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Ein ruheloser Geist und ein
Krokodil
Die täglichen Pflichten in Jareds Handelskontor
hielten Jamie in Atem, und da auch noch Audienzen beim König
dazukamen, führte er ein recht erfülltes Leben. Gleich nach dem
Frühstück brach er mit Murtagh zu den Lagerhäusern auf, um die
neuen Lieferungen zu überwachen, die Bestandslisten zu ergänzen und
die Docks an der Seine sowie seiner Beschreibung nach äußerst
zweifelhafte Tavernen zu besuchen.
»Wenigstens hast du Murtagh bei dir«, stellte ich
beruhigt fest. »Und mitten am Tag wird man euch wohl kaum etwas
antun.« Zwar wirkte der kleine Clansmann, der sich äußerlich nur
durch den karierten unteren Teil seiner Kleidung von den Halunken
im Hafen unterschied, nicht besonders beeindruckend, aber seit ich
mit ihm durch halb Schottland geritten war, um Jamie aus dem
Wentworth-Gefängnis zu befreien, gab es niemanden, dem ich das Wohl
meines Mannes lieber anvertraut hätte.
Nach dem Mittagessen machte Jamie gewöhnlich seine
Runde - gesellschaftliche und geschäftliche Besuche, und zunehmend
war beides miteinander verquickt. Vor dem Abendessen zog er sich
dann für ein, zwei Stunden in sein Arbeitszimmer zurück und
vertiefte sich in die Geschäftsbücher. Er hatte wirklich viel zu
tun.
Ich nicht. Nach ein paar Tagen höflicher Rangeleien
mit Madame Vionnet, der Köchin, war klar, wer das Regiment führte -
ich war es nicht. Jeden Morgen kam Madame in meinen Salon, um mit
mir den Speiseplan und die Einkaufsliste des Tages durchzusprechen
- Obst, Gemüse, Butter und Milch wurden jeden Morgen ins Haus
geliefert; von einem Straßenhändler bezogen wir frischen Fisch aus
der Seine und Muscheln. Der Form halber sah ich mir die Liste an,
segnete sie ab, lobte das Abendessen vom Tag zuvor, und damit hatte
es sich. Gelegentlich wurde ich gebeten,
den Wäscheschrank oder die Vorratskammer mit einem der Schlüssel
an meinem großen Bund zu öffnen, doch meist blieb ich mir selbst
überlassen, bis es Zeit wurde, sich zum Abendessen
umzuziehen.
Das gesellschaftliche Leben nahm seinen Fortgang,
als wäre Jared noch hier. Ich verspürte nach wie vor eine gewisse
Scheu, größere Einladungen zu geben, doch in der Regel hatten wir
abends ein paar Gäste zum Essen: Adelige, Chevaliers mit ihren
Damen, verarmte Jakobiten und wohlhabende Kaufleute mit ihren
Ehefrauen.
Ich stellte jedoch bald fest, daß Essen und Trinken
und die dazugehörigen Vorbereitungen mich nicht ausfüllten. Deshalb
setzte ich Jamie so lange zu, bis er einwilligte, daß ich ihm zur
Hand ging und von den Eintragungen in den Geschäftsbüchern
Abschriften anfertigte. »Das ist jedenfalls besser, als wenn du an
dir herumkaust«, meinte er mit einem kritischen Blick auf meine
Fingernägel. »Außerdem hast du eine schönere Handschrift als die
Angestellten im Lagerhaus.«
Und so befand ich mich in Jamies Arbeitszimmer,
emsig über die riesigen Bücher gebeugt, als uns Mr. Silas Hawkins
einen Besuch abstattete, um zwei Fässer flämischen Weinbrands zu
bestellen. Der gesetzte, wohlhabende Engländer, ein Emigrant wie
Jared, hatte sich auf den Export französischen Weinbrands in seine
Heimat spezialisiert.
Ein Kaufmann, der wie ein Abstinenzler aussah,
hätte Wein und Schnaps in größeren Mengen wahrscheinlich nur unter
erheblichen Schwierigkeiten an den Mann gebracht. Mr. Hawkins war
in dieser Hinsicht vom Glück begünstigt, denn er verfügte über die
geröteten Wangen und das vergnügte Lächeln eines Saufbruders. Jamie
hatte mir allerdings versichert, daß der Mann außer bodenständigem
Ale nichts anrührte. In den Tavernen, die er besuchte, war er
allerdings für seinen überaus gesegneten Appetit berühmt. Hinter
der glatten Jovialität, mit der er seine Transaktionen schmierte,
lag jedoch durchaus geschäftliche Berechnung.
»Meine besten Lieferanten, aufs Wort«, versicherte
er uns, während er die große Bestellung schwungvoll unterzeichnete.
»Zuverlässig und immer beste Qualität. Ihr Cousin wird mir fehlen«,
sagte er und fuhr mit einer Verbeugung zu Jamie fort: »Doch er
hätte keinen besseren Stellvertreter wählen können. Nun, das ist
echt
schottisch - immer schön darauf achten, daß das Geschäft in der
Familie bleibt.«
Er ließ den Blick über Jamies Kilt gleiten, dessen
Fraser-Rot sich leuchtend von der dunklen Holzvertäfelung des
Arbeitszimmers abhob.
»Gerade aus Schottland eingetroffen?« fragte Mr.
Hawkins, während er suchend auf seine Tasche klopfte.
»Nein, ich bin schon seit längerem in Frankreich«,
erwiderte Jamie lächelnd, aber abschließend. Er nahm den Federkiel,
den Mr. Hawkins ihm reichte. Als er feststellte, daß er stumpf war,
holte er sich aus dem Bündel Gänsefedern, die in einem Glas auf dem
Schreibtisch standen, einen neuen.
»An Ihrer Kleidung sehe ich, daß Sie aus den
Highlands stammen. Vielleicht könnten Sie mich einweihen, welche
Gefühle gegenwärtig in diesem Teil des Landes vorherrschen. Sie
wissen doch, man hört so viele Gerüchte.« Auf eine einladende
Handbewegung Jamies hin ließ er sich in einen Sessel sinken und
beugte das runde, rosige Gesicht interessiert über die dicke
Lederbörse, die er aus der Tasche gezogen hatte.
»Gerüchte - nun, die gibt es in Schottland immer.«
Jamie war angelegentlich damit beschäftigt, seinen Federkiel zu
schärfen. »Und Gefühle? Nun, wenn Sie die Politik meinen, bin ich
leider nicht auf dem neuesten Stand.« Mit einem lauten Schnipsen
kürzte er den dicken Federkiel um ein ganzes Stück.
Mr. Hawkins förderte eine Anzahl Silbermünzen aus
seinem Beutel zutage, die er säuberlich aufstapelte.
»Wahrhaftig?« fragte er geistesabwesend. »Dann sind
Sie der erste Hochlandschotte, der es so hält.«
Jamie hatte den Federkiel mittlerweile geschärft
und hielt ihn in die Höhe, um sein Werk zu begutachten.
»Hmm?« fragte er vage. »Nun, anderes ist mir
wichtiger. Sie wissen ja selbst, wieviel Zeit es verschlingt, ein
Geschäft wie dieses zu führen.«
»Wie wahr!« Mr. Hawkins zählte die Münzen auf
seinem Stapel noch einmal durch. Dann nahm er eine fort und
ersetzte sie durch zwei kleinere. »Charles Stuart soll in Paris
eingetroffen sein.« Sein rundes Säufergesicht zeigte nicht mehr als
höfliches Interesse, doch die Augen in den Fettpolstern funkelten
wachsam.
»Ja, ja«, murmelte Jamie. Sein Ton ließ offen, ob
er das Gerücht
bestätigen oder höfliche Gleichgültigkeit ausdrücken wollte. Vor
ihm lag ein Stapel mit Bestellungen, und jetzt machte er sich
daran, die Bögen mit übertriebener Sorgfalt zu unterzeichnen. Er
malte die Buchstaben mehr, als daß er sie schrieb. Jamie, ein
Linkshänder, den man als Junge dazu gezwungen hatte, die rechte
Hand zu benutzen, hatte immer Probleme mit den Buchstaben, doch nur
selten machte er solch ein Aufhebens darum.
»Demnach stehen Sie in dieser Angelegenheit nicht
auf seiten Ihres Vetters?« Hawkins setzte sich zurück und
betrachtete Jamies Scheitel, der naturgemäß nicht sehr mitteilsam
war.
»Was kümmert Sie das, Sir?« Jamie hob den Kopf und
blickte Mr. Hawkins herausfordernd an. Der behäbige Kaufmann
erwiderte den Blick einen Moment lang, dann winkte er ab.
»Gar nicht. Ganz und gar nicht«, erwiderte er
geschmeidig. »Aber ich weiß um die jakobitischen Sympathien Ihres
Cousins, denn er macht schließlich keinen Hehl daraus. Ich habe
mich nur gefragt, ob alle Schotten einer Meinung sind, wenn es um
den Thronanspruch der Stuarts geht.«
»Wenn Sie die Schotten aus dem Hochland kennen
würden«, erwiderte Jamie trocken, während er eine Abschrift der
Bestellung herüberreichte, »dann wüßten Sie, daß sich nur selten
zwei finden lassen, die sich in mehr Punkten einig sind als der
Farbe des Himmels. Und selbst das ist gelegentlich eine
Streitfrage.«
Mr. Hawkins lachte so herzlich, daß sein runder
Bauch unter der Weste bebte. Er steckte den zusammengefalteten
Bogen in die Tasche. Da Jamie an weiteren Fragen dieser Art nicht
gelegen schien, schaltete ich mich ein und bot Madeira und Kekse
an.
Einen Moment lang schien Mr. Hawkins in Versuchung
zu geraten, doch dann schüttelte er bedauernd den Kopf und schob
den Sessel zurück.
»Nein, vielen Dank, Madam. Die Arabella
läuft diesen Donnerstag ein, und ich muß nach Calais fahren und sie
empfangen. Aber bevor ich in die Kutsche steige, erwartet mich noch
ein Berg von Arbeit.« Er deutete auf den Stapel von Bestellungen
und Quittungen, die er aus der Tasche gezogen hatte, legte Jamies
Quittung obenauf und schob alles zurück in eine dicke
Brieftasche.
»Immerhin«, sagte er, und sein Gesicht hellte sich
auf, »kann ich auf der Reise ein paar Geschäfte tätigen. Ich werde
den Herbergen und Gaststätten auf dem Weg nach Calais einen Besuch
abstatten.«
»Wenn Sie wirklich alle Tavernen zwischen Paris und
Calais besuchen wollen, werden Sie Calais erst im nächsten Monat
erreichen«, bemerkte Jamie. Er zog seine eigene Geldbörse aus der
Felltasche und ließ den Stapel Silbermünzen hineinfallen.
»Da haben Sie nur allzu recht, mein Herr«, meinte
Mr. Hawkins mit einem bedauernden Stirnrunzeln. »Ich fürchte, ich
muß die eine oder andere auslassen, um sie mir auf dem Rückweg
vorzunehmen.«
»Aber Sie können doch sicher einen Stellvertreter
nach Calais schicken, wenn Ihre Zeit so kostbar ist«, schlug ich
vor.
Er rollte mit den Augen und verzog den Mund zu
einem Ausdruck des Bedauerns, soweit dessen Form dies zuließ.
»Wenn das nur möglich wäre, Madam! Doch die
Arabella trägt eine Fracht, die ich keinem meiner
Mitarbeiter anvertrauen kann. Meine Nichte Mary ist an Bord«,
erklärte er. »Während wir hier sitzen, ist sie bereits auf dem Weg
zur französischen Küste. Sie ist fünfzehn und noch niemals von zu
Hause fortgewesen. Da kann ich sie die Reise nach Paris wohl kaum
allein machen lassen.«
»Gewiß nicht«, gab ich ihm höflich recht. Mary
Hawkins. Ein Allerweltsname, und doch kam er mir bekannt vor. Etwas
Bestimmtes verband ich damit allerdings nicht. Ich rätselte noch
daran herum, als Jamie Mr. Hawkins zur Tür geleitete.
»Ich hoffe, daß Ihre Nichte eine angenehme Reise
hat«, sagte er höflich. »Soll sie hier ein Pensionat besuchen? Oder
lediglich ihre Verwandten?«
»Heiraten soll sie«, erklärte Mr. Hawkins mit
Genugtuung. »Meinem Bruder ist es gelungen, für sie eine höchst
vorteilhafte Verbindung mit einem Angehörigen des französischen
Adels zu arrangieren.« Stolz schwoll seine Brust, so daß die
Goldknöpfe seines Rockes abzuspringen drohten. »Mein älterer Bruder
ist nämlich ein Baronet, müssen Sie wissen.«
»Mit fünfzehn?« fragte ich bedrückt. Frühe Heiraten
waren nichts Ungewöhnliches, aber in diesem Alter? Ich hatte mit
neunzehn geheiratet und dann noch einmal mit siebenundzwanzig, und
beim zweiten Mal war ich um einiges klüger gewesen.
»Wann... äh... hat Ihre Nichte denn die
Bekanntschaft ihres Verlobten gemacht?« fragte ich
vorsichtig.
»Sie kennt ihn noch gar nicht. Um ehrlich zu sein«,
Mr. Hawkins beugte sich vor und legte den Finger an die Lippen,
»weiß sie noch
nichts von der Heirat. Die Verhandlungen sind nämlich noch nicht
ganz abgeschlossen.«
Entsetzt öffnete ich den Mund, und mir lag eine
scharfe Entgegnung auf der Zunge, doch Jamie griff mich warnend am
Arm.
»Nun, wenn dieser Herr dem Adel angehört, werden
wir Ihre Nichte wahrscheinlich demnächst bei Hof antreffen«,
stellte er fest, während er mich unerbittlich Richtung Tür schob.
Mr. Hawkins mußte beiseite springen, um nicht von mir überrannt zu
werden. Ohne sich davon stören zu lassen, schwatzte er
weiter.
»Das steht zu vermuten. Ich würde es als große Ehre
betrachten, wenn Sie und Ihre Gattin meiner Nichte ihre Aufwartung
machen. Sicher wäre ihr die Gesellschaft einer Landsmännin eine
große Freude«, fügte er mit einem öligen Lächeln an meine Adresse
hinzu. »Aber denken Sie bitte nicht, daß ich unsere
Geschäftsbeziehung ausnutzen möchte.«
Nein, ganz gewiß nicht, dachte ich entrüstet. Du
würdest alles tun, um deine Familie im französischen Adel
unterzubringen, und wenn du dafür deine Nichte mit... mit...
»Wer ist denn der glückliche Bräutigam?« fragte ich
unumwunden.
Mit einem Ausdruck der Verschlagenheit beugte Mr.
Hawkins sich vor, um in mein Ohr zu flüstern.
»Eigentlich dürfte ich ja nicht darüber sprechen,
weil wir den Ehekontrakt noch nicht unterzeichnet haben. Aber da
Sie es sind, Madam... es handelt sich um ein Mitglied des
Geschlechts der Gascogne. Um ein hochrangiges Mitglied!«
»In der Tat«, stellte ich fest.
Nachdem Mr. Hawkins, der sich vor Vorfreude wie
wild die Hände rieb, aufgebrochen war, wandte ich mich zu Jamie
um.
»Gascogne! Er meint wahrscheinlich... aber das kann
doch nicht sein Ernst sein! Dieser widerliche alte Kerl mit den
Schnupftabaksflecken am Kinn, der letzte Woche bei uns zu Gast
war?«
»Der Vicomte de Marigny?« Jamie quittierte meine
Beschreibung mit einem Lächeln. »Ich nehme es an. Er ist Witwer und
der einzige Junggeselle dieser Familie, soweit ich weiß. Außerdem
glaube ich nicht, daß es Schnupftabak ist - eher sein Bart. Ein
wenig mottenzerfressen«, gab er zu, »doch mit all den Warzen im
Gesicht wird die Rasur nun mal zu einem höllischen
Unterfangen.«
»Aber man kann doch keine Fünfzehnjährige mit
diesem... diesem Widerling verheiraten! Noch dazu, ohne sie zu
fragen!«
»Ich fürchte, man kann«, entgegnete Jamie mit einer
Gelassenheit, die mich zur Weißglut trieb. »Wie dem auch sei,
Sassenach, es geht dich nichts an.« Er faßte meine beiden
Ellenbogen und schüttelte mich eindringlich.
»Hast du verstanden? Ich weiß, es kommt dir seltsam
vor, aber so ist es nun mal. Außerdem«, er grinste süffisant, »bist
du auch zur Ehe gezwungen worden und hast dich ganz nett darin
eingerichtet, nicht wahr?«
»Da bin ich mir nicht so sicher!« Ich versuchte,
mich aus seinem Griff zu befreien, doch er lachte, zog mich an sich
und küßte mich. Natürlich würde ich Mary Hawkins meine Aufwartung
machen, dachte ich. Dann würden wir ja sehen, was sie von dieser
Heirat hielt. Und wenn sie nicht einverstanden war, daß ihr Name
neben den des Vicomte de Marigny auf den Ehekontrakt gesetzt wurde,
dann... Plötzlich fuhr mir ein Schreck in die Glieder, und ich
stieß Jamie fort.
»Was ist«, fragte er beunruhigt. »Bist du krank,
Mädel? Du bist ja ganz weiß im Gesicht.«
Das war nicht weiter erstaunlich. Denn in diesem
Moment war mir eingefallen, wo ich den Namen Mary Hawkins schon
einmal gelesen hatte. Jamie hatte sich geirrt; die Sache ging mich
sehr wohl etwas an. Denn dieser Name stand in gestochener
Handschrift und verblaßter Tinte oben auf einer Ahnentafel. Es war
Mary Hawkins nicht vorherbestimmt, die Ehefrau des altersschwachen
Vicomte de Marigny zu werden. Im Jahr des Herrn 1745 sollte sie
Jonathan Randall heiraten.
»Das ist doch unmöglich!« sagte Jamie. »Jonathan
Randall ist tot.« Er hatte ein Glas Weinbrand eingeschenkt und
reichte es mir jetzt herüber. Seine Hand zitterte nicht, doch seine
Lippen waren zusammengepreßt, und er sprach das Wort »tot« so
scharf aus, daß es eine grausame Endgültigkeit gewann.
»Leg deine Füße hoch, Sassenach«, forderte er mich
auf. »Du bist immer noch kreidebleich.« Gehorsam streckte ich mich
auf der Chaiselongue aus. Jamie setzte sich neben mich ans Kopfende
und legte mir geistesabwesend die Hand auf die Schulter und
massierte sie.
»Marcus MacRannoch hat gesehen, wie Randall in
Wentworth vom Vieh zu Tode getrampelt worden ist«, sagte er noch
einmal, als würde es durch die Wiederholung zur Gewißheit werden.
»Eine Puppe in blutigen Fetzen, so hat ihn mir Sir Marcus
beschrieben. Er war sich ganz sicher.«
»Genau.« Nach einem Schluck Weinbrand spürte ich,
wie das Blut in meine Wangen zurückkehrte. »Das hat er mir auch
erzählt. Nein, du hast recht. Hauptmann Randall ist tot. Es hat mir
nur einen Schock versetzt, als ich mich an Mary Hawkins erinnert
habe. Wegen Frank.« Ich blickte auf meine linke Hand, die auf
meinem Bauch ruhte. Der schmale, glatte Goldreif, mein erster
Hochzeitsring, glänzte im Flammenschein des Feuers. Jamies
schottischen Silberring trug ich am Ringfinger der rechten
Hand.
»Ah.« Jamie hielt in der Massage inne. Seine Augen
suchten meinen Blick. Seit seiner Rettung aus dem Gefängnis hatten
wir nicht mehr über Frank gesprochen. Ebensowenig hatten wir
Jonathan Randalls Tod erwähnt. Er war uns nur insofern wichtig, als
wir nun wußten, daß uns von dieser Seite keine Gefahr mehr drohte.
Seitdem hatte es mir widerstrebt, Jamie an Wentworth zu
erinnern.
»Du weißt doch, daß er tot ist, nicht wahr, mo
duinne?« Jamie sprach leise. Seine Hand ruhte auf meiner
Schulter, und ich wußte, er meinte Frank und nicht Jonathan.
»Vielleicht nicht«, erwiderte ich, während mein
Blick auf dem Ring ruhte. »Wenn er tot ist, Jamie - also wenn es
ihn nicht gibt, weil Jonathan Randall tot ist -, warum trage ich
dann immer noch seinen Ring?«
Er starrte auf den goldenen Ring, und ein Muskel
zuckte in seinem Gesicht. Auch er war bleich. Ich wußte nicht, ob
es ihm schaden würde, an Jonathan Randall zu denken, aber es blieb
keine andere Wahl.
»Bist du sicher, daß Randall vor seinem Tod keine
Kinder hatte?« fragte er. »Das wäre eine Erklärung.«
»Gewiß wäre es das«, entgegnete ich. »Aber ich weiß
genau, daß er keine hatte. Frank...«, meine Stimme zitterte ein
wenig, und Jamies Griff um mein Handgelenk wurde fester, »Frank hat
immer viel Aufhebens um Jonathan Randalls tragischen Tod gemacht.
Er sagte, sein Vorfahr sei auf dem Schlachtfeld von Culloden
gestorben, im letzten Kampf des Aufstands, und sein Sohn - also
Franks
Ururururgroßvater - sei einige Monate nach dem Tod des Vaters
geboren worden. Die Witwe habe ein paar Jahre darauf wieder
geheiratet. Selbst wenn es ein uneheliches Kind gegeben hätte -
Franks Urahn könnte es nicht sein.«
Nachdenklich runzelte Jamie die Stirn, so daß sich
zwischen seinen Brauen eine tiefe Falte abzeichnete. »Könnte ihm
ein Fehler unterlaufen sein - daß das Kind gar nicht von Randall
war? Vielleicht stammt Frank ja nur von Mary Hawkins ab. Mary ist
ja noch am Leben.«
Ich schüttelte hilflos den Kopf.
»Das ist unmöglich. Wenn du Frank gesehen
hättest... Eine Sache habe ich dir bisher noch nicht erzählt. Als
ich damals auf Jonathan Randall stieß, dachte ich zuerst, ich hätte
Frank vor mir. Natürlich gleichen sie sich nicht wie ein Ei dem
anderen, aber die Ähnlichkeit ist wirklich erstaunlich. Nein,
Jonathan Randall ist Franks Urahn, da gibt es keinen
Zweifel.«
»Ich verstehe.« Jamies Finger waren feucht
geworden, und jetzt wischte er sie geistesabwesend an seinem Kilt
ab.
»Dann... hat der Ring vielleicht überhaupt nichts
zu bedeuten, mo duinne«, schlug er sanft vor.
»Vielleicht nicht.« Ich strich über das Metall, das
warm war wie meine Haut, bevor ich hilflos die Hand fallen ließ.
»Ach Jamie, ich weiß es nicht! Ich weiß gar nichts mehr.«
Erschöpft rieb er mit den Fingerknöcheln über die
Falte zwischen seinen Brauen. »Ich auch nicht, Sassenach.« Dann
ließ er die Hand sinken und lächelte mich gezwungen an.
»Da ist noch etwas«, meinte er. »Frank hat dir
gesagt, Jonathan Randall würde in Culloden sterben.«
»Ja, und um ihm angst zu machen, habe ich das dem
Randall auch ins Gesicht geschleudert, damals, in Wentworth, als er
mich in den Schnee hinausschickte, bevor... er zu dir
zurückkehrte.« Ehe ich mich versah, hatte Jamie Augen und Mund
zugekniffen, und ich schwang entsetzt die Füße auf den Boden.
»Jamie! Was ist los?« Ich wollte ihm die Hand auf
die Stirn legen, doch er befreite sich aus meinem Griff, stand auf
und ging zum Fenster.
»Ist schon gut, Sassenach. Ich habe den ganzen
Morgen Briefe geschrieben, und jetzt kommt es mir vor, als würde
mir der Schädel zerspringen. Mach dir keine Sorgen.« Er winkte ab
und legte den
Kopf mit geschlossenen Augen an die kühle Fensterscheibe. Dann
sprach er weiter, als wollte er sich von seinem Schmerz
ablenken.
»Wenn du weißt -, so wie Frank -, daß Jonathan
Randall in Culloden stirbt, wir aber wissen, daß es nicht so kommen
wird, dann... dann ist es zu schaffen.«
»Was ist zu schaffen?« Ich wollte ihm beistehen,
wußte aber nicht wie. Daß ich ihn jetzt nicht berühren durfte,
hatte ich schon gemerkt.
»Was deines Wissens nach geschehen wird, läßt sich
ändern.« Er hob den Kopf von der Fensterscheibe und lächelte mich
müde an. Sein Gesicht war noch bleich, doch den Schreck hatte er
anscheinend überwunden. »Jonathan Randall ist früher gestorben, als
er sollte, und Mary Hawkins wird einen anderen heiraten. Auch wenn
das bedeutet, daß dein Frank nicht geboren wird - oder auf andere
Weise zur Welt kommt«, fügte er hinzu, um mich zu trösten, »heißt
das auch, daß wir unser Vorhaben verwirklichen können. Vielleicht
ist Hauptmann Randall nicht in Culloden gestorben, weil es nicht
zur Schlacht kommen wird.«
Er gab sich einen Ruck, kam auf mich zu und nahm
mich in die Arme. Ich umschlang seine Taille und blieb still
stehen. Er senkte den Kopf und legte die Stirn auf meinen
Scheitel.
»Ich weiß, wie traurig dich das stimmt, mo
duinne. Aber wird dir nicht leichter, wenn du dir vorhältst,
wieviel Gutes daraus erwächst?«
»Doch«, flüsterte ich schließlich in die Rüschen
seines Hemdes. Dann löste ich mich behutsam aus seinen Armen und
legte ihm die Hand an die Wange. Die Falte auf seiner Stirn war
tiefer geworden, und sein Blick war verschleiert, aber er lächelte
mich an.
»Jamie«, sagte ich. »Leg dich ein wenig hin. Ich
schicke den d’Arbanvilles eine Nachricht, daß wir heute abend nicht
kommen.«
»Keinesfalls«, wehrte er ab. »Das wird schon
wieder. Ich kenne diese Art von Kopfschmerzen. Sie kommen vom
Schreiben und sind nach einer Stunde Schlaf wieder vorbei. Ich gehe
nach oben.« Er wandte sich zur Tür. Aber dann zögerte er und drehte
sich mit einem leisen Lächeln noch einmal um.
»Wenn ich im Schlaf schreie, Sassenach, leg mir die
Hand auf die Stirn und sag: ›Randall ist tot.‹ Dann geht es mir
wieder gut.«
Bei den d’Arbanvilles erwartete uns ein vorzügliches Mahl und
angenehme Gesellschaft. So kehrten wir erst spät in der Nacht nach
Hause zurück. Kaum hatte ich den Kopf aufs Kissen gelegt, sank ich
in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Doch mitten in der Nacht wachte
ich plötzlich auf und spürte, daß etwas nicht stimmte.
Wie es ihre leidige Gewohnheit war, hatte sich die
Daunendecke selbständig gemacht, so daß mir nur noch die dünne
Wolldecke geblieben war. Im Halbschlaf drehte ich mich um und
tastete nach Jamies warmen Körper. Doch Jamie war fort.
Erschreckt setzte ich mich auf. Aber dann sah ich
ihn. Er saß am Fenster und hatte den Kopf in die Hände
gestützt.
»Jamie! Was ist los? Hast du wieder Kopfschmerzen?«
Ich griff nach der Kerze, weil ich meinen Medizinkasten holen
wollte, doch etwas an seiner Haltung veranlaßte mich, sofort zu ihm
hinüberzugehen.
Er atmete schwer, als ob er einen Dauerlauf gemacht
hätte, und trotz der Kälte war er schweißnaß. Seine Schultern
fühlten sich hart und kalt an wie die einer Statue.
Bei meiner Berührung zuckte er zusammen und sprang
auf. Mit weitaufgerissenen, leeren Augen starrte er in das dunkle
Zimmer.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte ich.
»Geht es dir gut?«
Ich fragte mich, ob er schlafwandelte, denn sein
Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er blickte geradewegs durch
mich hindurch, und das, was er sah, schien ihm ganz und gar nicht
zu gefallen.
»Jamie,!« rief ich. »Jamie, wach auf!«
Da blinzelte er und blickte mich mit der
Verzweiflung eines gejagten Tieres an.
»Mir geht’s gut«, erklärte er. »Ich bin wach.« Das
klang, als wollte er sich selbst davon überzeugen.
»Was ist los? Hattest du einen Alptraum?«
»Einen Traum. Aye, es war ein Traum.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Was hast du geträumt? Der Eindruck verschwindet,
wenn du davon erzählst.«
Sein Griff, mit dem er mich an den Unterarmen
packte, bat um meine Hilfe und hielt mich zugleich von sich fern.
Im Schein des
Vollmonds sah ich, daß seine Muskeln angespannt waren. Sein Körper
war reglos wie Stein. Gleichzeitig bebte er vor unterdrückter
Wut.
»Nein«, erwiderte er, noch immer nicht ganz
wach.
»Doch«, beharrte ich. »Jamie! Sprich mit mir. Sag
mir, was du siehst.«
»Ich kann nicht... ich sehe nichts. Ich kann nichts
sehen.« Ich zog ihn aus den Schatten in den hellen Mondschein am
Fenster. Das Licht schien ihm zu helfen, denn sein Atem wurde
ruhiger. Stockend und schmerzerfüllt begann er zu sprechen.
Jamie hatte von dem steinernen Verlies in Wentworth
geträumt. Und während er sprach, war es plötzlich, als stünde
Jonathan Randall im Zimmer, als läge er nackt auf der Wolldecke
unseres Bettes.
In seinem Traum hatte Jamie Randalls stoßweisen
Atem gehört und den schweißnassen Körper auf seiner Haut gespürt.
Verzweifelt hatte er die Zähne zusammengebissen. Der Mann hinter
ihm hatte es bemerkt und gelacht.
»Noch ist es nicht so weit, daß wir dich hängen,
mein Junge«, flüsterte er. »Erst wollen wir noch ein bißchen Spaß
miteinander haben.« Randall bewegte sich ruckartig und brutal, und
ohne es zu wollen, stöhnte Jamie auf.
Randall strich ihm das Haar aus der Stirn und schob
es ihm hinters Ohr. Sein heißer Atem streifte Jamies Haut. Um ihm
auszuweichen, drehte er den Kopf fort, doch Randalls heisere Stimme
folgte ihm.
»Hast du schon mal gesehen, wie man einen Mann
hängt, Fraser?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter.
Dabei strich seine lange schlanke Hand über Jamies Hüfte, fuhr die
Rundung seines Bauches nach und wanderte bei jedem Wort weiter
abwärts.
»Natürlich hast du das. Du warst in Frankreich und
hast hin und wieder zugesehen, wie man einen Fahnenflüchtigen
hinrichtet. Ein Gehängter läßt seinen Darminhalt fahren, nicht
wahr? Im selben Augenblick, wo sich die Schlinge um seinen Hals
zusammenzieht.« Die Hand griff zu, fest und zart zugleich, reibend
und liebkosend. Jamie klammerte die gesunde Hand um den Bettpfosten
und vergrub das Gesicht in der harten, kratzigen Wolldecke. Doch
die Worte verfolgten ihn.
»Und genauso wird es dir ergehen, Fraser. Noch ein
paar Stunden, und dein Hals steckt in der Schlinge.« Voller
Genugtuung lachte der Mann auf. »Und wenn du in den Tod gehst,
brennt dein Arsch von meinen Vergnügungen, und wenn sich dein Darm
entleert, ist es mein Saft, der dir die Beine entlangläuft und auf
den Boden unter dem Galgen tropft.«
Jamie gab keinen Laut von sich. Er roch sich selbst
- den Gestank, der sich im Lauf seiner Gefangenschaft an ihn
geheftet hatte und sich nun mit dem Geruch des Angstschweißes und
der Wut mischte. Und dazu der zarte Duft des Lavendelwassers des
Mannes hinter ihm.
»Die Decke«, sagte Jamie. Sein Gesicht war
angespannt. »Sie kratzte an meinem Gesicht, und ich sah nichts
anderes als die Wand vor mir. Nichts, woran ich mich innerlich
festhalten konnte... nichts, rein gar nichts. Und so schloß ich die
Augen und dachte an die Decke unter meiner Wange. Sie war alles,
was ich in meinem Schmerz noch spürte... außer ihm. Und... ich
hielt mich daran fest.«
»Jamie! Jetzt kannst du dich an mir festhalten.« Um
seine Erregung einzudämmen, sprach ich leise. Sein Griff war so
fest, daß alles Blut aus meinem Arm wich. Er hielt sich an mir
fest, zugleich aber von mir fern.
Plötzlich ließ er meinen Arm los, wandte sich ab
und blickte zum Vollmond, der durchs Fenster schien. Gespannt und
doch bebend, wie ein Bogen, von dem gerade ein Pfeil abgefeuert
worden war, stand er da. Trotzdem klang seine Stimme ruhig.
»Nein, ich will dich nicht ausnutzen, Mädel. Du
sollst da nicht auch noch hineingezogen werden.«
Ich tat einen Schritt auf ihn zu, doch sein
Kopfschütteln ließ mich zögern. Er wandte sich zum Fenster; sein
Gesicht war ruhig, leer wie die Scheibe, durch die er nach draußen
blickte.
»Leg dich schlafen, Mädel. Laß mich ein wenig
allein. Kein Grund zur Sorge.«
Die Hände auf den Rahmen gestützt, stand er so am
Fenster, daß er den Mondschein abfing. Seine Schultern spannten
sich, und ich wußte, daß er sich mit aller Kraft gegen das Holz
stemmte.
»Es war nur ein Traum. Jonathan Randall ist
tot.«
Irgendwann war ich eingeschlafen. Jamie stand noch
am Fenster und starrte auf den runden Mond am Himmel. Als ich im
Morgengrauen erwachte, schlief auch er. Er hatte sich im Sessel am
Fenster zusammengekauert, in sein Plaid gehüllt und meinen Umhang
zum Schutz gegen die Kälte über sich gebreitet.
Als ich mich bewegte, wurde er wach und zeigte
wieder sein altes, morgens immer so unverschämt fröhliches Ich.
Doch ich konnte die Vorfälle der Nacht nicht so schnell vergessen
und nahm mir nach dem Frühstück meinen Medizinkasten vor.
Zu meinem Leidwesen fehlten mir einige der Kräuter,
die ich für den Schlaftrunk brauchte. Doch dann fiel mir der Mann
ein, von dem Marguerite mir erzählt hatte. Raymond, der
Kräuterhändler aus der Rue de Varennes. Ein Hexenmeister, hatte sie
gesagt, mit einem Laden, den man sich unbedingt einmal ansehen
sollte. Nun gut. Jamie würde sich den ganzen Vormittag im Lagerhaus
aufhalten. Und da mir Kutsche und Lakai zur Verfügung standen,
würde ich hinfahren.
An zwei Seiten des Ladens stand jeweils ein langer,
blankgescheuerter Holztresen. Die Regale dahinter reichten bis zur
Decke. Einige waren durch Glastüren geschützt, wahrscheinlich weil
dahinter die wertvolleren und teureren Substanzen verborgen waren.
Pausbäckige vergoldete Putten tummelten sich über den Schränken,
bliesen ins Horn, schwenkten Bänder und wirkten samt und sonders,
als hätten sie an den alkoholischen Tinkturen des Ladens
genippt.
»Könnte ich mit Monsieur Raymond sprechen?«
erkundigte ich mich höflich bei der jungen Frau, die hinter dem
Tresen stand.
»Maitre Raymond«, verbesserte sie mich. Unelegant
wischte sie sich mit dem Ärmel über die rote Nase; dann wies sie zu
dem hinteren Teil des Ladens, wo dunkle Rauchwolken durch die obere
Hälfte einer zweiteiligen Tür quollen.
Die Umgebung schien für einen Hexenmeister wie
geschaffen. Von einer schwarzen, geschieferten Feuerstelle stieg
Rauch zu den verrußten Deckenbalken auf. Auf einem Steintisch über
dem Feuer standen Glasphiolen, kupferne Schnabelkannen, aus denen
undefinierbare Lösungen in Becher tropften, und ein, wie es schien,
funktionsfähiger Destillierkolben. Ich schnupperte. Der
Alkoholdunst, der von der Feuerstelle her zu mir drang, überlagerte
die zahlreichen anderen Gerüche des Ladens. Die säuberlich
gespülten und
aufgereihten Flaschen auf einer Anrichte verstärkten meinen
Verdacht. Wie immer sein Geschärft mit Zaubermitteln und Tränken
auch beschaffen sein mochte - Maitre Raymond trieb schwunghaften
Handel mit hochprozentigem Kirschlikör.
Der Ladenbesitzer beugte sich gerade über die
Feuerstelle und schob einige Kohlestückchen zurück auf den Rost.
Doch als er mich hereinkommen hörte, richtete er sich auf und
wandte sich mit einem freundlichen Lächeln zu mir um.
»Guten Tag«, sagte ich höflich zu dem kleinen Mann.
Der Eindruck, eine Hexenküche betreten zu haben, war so
überwältigend, daß mich auch ein Quaken als Antwort nicht
verwundert hätte.
Denn Maitre Raymond ähnelte nichts so sehr wie
einem großen, liebenswerten Frosch. Er maß wenig mehr als
einszwanzig, hatte einen mächtigen Brustkorb und O-Beine, die
dicke, feuchtklebrige Haut eines Sumpfbewohners und leicht
hervorquellende, freundliche, schwarze Augen. Abgesehen von der
unbedeutenden Tatsache, daß seine Haut nicht grün war, fehlten ihm
nur noch die Warzen.
»Madonna!« sagte er und strahlte mich an. »Womit
kann ich Ihnen zu Diensten sein?« Ihm waren alle Zähne ausgefallen,
was den froschartigen Eindruck noch verstärkte. Fasziniert starrte
ich ihn an.
»Bitte sehr, Madonna?« Fragend blickte er zu mir
auf.
Erst jetzt wurde mir bewußt, wie unhöflich ich ihn
gemustert hatte. Ich errötete und sagte wie aus der Pistole
geschossen: »Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie schon mal von
einem hübschen, jungen Mädchen geküßt worden sind.«
Er brach in schallendes Gelächter aus, und meine
Röte wurde noch tiefer. »Viele Male. Doch wie Sie selbst sehen, hat
es nichts genutzt. Quakquak.«
Wir lachten so laut, daß das Ladenmädchen
beunruhigt nach uns sah. Maitre Raymond scheuchte sie mit einer
Handbewegung fort. Dann humpelte er hustend und sich die Seiten
haltend zum Fenster, um die Bleiglasflügel zu öffnen und den Rauch
abziehen zu lassen.
»Ah, das tut gut!« sagte er, während er die kühle
Frühlingsluft tief einatmete. Er wandte sich wieder zu mir um und
strich sich die langen Silbersträhnen zurück, die ihm bis auf die
Schultern reichten. »Nun, Madonna, da wir jetzt Freunde sind,
erlauben Sie mir bitte, daß ich rasch noch etwas zu Ende
bringe.«
Ich gab meine Zustimmung, und er ging, noch immer
glucksend,
zu dem Tisch an der Feuerstelle und füllte den Destillierkolben
auf. Dadurch hatte ich Zeit, meine Fassung zurückzugewinnen. Ich
schlenderte durch die Werkstatt und betrachtete das erstaunliche
Sammelsurium, das ich dort vorfand.
Von der Decke hing ein riesiges, wahrscheinlich
ausgestopftes Krokodil. Von unten sah man lediglich die gelben
Bauchschuppen, hart und glänzend wie gepreßtes Wachs.
»Das ist echt, nicht wahr?« fragte ich, während ich
mich an dem rissigen Eichentisch auf einen Stuhl sinken ließ.
Lächelnd blickte Maitre Raymond nach oben.
»Mein Krokodil? Aber gewiß doch, Madonna. Es flößt
meinen Kunden Vertrauen ein.« Mit dem Kopf wies er auf ein Regal,
das in Augenhöhe an der Wand angebracht war. Dort waren weiße
Porzellangefäße aufgereiht, ein jedes mit goldenen Schnörkeln
verziert, mit Blumen- oder Tierornamenten bemalt und mit einem
elegant beschrifteten Etikett versehen. Die drei in meiner Nähe
trugen lateinische Namen, die ich mit einiger Mühe übersetzte:
Krokodilsblut, Leber und Galle des gleichen Tiers - vermutlich
sogar jenes, das in der Zugluft über uns im Laden schwebte.
Ich nahm eines der Gefäße aus dem Regal, zog den
Stöpsel heraus und roch an seinem Inhalt.
»Senf«, sagte ich und zog die Nase kraus. »Und
Thymian. Das Ganze in Walnußöl, scheint mir. Aber wie haben Sie es
geschafft, daß es so eklig wird?« Ich kippte das Gefäß zur Seite
und betrachtete prüfend die schleimige, schwarze Flüssigkeit.
»Aha! Sie tragen Ihre Nase also nicht nur zur
Zierde im Gesicht!« Ein breites Grinsen überzog sein Froschgesicht
und offenbarte festes, bläuliches Zahnfleisch.
»Das schwarze Zeug ist das verfaulte Fruchtfleisch
eines Kürbisses«, gestand er mir, während er sich zu mir
herüberbeugte und die Stimme senkte. »Und der Geruch... nun, das
ist wirklich Blut.«
»Aber nicht von einem Krokodil«, wandte ich mit
einem Blick nach oben ein.
»Wie kann ein junger Mensch nur so mißtrauisch
sein!« sagte Raymond betrübt. »Die Damen und Herren vom Hof haben
glücklicherweise größeres Vertrauen in die Natur, obwohl sie selbst
nicht gerade Vertrauen einflößen. Nein, es ist Schweineblut,
Madonna. Schweine sind hierzulande nun mal leichter aufzutreiben
als Krokodile.«
»In der Tat«, gab ich ihm recht. »Dieses Exemplar
muß Sie ein Vermögen gekostet haben.«
»Glücklicherweise habe ich es zusammen mit dem
Warenbestand vom früheren Besitzer des Ladens geerbt.« Ich meinte,
in den Tiefen der sanften, schwarzen Augen ein leichtes Flackern zu
sehen. Doch in den letzten Tagen war ich überempfindlich geworden,
was Feinheiten im Gesichtsausdruck betraf, da ich bei den Gästen
der Abendgesellschaften ständig nach kleinsten Hinweisen forschte,
die Jamie bei seiner Aufgabe hilfreich sein könnten.
Der stämmige kleine Ladenbesitzer beugte sich noch
näher heran und legte vertrauensvoll seine Hand auf meine.
»Sie sind vom Fach, nicht wahr?« fragte er. »Obwohl
Sie nicht danach aussehen.«
In einem ersten Impuls hätte ich am liebsten meine
Hand fortgezogen, doch seltsamerweise war mir die Berührung
angenehm. Als mein Blick auf die Eisblumen fiel, die am Rand der
Bleiglasfenster wuchsen, wußte ich auch, warum: Obwohl er keine
Handschuhe trug, waren seine Hände warm, was zu dieser Jahreszeit
nicht gerade der Regel entsprach.
»Das hängt davon ab, was Sie damit meinen«,
entgegnete ich. »Ich bin eine Heilerin.«
»Aha, eine Heilerin!« Er blickte mich neugierig an.
»Das habe ich mir gedacht. Und sonst noch etwas? Weissagungen?
Liebestränke?«
Ich hatte leichte Gewissensbisse, da ich an meine
Wanderschaft mit Murtagh dachte, als wir im schottischen Hochland
auf der Suche nach Jamie waren und für ein warmes Essen die Zukunft
weissagten und Lieder sangen wie die Zigeuner.
»Nichts dergleichen«, erwiderte ich, und eine
leichte Röte stieg mir ins Gesicht.
»Also zumindest keine versierte Lügnerin«, stellte
er amüsiert fest. »Beinahe schade. Aber wie kann ich Ihnen zu
Diensten sein, Madonna?«
Ich erklärte ihm meine Wünsche, die er mit einem
weisen Nicken zur Kenntnis nahm. In seinem Refugium trug er weder
eine Perücke, noch puderte er sich das Haar. Statt dessen strich er
es sich streng aus der hohen breiten Stirn, so daß es ihm glatt auf
die Schultern fiel. Dort endete es in einer so exakten Linie, als
wäre es mit einem resoluten Scherenschnitt gekürzt worden.
Schon bald entwickelte sich zwischen uns ein
lebhaftes Gespräch, denn er kannte sich gut aus in der Anwendung
von Pflanzen und Kräutern. Immer wieder nahm er ein Gefäß aus dem
Regal, schüttete ein wenig von seinem Inhalt in seine Hand und
zerrieb die Blätter, damit ich daran riechen oder davon kosten
konnte.
Plötzlich wurde unsere Unterhaltung von lauten
Stimmen unterbrochen, die aus dem Laden zu uns drangen. Ein höchst
schmuck ausstaffierter Lakai lehnte sich über den Tresen und sprach
mit dem Ladenmädchen. Oder zumindest hatte er das vor. Doch seine
matten Bemühungen prallten gegen einen Schwall tiefsten
provenzalischen Dialekts. Ich verstand nur einen Teil, konnte aber
dem Sinn im groben folgen. Irgendwie ging es um Kohl und Würste,
was durchaus nicht als Kompliment gemeint war.
Ich beschäftigte mich im Geiste noch immer mit der
erstaunlichen Eigenheit der Franzosen, in praktisch jeder
Lebenslage aufs Essen sprechen zu kommen, als die Ladentür
aufgerissen wurde. Der Lakai bekam Verstärkung, und zwar in Gestalt
einer geschminkten und in Rüschen gehüllten Dame.
»Aha«, murmelte Raymond, während er unter meinem
Arm hindurch das Schauspiel beobachtete, das in seinem Laden
stattfand. »La Vicomtesse de Rambeau.«
»Ist sie Ihnen bekannt?« Dem Ladenmädchen war sie
das augenscheinlich, denn es ließ von dem Lakaien ab und wich bis
zum Regal mit Abführmitteln zurück.
»Ja, Madonna«, erwiderte Raymond nickend. »Ein
Geschöpf, verwöhnt bis über beide Ohren.«
Gleich darauf sah ich auch, was er meinte, denn die
fragliche Dame griff nach dem Streitobjekt, einem Glas mit
eingelegten Kräutern, zielte und schleuderte es mit erstaunlicher
Kraft und Treffsicherheit gegen die Glastür der Vitrine.
Es schepperte und klirrte, und dann herrschte Ruhe
im Raum. Mit einem langen, knochigen Finger zeigte die Vicomtesse
auf das Mädchen.
»Du«, drohte sie mit einer Stimme, die irgendwie an
Metallspäne erinnerte. »Hol mir den schwarzen Trank! Auf der
Stelle!«
Das Mädchen öffnete den Mund, um zu protestieren,
doch als es sah, daß die Vicomtesse nach einem weiteren Gefäß
griff, drehte es sich um und verließ fluchtartig den Raum.
Raymond, der dies vorausgesehen hatte, holte mit
einem resignierten
Seufzer eine Flasche aus dem Regal und drückte sie dem Mädchen in
die Hand, als es durch die Werkstattür geschossen kam.
»Gib ihr das«, sagte er, »bevor sie weiteres Unheil
anrichtet.«
Als das Mädchen zögernd in den Laden zurückkehrte,
um das Gewünschte zu überbringen, wandte Raymond sich mit einem
ironischen Ausdruck im Gesicht zu mir um.
»Gift für eine Nebenbuhlerin«, zwinkerte er. »Oder
zumindest glaubt sie das.«
»Ach ja?« fragte ich. »Und was ist es wirklich?
Faulbaumrinde?«
Bewundernd und überrascht zugleich blickte er mich
an.
»Sie verstehen Ihr Handwerk«, staunte er. »Ein
Naturtalent, oder sind Sie irgendwo in die Lehre gegangen? Aber
eigentlich spielt das keine Rolle.« Abwinkend ließ er das Thema
fallen. »Jedenfalls haben Sie recht; es ist wirklich Faulbaumrinde.
Die Nebenbuhlerin wird morgen von Übelkeit geplagt sein und
merklich leiden. Dies stillt den Rachedurst der Vicomtesse, und sie
ist überzeugt, ein gutes Geschäft getätigt zu haben. Wenn sich die
Rivalin dann erholt und keine Anzeichen einer dauerhaften
Schädigung zeigt, wird es die Vicomtesse auf das Eingreifen eines
Priesters oder den Gegenzauber eines Hexenmeisters zurückführen,
den die andere zu diesem Zweck herbeigerufen hat.«
Ich sann nach. »Und der Schaden in Ihrem Laden?«
fragte ich schließlich. Die späte Nachmittagssonne beleuchtete die
Glasscherben auf dem Tisch und den einsamen Silbertaler, den die
Vicomtesse zur Bezahlung hingeworfen hatte.
Raymond drehte die Hand hin und her, um anzudeuten,
daß jedes Ding zwei Seiten hatte.
»Es gleicht sich aus«, erklärte er. »Wenn sie im
nächsten Monat kommt und nach einem Abtreibungsmittel verlangt,
werde ich ihr so viel berechnen, daß nicht nur der Schaden wieder
behoben werden kann, sondern auch noch drei neue Vitrinen dabei
herausspringen. Und sie wird ohne Murren zahlen.« Er lächelte kurz,
aber ohne den Humor, den er zuvor noch gezeigt hatte. »Sehen Sie,
es ist alles eine Frage der Zeit.«
Ich merkte, daß seine schwarzen Augen wissend über
meinen Körper glitten. Obwohl man noch nichts sah, war ich mir
sicher, daß er es wußte.
»Und wird das Mittel, das Sie der Vicomtesse
nächsten Monat verordnen, seinen Zweck erfüllen?« erkundigte ich
mich.
»Alles eine Frage der Zeit«, wiederholte er,
während er abwägend den Kopf neigte. »Rechtzeitig eingenommen, tut
es sein Werk. Wenn man zu lange wartet, wird es gefährlich.«
Die Warnung war nicht zu überhören, und ich
lächelte ihm beruhigend zu.
»Es ist nicht für mich«, erklärte ich. »Ich frage
nur aus Neugier.«
Erleichtert seufzte er auf.
»Gut. Das hätte ich auch nicht erwartet.«
Ein Poltern auf der Straße verriet, daß die
blausilberne Kutsche der Vicomtesse am Laden vorbeifuhr. Der Lakai
auf seinem Stand rief und winkte, während die Fußgänger sich in
Hauseingänge und Torwege flüchteten, um nicht von den Rädern
zerquetscht zu werden.
»A la lanterne«, murmelte ich vor mich hin.
Es kam nur selten vor, daß mir meine ungewöhnliche Sicht der
gegenwärtigen Entwicklungen eine derartige Befriedigung bot, doch
diesmal war es wirklich der Fall.
»Hört nur, nach wem der Schinderkarren ruft«, sagte
ich, zu Raymond gewandt. »Ruft er nach Euch?«
Erstaunt blickte Raymond mich an.
»Wie auch immer. Sie verwenden für einen
Abführungstrank schwarze Betonien, sagten Sie? Ich ziehe die weißen
vor.«
»Tatsächlich? Warum?«
Ohne uns weiter mit der Vicomtesse zu beschäftigen,
setzten wir uns nieder, um unser Geschäft abzuwickeln.