kapital nicht zwischen ihren
Beinen lag, sondern in ihren starken Knochen und ihrer teuren,
verletzlichen Haut, die leicht blaue Flecken bekam, bestand.
Und wenn Jamie, dessen eigene Haut von Randalls
Liebesbezeugungen vernarbt war, auf den Hauptmann gestoßen war,
während dieser sich mit einer Dame des Etablissements auf solche
Weise vergnügte, dann hätte ihn das alle Versprechungen vergessen
lassen können. Unter der linken Brustwarze hatte er eine kleine,
weiße Narbe - da hatte er sich das Brandmal von Jonathan Randalls
Siegelring aus der Haut geschnitten. Die maßlose Wut, die ihn dazu
getrieben hatte, sich lieber selbst zu verletzen, als diese
Demütigung zu tragen, konnte leicht wieder hervorbrechen, um seinen
Peiniger - und dessen unselige Nachkommen - zu vernichten.
»Frank«, flüsterte ich, und meine linke Hand
umschloß unwillkürlich den goldenen Ehering. »O mein Gott, Frank.«
Für Jamie war Frank nicht mehr als ein Geist, die verschwommene
Möglichkeit einer Zuflucht für mich. Für mich war Frank der Mann,
mit dem ich gelebt und mein Bett geteilt - und den ich schließlich
verlassen hatte, um bei Jamie Fraser zu bleiben.
»Ich kann nicht«, flüsterte ich in die Leere, die
mich umgab. »Ich kann es nicht zulassen.«
Das Licht des Nachmittags wich den grauen Schatten
der Dämmerung. Es herrschte eine beklemmende
Weltuntergangsstimmung. Morgen bei Tagesanbruch sind Sie ein
toter Mann. Jamie heute nacht zu suchen war ein aussichtsloses
Unterfangen. Ich wußte, daß er nicht in die Rue Tremoulins
zurückkehren würde, sonst hätte er mir keine Nachricht
hinterlassen. Er würde es nicht fertigbringen, die ganze Nacht
neben mir zu liegen - im Bewußtsein dessen, was er am Morgen
vorhatte. Zweifellos war er in einer Taverne eingekehrt, um sich
dort ungestört auf den Akt der Gerechtigkeit vorzubereiten, den zu
vollbringen er sich geschworen hatte.
Ich glaubte zu wissen, wo die Hinrichtung
stattfinden sollte. Da er sich nur allzugut an sein erstes Duell
erinnerte, hatte sich Jamie die Haare kurzgeschoren. Und natürlich
würde ihm auch wieder einfallen, welcher Ort sich für die
Austragung eines illegalen Duells anbot. Der Bois de Boulogne,
unweit des Pfades der Sieben Heiligen. Die Bäume des Wäldchens
standen so dicht, daß die Kämpfenden nicht fürchten mußten,
entdeckt zu werden. Auf einer schattigen Lichtung würden sich
morgen früh James Fraser und Jack Randall gegenüberstehen. Und ich
würde dabeisein.
Ich lag auf dem Bett, ohne mich auszuziehen oder
zuzudecken. Die Dämmerung ging über in schwarze Nacht, und ich
wußte, daß
ich keinen Schlaf finden würde. Das einzige, was mich tröstete,
waren die Bewegungen meines Kindes, während mir das Echo von Jamies
Worten in den Ohren klang: Morgen bei Tagesanbruch sind Sie ein
toter Mann.
Der Bois de Boulogne war ein kleines Gehölz, fast
noch ein Urwald, der wie ein Fremdkörper am Rande von Paris lag. Es
hieß, in den Tiefen des Waldes gebe es nicht nur Füchse und Dachse,
sondern auch Wölfe, aber dadurch ließen sich die Liebespaare nicht
abschrecken, die im Schutz der Bäume schäkerten. Der Wald bot
Zuflucht vom Lärm und Schmutz der Stadt, und nur seine Lage
verhinderte, daß sich der Adel dort tummelte. Er wurde vor allem
von den Anwohnern genutzt, die im Schatten der mächtigen Eichen und
der hellen Birken Erholung suchten - und von all jenen, die
ungestört sein wollten.
Der Wald war klein, aber doch zu groß, um ihn auf
der Suche nach einer Lichtung, die sich für ein Duell eignete, zu
Fuß zu durchstreifen. Während der Nacht hatte es zu regnen
begonnen, und das Licht der Dämmerung wurde durch Wolken gedämpft.
Der Wald schien zu wispern, das leise Trommeln des Regens auf den
Blättern verschmolz mit dem gedämpften Rascheln der belaubten
Zweige.
Die Kutsche hielt auf dem Weg, der durch den Wald
führte, bei einer Ansammlung baufälliger Häuser. Ich hatte dem
Kutscher genaue Anweisungen gegeben; er schwang sich von seinem
Sitz, band die Pferde fest und verschwand in einem der Häuser. Die
Leute, die am Waldrand wohnten, wußten, was dort vor sich ging. Es
konnte nicht allzu viele Plätze geben, die sich für ein Duell
eigneten, und diese waren ihnen sicherlich bekannt.
Ich lehnte mich zurück und zog den schweren Umhang
enger um mich. Die Erschöpfung einer schlaflosen Nacht zehrte an
mir, und die Furcht lag mir bleischwer im Magen. Und da war auch
der schwelende Zorn, den ich beiseite schob, damit er mir bei
meiner Aufgabe nicht in die Quere kam.
Doch die Wut stieg immer wieder auf, wenn ich nicht
auf der Hut war. Wie konnte er das tun? Ich sollte nicht hier sein,
ich sollte zu Hause im Bett neben Jamie liegen, ruhig und geborgen.
Ich verstand, daß er aufgebracht war. Aber es stand ein
Menschenleben auf dem Spiel, um Himmels willen. Wie konnte er
seinen verdammten
Stolz wichtiger nehmen als das? Und einfach verschwinden, ohne ein
Wort der Erklärung, so daß ich von Klatschbasen aus der
Nachbarschaft erfahren mußte, was passiert war?
»Du hast es mir versprochen, Jamie, verdammt sollst
du sein, du hast es mir versprochen!« flüsterte ich. Der
Wald war still, tropfnaß, nebelverhüllt. Waren sie schon da? Würden
sie sich hier treffen? Hatte ich mich geirrt?
Der Kutscher kam zurück in Begleitung eines
vielleicht vierzehnjährigen Jungen, der behende auf den Kutschbock
sprang und mit einer ausladenden Handbewegung nach links wies. Der
Kutscher ließ die Peitsche knallen und schnalzte mit der Zunge, so
daß die Pferde in einen langsamen Trab fielen, und wir bogen in den
Weg ein, der in die Schatten des erwachenden Waldes führte.
Zweimal hielten wir an, der Junge sprang vom
Kutschbock und verschwand im Unterholz, kam jedoch nach kurzer Zeit
wieder und schüttelte den Kopf. Als er beim drittenmal
wiederkehrte, stand ihm die Erregung so deutlich ins Gesicht
geschrieben, daß ich den Wagenschlag schon geöffnet hatte, bevor
der Junge dem Kutscher etwas zurufen konnte.
Das Geld hatte ich schon in der Hand. Ich warf es
ihm zu, packte ihn am Ärmel und sagte: »Zeig mir, wo sie sind!
Rasch, beeil dich!«
Die Zweige, die mir ins Gesicht schlugen, bemerkte
ich ebensowenig wie die Nässe, die in meine Kleider drang, als ich
die Blätter streifte.
Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Sie hatten
bereits angefangen. Das Klirren der Waffen wurde durch das feuchte
Laubwerk gedämpft, war aber deutlich vernehmbar. Kein Vogel sang an
diesem Morgen, doch die tödliche Stimme des Kampfes klang mir in
den Ohren.
Die beiden fochten im Hemd; sie waren vom Regen
durchnäßt, so daß sich Schultern und Rücken deutlich
abzeichneten.
Jamie hatte gesagt, er sei der bessere Kämpfer.
Vielleicht war das richtig, aber auch Jonathan Randall verstand es,
das Schwert zu führen. Geschmeidig wie eine Schlange wich er den
Schlägen aus, sein Schwert blitzte auf wie ein silberner Reißzahn.
Jamie war nicht minder schnell, verblüffend anmutig für seine
Größe, leichtfüßig und sicher. Wie angewurzelt stand ich da und
wagte nicht, nach Jamie zu rufen, um ihn nicht abzulenken. Hiebe
austeilend und parierend, tänzelten sie behende über den weichen
Boden.
Reglos beobachtete ich sie. Vor Tagesanbruch war
ich aufgebrochen,
um sie aufzuspüren und aufzuhalten. Und jetzt, wo ich sie gefunden
hatte, durfte ich nicht eingreifen, weil eine Störung
verhängnisvoll sein konnte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als
abzuwarten, welcher von beiden sterben würde.
Randall hob sein Schwert, um einen Schlag
abzuwehren, war aber nicht schnell genug - auf die Wucht des
Hiebes, der ihm die Waffe aus der Hand schlug, war er nicht
gefaßt.
Ich öffnete den Mund, um zu schreien. Ich wollte
Jamies Namen rufen, um ihn jetzt zu bremsen, in dem Augenblick, der
mir noch blieb, zwischen der Entwaffnung des Gegners und dem
Todesstoß, der folgen mußte. Tatsächlich kam ein Schrei über meine
Lippen, aber er klang schwach und erstickt. Während ich dastand und
den Kampf beobachtete, fuhr mir ein stechender Schmerz durch den
Rücken. Ich hatte das Gefühl, daß etwas in mir brach. Blind tastend
griff ich nach dem nächstbesten Zweig. Ich sah Jamies Gesicht, von
stillem Jubel erfüllt, und mir wurde klar, daß er durch den Nebel
der Gewalt, der ihn umgab, nichts hörte und nichts sah. Randall,
vor der erbarmungslosen Klinge zurückweichend, rutschte auf dem
nassen Gras aus und ging in die Knie. Er versuchte aufzustehen, was
ihm auf dem glitschigen Boden nicht gelang. Sein Halstuch war
zerrissen und sein Hals entblößt.
Wie durch einen Nebel sah ich Jamies Schwert
niedersausen, elegant und gnadenlos, kalt wie der Tod. Die Spitze
berührte die Taille am Bund der Rehlederhose, stach zu und fuhr mit
einer raschen Drehbewegung nach unten, so daß sich das Leder
tiefrot verfärbte.
Blut strömte heiß über meine Schenkel, und die
Kälte drang in meinen Körper ein, bis in die Knochen. Die
Verbindung zwischen Becken und Rücken schien zu zerbrechen. Ich
spürte die Spannung mit jeder Welle des Schmerzes, die mein
Rückgrat hinunterfuhr und im Unterleib explodierte, ein
zerstörerischer Schlag der verbrannte Erde zurückließ.
Mit meinem Körper schien auch mein Verstand in die
Brüche zu gehen. Ich sah nichts, wußte aber nicht, ob ich die Augen
geöffnet oder geschlossen hatte. Alles löste sich in einem
schwarzen Wirbel auf, in dem hie und da Muster aufblitzten.
Der Regen prasselte auf mein Gesicht, meinen Hals
und meine Schultern. Jeder Tropfen prallte kalt auf, dann wurde er
zu einem winzigen, warmen Strom, der über meine ausgekühlte Haut
rann.
Diese Wahrnehmung war überdeutlich und losgelöst von dem
quälenden, wellenartigen Schmerz in meinem Unterleib. Ich zwang
mich, meine Gedanken darauf zu konzentrieren und die leise,
nüchterne Stimme in meinem Innern zu überhören, die Stimme, die
klang, als diktiere sie Stichpunkte für ein Krankenblatt: »Du hast
eine Blutung. Nach der Blutmenge zu urteilen, ist die Plazenta
gerissen. In der Regel tödlich. Der Blutverlust erklärt das taube
Gefühl in Händen und Füßen und die beeinträchtigte Sehkraft. Es
heißt, das Gehör ist die letzte Sinneswahrnehmung, die schwindet.
Anscheinend stimmt das.«
Ob es mir nun als letzte Sinneswahrnehmung
geblieben war oder nicht, hören konnte ich noch. Genauer gesagt,
ich hörte Stimmen, die meisten aufgeregt, manche um Ruhe bemüht,
alle Französisch sprechend. Ein Wort konnte ich hören und verstehen
- meinen Namen, der wie aus weiter Ferne immer wieder gerufen
wurde. »Claire! Claire!«
»Jamie«, wollte ich sagen, aber meine Lippen waren
steif und gefühllos vor Kälte. Rühren konnte ich mich nicht. Das
Durcheinander um mich herum beruhigte sich allmählich; Leute trafen
ein, die wenigstens bereit waren zu handeln, als wüßten sie, was zu
tun war.
Vielleicht wußten sie es wirklich. Die durchtränkte
Masse meines Rockes wurde sanft von mir genommen und statt dessen
ein dickes Stoffbündel zwischen meine Beine geschoben. Hilfreiche
Hände drehten mich auf die linke Seite und zogen meine Knie an die
Brust hoch.
»Bringt sie ins Spital«, schlug jemand vor.
»So lange lebt sie nicht mehr«, meinte
pessimistisch ein anderer. »Wir können ebensogut noch ein paar
Minuten warten und dann gleich den Leichenkarren bestellen.«
»Nein«, beharrte ein dritter. »Die Blutung läßt
nach. Vielleicht überlebt sie. Außerdem kenne ich sie, ich habe sie
im Hôpital des Anges gesehen. Bringt sie zu Mutter
Hildegarde.«
Ich nahm alle Kraft zusammen, die mir geblieben
war, und flüsterte: »Mutter.« Dann gab ich den Kampf auf und
überließ mich der Dunkelheit!