8
Ein ruheloser Geist und ein Krokodil
Die täglichen Pflichten in Jareds Handelskontor hielten Jamie in Atem, und da auch noch Audienzen beim König dazukamen, führte er ein recht erfülltes Leben. Gleich nach dem Frühstück brach er mit Murtagh zu den Lagerhäusern auf, um die neuen Lieferungen zu überwachen, die Bestandslisten zu ergänzen und die Docks an der Seine sowie seiner Beschreibung nach äußerst zweifelhafte Tavernen zu besuchen.
»Wenigstens hast du Murtagh bei dir«, stellte ich beruhigt fest. »Und mitten am Tag wird man euch wohl kaum etwas antun.« Zwar wirkte der kleine Clansmann, der sich äußerlich nur durch den karierten unteren Teil seiner Kleidung von den Halunken im Hafen unterschied, nicht besonders beeindruckend, aber seit ich mit ihm durch halb Schottland geritten war, um Jamie aus dem Wentworth-Gefängnis zu befreien, gab es niemanden, dem ich das Wohl meines Mannes lieber anvertraut hätte.
Nach dem Mittagessen machte Jamie gewöhnlich seine Runde - gesellschaftliche und geschäftliche Besuche, und zunehmend war beides miteinander verquickt. Vor dem Abendessen zog er sich dann für ein, zwei Stunden in sein Arbeitszimmer zurück und vertiefte sich in die Geschäftsbücher. Er hatte wirklich viel zu tun.
Ich nicht. Nach ein paar Tagen höflicher Rangeleien mit Madame Vionnet, der Köchin, war klar, wer das Regiment führte - ich war es nicht. Jeden Morgen kam Madame in meinen Salon, um mit mir den Speiseplan und die Einkaufsliste des Tages durchzusprechen - Obst, Gemüse, Butter und Milch wurden jeden Morgen ins Haus geliefert; von einem Straßenhändler bezogen wir frischen Fisch aus der Seine und Muscheln. Der Form halber sah ich mir die Liste an, segnete sie ab, lobte das Abendessen vom Tag zuvor, und damit hatte es sich. Gelegentlich wurde ich gebeten, den Wäscheschrank oder die Vorratskammer mit einem der Schlüssel an meinem großen Bund zu öffnen, doch meist blieb ich mir selbst überlassen, bis es Zeit wurde, sich zum Abendessen umzuziehen.
Das gesellschaftliche Leben nahm seinen Fortgang, als wäre Jared noch hier. Ich verspürte nach wie vor eine gewisse Scheu, größere Einladungen zu geben, doch in der Regel hatten wir abends ein paar Gäste zum Essen: Adelige, Chevaliers mit ihren Damen, verarmte Jakobiten und wohlhabende Kaufleute mit ihren Ehefrauen.
Ich stellte jedoch bald fest, daß Essen und Trinken und die dazugehörigen Vorbereitungen mich nicht ausfüllten. Deshalb setzte ich Jamie so lange zu, bis er einwilligte, daß ich ihm zur Hand ging und von den Eintragungen in den Geschäftsbüchern Abschriften anfertigte. »Das ist jedenfalls besser, als wenn du an dir herumkaust«, meinte er mit einem kritischen Blick auf meine Fingernägel. »Außerdem hast du eine schönere Handschrift als die Angestellten im Lagerhaus.«
Und so befand ich mich in Jamies Arbeitszimmer, emsig über die riesigen Bücher gebeugt, als uns Mr. Silas Hawkins einen Besuch abstattete, um zwei Fässer flämischen Weinbrands zu bestellen. Der gesetzte, wohlhabende Engländer, ein Emigrant wie Jared, hatte sich auf den Export französischen Weinbrands in seine Heimat spezialisiert.
Ein Kaufmann, der wie ein Abstinenzler aussah, hätte Wein und Schnaps in größeren Mengen wahrscheinlich nur unter erheblichen Schwierigkeiten an den Mann gebracht. Mr. Hawkins war in dieser Hinsicht vom Glück begünstigt, denn er verfügte über die geröteten Wangen und das vergnügte Lächeln eines Saufbruders. Jamie hatte mir allerdings versichert, daß der Mann außer bodenständigem Ale nichts anrührte. In den Tavernen, die er besuchte, war er allerdings für seinen überaus gesegneten Appetit berühmt. Hinter der glatten Jovialität, mit der er seine Transaktionen schmierte, lag jedoch durchaus geschäftliche Berechnung.
»Meine besten Lieferanten, aufs Wort«, versicherte er uns, während er die große Bestellung schwungvoll unterzeichnete. »Zuverlässig und immer beste Qualität. Ihr Cousin wird mir fehlen«, sagte er und fuhr mit einer Verbeugung zu Jamie fort: »Doch er hätte keinen besseren Stellvertreter wählen können. Nun, das ist echt schottisch - immer schön darauf achten, daß das Geschäft in der Familie bleibt.«
Er ließ den Blick über Jamies Kilt gleiten, dessen Fraser-Rot sich leuchtend von der dunklen Holzvertäfelung des Arbeitszimmers abhob.
»Gerade aus Schottland eingetroffen?« fragte Mr. Hawkins, während er suchend auf seine Tasche klopfte.
»Nein, ich bin schon seit längerem in Frankreich«, erwiderte Jamie lächelnd, aber abschließend. Er nahm den Federkiel, den Mr. Hawkins ihm reichte. Als er feststellte, daß er stumpf war, holte er sich aus dem Bündel Gänsefedern, die in einem Glas auf dem Schreibtisch standen, einen neuen.
»An Ihrer Kleidung sehe ich, daß Sie aus den Highlands stammen. Vielleicht könnten Sie mich einweihen, welche Gefühle gegenwärtig in diesem Teil des Landes vorherrschen. Sie wissen doch, man hört so viele Gerüchte.« Auf eine einladende Handbewegung Jamies hin ließ er sich in einen Sessel sinken und beugte das runde, rosige Gesicht interessiert über die dicke Lederbörse, die er aus der Tasche gezogen hatte.
»Gerüchte - nun, die gibt es in Schottland immer.« Jamie war angelegentlich damit beschäftigt, seinen Federkiel zu schärfen. »Und Gefühle? Nun, wenn Sie die Politik meinen, bin ich leider nicht auf dem neuesten Stand.« Mit einem lauten Schnipsen kürzte er den dicken Federkiel um ein ganzes Stück.
Mr. Hawkins förderte eine Anzahl Silbermünzen aus seinem Beutel zutage, die er säuberlich aufstapelte.
»Wahrhaftig?« fragte er geistesabwesend. »Dann sind Sie der erste Hochlandschotte, der es so hält.«
Jamie hatte den Federkiel mittlerweile geschärft und hielt ihn in die Höhe, um sein Werk zu begutachten.
»Hmm?« fragte er vage. »Nun, anderes ist mir wichtiger. Sie wissen ja selbst, wieviel Zeit es verschlingt, ein Geschäft wie dieses zu führen.«
»Wie wahr!« Mr. Hawkins zählte die Münzen auf seinem Stapel noch einmal durch. Dann nahm er eine fort und ersetzte sie durch zwei kleinere. »Charles Stuart soll in Paris eingetroffen sein.« Sein rundes Säufergesicht zeigte nicht mehr als höfliches Interesse, doch die Augen in den Fettpolstern funkelten wachsam.
»Ja, ja«, murmelte Jamie. Sein Ton ließ offen, ob er das Gerücht bestätigen oder höfliche Gleichgültigkeit ausdrücken wollte. Vor ihm lag ein Stapel mit Bestellungen, und jetzt machte er sich daran, die Bögen mit übertriebener Sorgfalt zu unterzeichnen. Er malte die Buchstaben mehr, als daß er sie schrieb. Jamie, ein Linkshänder, den man als Junge dazu gezwungen hatte, die rechte Hand zu benutzen, hatte immer Probleme mit den Buchstaben, doch nur selten machte er solch ein Aufhebens darum.
»Demnach stehen Sie in dieser Angelegenheit nicht auf seiten Ihres Vetters?« Hawkins setzte sich zurück und betrachtete Jamies Scheitel, der naturgemäß nicht sehr mitteilsam war.
»Was kümmert Sie das, Sir?« Jamie hob den Kopf und blickte Mr. Hawkins herausfordernd an. Der behäbige Kaufmann erwiderte den Blick einen Moment lang, dann winkte er ab.
»Gar nicht. Ganz und gar nicht«, erwiderte er geschmeidig. »Aber ich weiß um die jakobitischen Sympathien Ihres Cousins, denn er macht schließlich keinen Hehl daraus. Ich habe mich nur gefragt, ob alle Schotten einer Meinung sind, wenn es um den Thronanspruch der Stuarts geht.«
»Wenn Sie die Schotten aus dem Hochland kennen würden«, erwiderte Jamie trocken, während er eine Abschrift der Bestellung herüberreichte, »dann wüßten Sie, daß sich nur selten zwei finden lassen, die sich in mehr Punkten einig sind als der Farbe des Himmels. Und selbst das ist gelegentlich eine Streitfrage.«
Mr. Hawkins lachte so herzlich, daß sein runder Bauch unter der Weste bebte. Er steckte den zusammengefalteten Bogen in die Tasche. Da Jamie an weiteren Fragen dieser Art nicht gelegen schien, schaltete ich mich ein und bot Madeira und Kekse an.
Einen Moment lang schien Mr. Hawkins in Versuchung zu geraten, doch dann schüttelte er bedauernd den Kopf und schob den Sessel zurück.
»Nein, vielen Dank, Madam. Die Arabella läuft diesen Donnerstag ein, und ich muß nach Calais fahren und sie empfangen. Aber bevor ich in die Kutsche steige, erwartet mich noch ein Berg von Arbeit.« Er deutete auf den Stapel von Bestellungen und Quittungen, die er aus der Tasche gezogen hatte, legte Jamies Quittung obenauf und schob alles zurück in eine dicke Brieftasche.
»Immerhin«, sagte er, und sein Gesicht hellte sich auf, »kann ich auf der Reise ein paar Geschäfte tätigen. Ich werde den Herbergen und Gaststätten auf dem Weg nach Calais einen Besuch abstatten.«
»Wenn Sie wirklich alle Tavernen zwischen Paris und Calais besuchen wollen, werden Sie Calais erst im nächsten Monat erreichen«, bemerkte Jamie. Er zog seine eigene Geldbörse aus der Felltasche und ließ den Stapel Silbermünzen hineinfallen.
»Da haben Sie nur allzu recht, mein Herr«, meinte Mr. Hawkins mit einem bedauernden Stirnrunzeln. »Ich fürchte, ich muß die eine oder andere auslassen, um sie mir auf dem Rückweg vorzunehmen.«
»Aber Sie können doch sicher einen Stellvertreter nach Calais schicken, wenn Ihre Zeit so kostbar ist«, schlug ich vor.
Er rollte mit den Augen und verzog den Mund zu einem Ausdruck des Bedauerns, soweit dessen Form dies zuließ.
»Wenn das nur möglich wäre, Madam! Doch die Arabella trägt eine Fracht, die ich keinem meiner Mitarbeiter anvertrauen kann. Meine Nichte Mary ist an Bord«, erklärte er. »Während wir hier sitzen, ist sie bereits auf dem Weg zur französischen Küste. Sie ist fünfzehn und noch niemals von zu Hause fortgewesen. Da kann ich sie die Reise nach Paris wohl kaum allein machen lassen.«
»Gewiß nicht«, gab ich ihm höflich recht. Mary Hawkins. Ein Allerweltsname, und doch kam er mir bekannt vor. Etwas Bestimmtes verband ich damit allerdings nicht. Ich rätselte noch daran herum, als Jamie Mr. Hawkins zur Tür geleitete.
»Ich hoffe, daß Ihre Nichte eine angenehme Reise hat«, sagte er höflich. »Soll sie hier ein Pensionat besuchen? Oder lediglich ihre Verwandten?«
»Heiraten soll sie«, erklärte Mr. Hawkins mit Genugtuung. »Meinem Bruder ist es gelungen, für sie eine höchst vorteilhafte Verbindung mit einem Angehörigen des französischen Adels zu arrangieren.« Stolz schwoll seine Brust, so daß die Goldknöpfe seines Rockes abzuspringen drohten. »Mein älterer Bruder ist nämlich ein Baronet, müssen Sie wissen.«
»Mit fünfzehn?« fragte ich bedrückt. Frühe Heiraten waren nichts Ungewöhnliches, aber in diesem Alter? Ich hatte mit neunzehn geheiratet und dann noch einmal mit siebenundzwanzig, und beim zweiten Mal war ich um einiges klüger gewesen.
»Wann... äh... hat Ihre Nichte denn die Bekanntschaft ihres Verlobten gemacht?« fragte ich vorsichtig.
»Sie kennt ihn noch gar nicht. Um ehrlich zu sein«, Mr. Hawkins beugte sich vor und legte den Finger an die Lippen, »weiß sie noch nichts von der Heirat. Die Verhandlungen sind nämlich noch nicht ganz abgeschlossen.«
Entsetzt öffnete ich den Mund, und mir lag eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, doch Jamie griff mich warnend am Arm.
»Nun, wenn dieser Herr dem Adel angehört, werden wir Ihre Nichte wahrscheinlich demnächst bei Hof antreffen«, stellte er fest, während er mich unerbittlich Richtung Tür schob. Mr. Hawkins mußte beiseite springen, um nicht von mir überrannt zu werden. Ohne sich davon stören zu lassen, schwatzte er weiter.
»Das steht zu vermuten. Ich würde es als große Ehre betrachten, wenn Sie und Ihre Gattin meiner Nichte ihre Aufwartung machen. Sicher wäre ihr die Gesellschaft einer Landsmännin eine große Freude«, fügte er mit einem öligen Lächeln an meine Adresse hinzu. »Aber denken Sie bitte nicht, daß ich unsere Geschäftsbeziehung ausnutzen möchte.«
Nein, ganz gewiß nicht, dachte ich entrüstet. Du würdest alles tun, um deine Familie im französischen Adel unterzubringen, und wenn du dafür deine Nichte mit... mit...
»Wer ist denn der glückliche Bräutigam?« fragte ich unumwunden.
Mit einem Ausdruck der Verschlagenheit beugte Mr. Hawkins sich vor, um in mein Ohr zu flüstern.
»Eigentlich dürfte ich ja nicht darüber sprechen, weil wir den Ehekontrakt noch nicht unterzeichnet haben. Aber da Sie es sind, Madam... es handelt sich um ein Mitglied des Geschlechts der Gascogne. Um ein hochrangiges Mitglied!«
»In der Tat«, stellte ich fest.
Nachdem Mr. Hawkins, der sich vor Vorfreude wie wild die Hände rieb, aufgebrochen war, wandte ich mich zu Jamie um.
»Gascogne! Er meint wahrscheinlich... aber das kann doch nicht sein Ernst sein! Dieser widerliche alte Kerl mit den Schnupftabaksflecken am Kinn, der letzte Woche bei uns zu Gast war?«
»Der Vicomte de Marigny?« Jamie quittierte meine Beschreibung mit einem Lächeln. »Ich nehme es an. Er ist Witwer und der einzige Junggeselle dieser Familie, soweit ich weiß. Außerdem glaube ich nicht, daß es Schnupftabak ist - eher sein Bart. Ein wenig mottenzerfressen«, gab er zu, »doch mit all den Warzen im Gesicht wird die Rasur nun mal zu einem höllischen Unterfangen.«
»Aber man kann doch keine Fünfzehnjährige mit diesem... diesem Widerling verheiraten! Noch dazu, ohne sie zu fragen!«
»Ich fürchte, man kann«, entgegnete Jamie mit einer Gelassenheit, die mich zur Weißglut trieb. »Wie dem auch sei, Sassenach, es geht dich nichts an.« Er faßte meine beiden Ellenbogen und schüttelte mich eindringlich.
»Hast du verstanden? Ich weiß, es kommt dir seltsam vor, aber so ist es nun mal. Außerdem«, er grinste süffisant, »bist du auch zur Ehe gezwungen worden und hast dich ganz nett darin eingerichtet, nicht wahr?«
»Da bin ich mir nicht so sicher!« Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er lachte, zog mich an sich und küßte mich. Natürlich würde ich Mary Hawkins meine Aufwartung machen, dachte ich. Dann würden wir ja sehen, was sie von dieser Heirat hielt. Und wenn sie nicht einverstanden war, daß ihr Name neben den des Vicomte de Marigny auf den Ehekontrakt gesetzt wurde, dann... Plötzlich fuhr mir ein Schreck in die Glieder, und ich stieß Jamie fort.
»Was ist«, fragte er beunruhigt. »Bist du krank, Mädel? Du bist ja ganz weiß im Gesicht.«
Das war nicht weiter erstaunlich. Denn in diesem Moment war mir eingefallen, wo ich den Namen Mary Hawkins schon einmal gelesen hatte. Jamie hatte sich geirrt; die Sache ging mich sehr wohl etwas an. Denn dieser Name stand in gestochener Handschrift und verblaßter Tinte oben auf einer Ahnentafel. Es war Mary Hawkins nicht vorherbestimmt, die Ehefrau des altersschwachen Vicomte de Marigny zu werden. Im Jahr des Herrn 1745 sollte sie Jonathan Randall heiraten.
 
»Das ist doch unmöglich!« sagte Jamie. »Jonathan Randall ist tot.« Er hatte ein Glas Weinbrand eingeschenkt und reichte es mir jetzt herüber. Seine Hand zitterte nicht, doch seine Lippen waren zusammengepreßt, und er sprach das Wort »tot« so scharf aus, daß es eine grausame Endgültigkeit gewann.
»Leg deine Füße hoch, Sassenach«, forderte er mich auf. »Du bist immer noch kreidebleich.« Gehorsam streckte ich mich auf der Chaiselongue aus. Jamie setzte sich neben mich ans Kopfende und legte mir geistesabwesend die Hand auf die Schulter und massierte sie.
»Marcus MacRannoch hat gesehen, wie Randall in Wentworth vom Vieh zu Tode getrampelt worden ist«, sagte er noch einmal, als würde es durch die Wiederholung zur Gewißheit werden. »Eine Puppe in blutigen Fetzen, so hat ihn mir Sir Marcus beschrieben. Er war sich ganz sicher.«
»Genau.« Nach einem Schluck Weinbrand spürte ich, wie das Blut in meine Wangen zurückkehrte. »Das hat er mir auch erzählt. Nein, du hast recht. Hauptmann Randall ist tot. Es hat mir nur einen Schock versetzt, als ich mich an Mary Hawkins erinnert habe. Wegen Frank.« Ich blickte auf meine linke Hand, die auf meinem Bauch ruhte. Der schmale, glatte Goldreif, mein erster Hochzeitsring, glänzte im Flammenschein des Feuers. Jamies schottischen Silberring trug ich am Ringfinger der rechten Hand.
»Ah.« Jamie hielt in der Massage inne. Seine Augen suchten meinen Blick. Seit seiner Rettung aus dem Gefängnis hatten wir nicht mehr über Frank gesprochen. Ebensowenig hatten wir Jonathan Randalls Tod erwähnt. Er war uns nur insofern wichtig, als wir nun wußten, daß uns von dieser Seite keine Gefahr mehr drohte. Seitdem hatte es mir widerstrebt, Jamie an Wentworth zu erinnern.
»Du weißt doch, daß er tot ist, nicht wahr, mo duinne?« Jamie sprach leise. Seine Hand ruhte auf meiner Schulter, und ich wußte, er meinte Frank und nicht Jonathan.
»Vielleicht nicht«, erwiderte ich, während mein Blick auf dem Ring ruhte. »Wenn er tot ist, Jamie - also wenn es ihn nicht gibt, weil Jonathan Randall tot ist -, warum trage ich dann immer noch seinen Ring?«
Er starrte auf den goldenen Ring, und ein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Auch er war bleich. Ich wußte nicht, ob es ihm schaden würde, an Jonathan Randall zu denken, aber es blieb keine andere Wahl.
»Bist du sicher, daß Randall vor seinem Tod keine Kinder hatte?« fragte er. »Das wäre eine Erklärung.«
»Gewiß wäre es das«, entgegnete ich. »Aber ich weiß genau, daß er keine hatte. Frank...«, meine Stimme zitterte ein wenig, und Jamies Griff um mein Handgelenk wurde fester, »Frank hat immer viel Aufhebens um Jonathan Randalls tragischen Tod gemacht. Er sagte, sein Vorfahr sei auf dem Schlachtfeld von Culloden gestorben, im letzten Kampf des Aufstands, und sein Sohn - also Franks Ururururgroßvater - sei einige Monate nach dem Tod des Vaters geboren worden. Die Witwe habe ein paar Jahre darauf wieder geheiratet. Selbst wenn es ein uneheliches Kind gegeben hätte - Franks Urahn könnte es nicht sein.«
Nachdenklich runzelte Jamie die Stirn, so daß sich zwischen seinen Brauen eine tiefe Falte abzeichnete. »Könnte ihm ein Fehler unterlaufen sein - daß das Kind gar nicht von Randall war? Vielleicht stammt Frank ja nur von Mary Hawkins ab. Mary ist ja noch am Leben.«
Ich schüttelte hilflos den Kopf.
»Das ist unmöglich. Wenn du Frank gesehen hättest... Eine Sache habe ich dir bisher noch nicht erzählt. Als ich damals auf Jonathan Randall stieß, dachte ich zuerst, ich hätte Frank vor mir. Natürlich gleichen sie sich nicht wie ein Ei dem anderen, aber die Ähnlichkeit ist wirklich erstaunlich. Nein, Jonathan Randall ist Franks Urahn, da gibt es keinen Zweifel.«
»Ich verstehe.« Jamies Finger waren feucht geworden, und jetzt wischte er sie geistesabwesend an seinem Kilt ab.
»Dann... hat der Ring vielleicht überhaupt nichts zu bedeuten, mo duinne«, schlug er sanft vor.
»Vielleicht nicht.« Ich strich über das Metall, das warm war wie meine Haut, bevor ich hilflos die Hand fallen ließ. »Ach Jamie, ich weiß es nicht! Ich weiß gar nichts mehr.«
Erschöpft rieb er mit den Fingerknöcheln über die Falte zwischen seinen Brauen. »Ich auch nicht, Sassenach.« Dann ließ er die Hand sinken und lächelte mich gezwungen an.
»Da ist noch etwas«, meinte er. »Frank hat dir gesagt, Jonathan Randall würde in Culloden sterben.«
»Ja, und um ihm angst zu machen, habe ich das dem Randall auch ins Gesicht geschleudert, damals, in Wentworth, als er mich in den Schnee hinausschickte, bevor... er zu dir zurückkehrte.« Ehe ich mich versah, hatte Jamie Augen und Mund zugekniffen, und ich schwang entsetzt die Füße auf den Boden.
»Jamie! Was ist los?« Ich wollte ihm die Hand auf die Stirn legen, doch er befreite sich aus meinem Griff, stand auf und ging zum Fenster.
»Ist schon gut, Sassenach. Ich habe den ganzen Morgen Briefe geschrieben, und jetzt kommt es mir vor, als würde mir der Schädel zerspringen. Mach dir keine Sorgen.« Er winkte ab und legte den Kopf mit geschlossenen Augen an die kühle Fensterscheibe. Dann sprach er weiter, als wollte er sich von seinem Schmerz ablenken.
»Wenn du weißt -, so wie Frank -, daß Jonathan Randall in Culloden stirbt, wir aber wissen, daß es nicht so kommen wird, dann... dann ist es zu schaffen.«
»Was ist zu schaffen?« Ich wollte ihm beistehen, wußte aber nicht wie. Daß ich ihn jetzt nicht berühren durfte, hatte ich schon gemerkt.
»Was deines Wissens nach geschehen wird, läßt sich ändern.« Er hob den Kopf von der Fensterscheibe und lächelte mich müde an. Sein Gesicht war noch bleich, doch den Schreck hatte er anscheinend überwunden. »Jonathan Randall ist früher gestorben, als er sollte, und Mary Hawkins wird einen anderen heiraten. Auch wenn das bedeutet, daß dein Frank nicht geboren wird - oder auf andere Weise zur Welt kommt«, fügte er hinzu, um mich zu trösten, »heißt das auch, daß wir unser Vorhaben verwirklichen können. Vielleicht ist Hauptmann Randall nicht in Culloden gestorben, weil es nicht zur Schlacht kommen wird.«
Er gab sich einen Ruck, kam auf mich zu und nahm mich in die Arme. Ich umschlang seine Taille und blieb still stehen. Er senkte den Kopf und legte die Stirn auf meinen Scheitel.
»Ich weiß, wie traurig dich das stimmt, mo duinne. Aber wird dir nicht leichter, wenn du dir vorhältst, wieviel Gutes daraus erwächst?«
»Doch«, flüsterte ich schließlich in die Rüschen seines Hemdes. Dann löste ich mich behutsam aus seinen Armen und legte ihm die Hand an die Wange. Die Falte auf seiner Stirn war tiefer geworden, und sein Blick war verschleiert, aber er lächelte mich an.
»Jamie«, sagte ich. »Leg dich ein wenig hin. Ich schicke den d’Arbanvilles eine Nachricht, daß wir heute abend nicht kommen.«
»Keinesfalls«, wehrte er ab. »Das wird schon wieder. Ich kenne diese Art von Kopfschmerzen. Sie kommen vom Schreiben und sind nach einer Stunde Schlaf wieder vorbei. Ich gehe nach oben.« Er wandte sich zur Tür. Aber dann zögerte er und drehte sich mit einem leisen Lächeln noch einmal um.
»Wenn ich im Schlaf schreie, Sassenach, leg mir die Hand auf die Stirn und sag: ›Randall ist tot.‹ Dann geht es mir wieder gut.« Bei den d’Arbanvilles erwartete uns ein vorzügliches Mahl und angenehme Gesellschaft. So kehrten wir erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Kaum hatte ich den Kopf aufs Kissen gelegt, sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Doch mitten in der Nacht wachte ich plötzlich auf und spürte, daß etwas nicht stimmte.
Wie es ihre leidige Gewohnheit war, hatte sich die Daunendecke selbständig gemacht, so daß mir nur noch die dünne Wolldecke geblieben war. Im Halbschlaf drehte ich mich um und tastete nach Jamies warmen Körper. Doch Jamie war fort.
Erschreckt setzte ich mich auf. Aber dann sah ich ihn. Er saß am Fenster und hatte den Kopf in die Hände gestützt.
»Jamie! Was ist los? Hast du wieder Kopfschmerzen?« Ich griff nach der Kerze, weil ich meinen Medizinkasten holen wollte, doch etwas an seiner Haltung veranlaßte mich, sofort zu ihm hinüberzugehen.
Er atmete schwer, als ob er einen Dauerlauf gemacht hätte, und trotz der Kälte war er schweißnaß. Seine Schultern fühlten sich hart und kalt an wie die einer Statue.
Bei meiner Berührung zuckte er zusammen und sprang auf. Mit weitaufgerissenen, leeren Augen starrte er in das dunkle Zimmer.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte ich. »Geht es dir gut?«
Ich fragte mich, ob er schlafwandelte, denn sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er blickte geradewegs durch mich hindurch, und das, was er sah, schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen.
»Jamie,!« rief ich. »Jamie, wach auf!«
Da blinzelte er und blickte mich mit der Verzweiflung eines gejagten Tieres an.
»Mir geht’s gut«, erklärte er. »Ich bin wach.« Das klang, als wollte er sich selbst davon überzeugen.
»Was ist los? Hattest du einen Alptraum?«
»Einen Traum. Aye, es war ein Traum.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Was hast du geträumt? Der Eindruck verschwindet, wenn du davon erzählst.«
Sein Griff, mit dem er mich an den Unterarmen packte, bat um meine Hilfe und hielt mich zugleich von sich fern. Im Schein des Vollmonds sah ich, daß seine Muskeln angespannt waren. Sein Körper war reglos wie Stein. Gleichzeitig bebte er vor unterdrückter Wut.
»Nein«, erwiderte er, noch immer nicht ganz wach.
»Doch«, beharrte ich. »Jamie! Sprich mit mir. Sag mir, was du siehst.«
»Ich kann nicht... ich sehe nichts. Ich kann nichts sehen.« Ich zog ihn aus den Schatten in den hellen Mondschein am Fenster. Das Licht schien ihm zu helfen, denn sein Atem wurde ruhiger. Stockend und schmerzerfüllt begann er zu sprechen.
Jamie hatte von dem steinernen Verlies in Wentworth geträumt. Und während er sprach, war es plötzlich, als stünde Jonathan Randall im Zimmer, als läge er nackt auf der Wolldecke unseres Bettes.
In seinem Traum hatte Jamie Randalls stoßweisen Atem gehört und den schweißnassen Körper auf seiner Haut gespürt. Verzweifelt hatte er die Zähne zusammengebissen. Der Mann hinter ihm hatte es bemerkt und gelacht.
»Noch ist es nicht so weit, daß wir dich hängen, mein Junge«, flüsterte er. »Erst wollen wir noch ein bißchen Spaß miteinander haben.« Randall bewegte sich ruckartig und brutal, und ohne es zu wollen, stöhnte Jamie auf.
Randall strich ihm das Haar aus der Stirn und schob es ihm hinters Ohr. Sein heißer Atem streifte Jamies Haut. Um ihm auszuweichen, drehte er den Kopf fort, doch Randalls heisere Stimme folgte ihm.
»Hast du schon mal gesehen, wie man einen Mann hängt, Fraser?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter. Dabei strich seine lange schlanke Hand über Jamies Hüfte, fuhr die Rundung seines Bauches nach und wanderte bei jedem Wort weiter abwärts.
»Natürlich hast du das. Du warst in Frankreich und hast hin und wieder zugesehen, wie man einen Fahnenflüchtigen hinrichtet. Ein Gehängter läßt seinen Darminhalt fahren, nicht wahr? Im selben Augenblick, wo sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzieht.« Die Hand griff zu, fest und zart zugleich, reibend und liebkosend. Jamie klammerte die gesunde Hand um den Bettpfosten und vergrub das Gesicht in der harten, kratzigen Wolldecke. Doch die Worte verfolgten ihn.
»Und genauso wird es dir ergehen, Fraser. Noch ein paar Stunden, und dein Hals steckt in der Schlinge.« Voller Genugtuung lachte der Mann auf. »Und wenn du in den Tod gehst, brennt dein Arsch von meinen Vergnügungen, und wenn sich dein Darm entleert, ist es mein Saft, der dir die Beine entlangläuft und auf den Boden unter dem Galgen tropft.«
Jamie gab keinen Laut von sich. Er roch sich selbst - den Gestank, der sich im Lauf seiner Gefangenschaft an ihn geheftet hatte und sich nun mit dem Geruch des Angstschweißes und der Wut mischte. Und dazu der zarte Duft des Lavendelwassers des Mannes hinter ihm.
»Die Decke«, sagte Jamie. Sein Gesicht war angespannt. »Sie kratzte an meinem Gesicht, und ich sah nichts anderes als die Wand vor mir. Nichts, woran ich mich innerlich festhalten konnte... nichts, rein gar nichts. Und so schloß ich die Augen und dachte an die Decke unter meiner Wange. Sie war alles, was ich in meinem Schmerz noch spürte... außer ihm. Und... ich hielt mich daran fest.«
»Jamie! Jetzt kannst du dich an mir festhalten.« Um seine Erregung einzudämmen, sprach ich leise. Sein Griff war so fest, daß alles Blut aus meinem Arm wich. Er hielt sich an mir fest, zugleich aber von mir fern.
Plötzlich ließ er meinen Arm los, wandte sich ab und blickte zum Vollmond, der durchs Fenster schien. Gespannt und doch bebend, wie ein Bogen, von dem gerade ein Pfeil abgefeuert worden war, stand er da. Trotzdem klang seine Stimme ruhig.
»Nein, ich will dich nicht ausnutzen, Mädel. Du sollst da nicht auch noch hineingezogen werden.«
Ich tat einen Schritt auf ihn zu, doch sein Kopfschütteln ließ mich zögern. Er wandte sich zum Fenster; sein Gesicht war ruhig, leer wie die Scheibe, durch die er nach draußen blickte.
»Leg dich schlafen, Mädel. Laß mich ein wenig allein. Kein Grund zur Sorge.«
Die Hände auf den Rahmen gestützt, stand er so am Fenster, daß er den Mondschein abfing. Seine Schultern spannten sich, und ich wußte, daß er sich mit aller Kraft gegen das Holz stemmte.
»Es war nur ein Traum. Jonathan Randall ist tot.«
Irgendwann war ich eingeschlafen. Jamie stand noch am Fenster und starrte auf den runden Mond am Himmel. Als ich im Morgengrauen erwachte, schlief auch er. Er hatte sich im Sessel am Fenster zusammengekauert, in sein Plaid gehüllt und meinen Umhang zum Schutz gegen die Kälte über sich gebreitet.
Als ich mich bewegte, wurde er wach und zeigte wieder sein altes, morgens immer so unverschämt fröhliches Ich. Doch ich konnte die Vorfälle der Nacht nicht so schnell vergessen und nahm mir nach dem Frühstück meinen Medizinkasten vor.
Zu meinem Leidwesen fehlten mir einige der Kräuter, die ich für den Schlaftrunk brauchte. Doch dann fiel mir der Mann ein, von dem Marguerite mir erzählt hatte. Raymond, der Kräuterhändler aus der Rue de Varennes. Ein Hexenmeister, hatte sie gesagt, mit einem Laden, den man sich unbedingt einmal ansehen sollte. Nun gut. Jamie würde sich den ganzen Vormittag im Lagerhaus aufhalten. Und da mir Kutsche und Lakai zur Verfügung standen, würde ich hinfahren.
An zwei Seiten des Ladens stand jeweils ein langer, blankgescheuerter Holztresen. Die Regale dahinter reichten bis zur Decke. Einige waren durch Glastüren geschützt, wahrscheinlich weil dahinter die wertvolleren und teureren Substanzen verborgen waren. Pausbäckige vergoldete Putten tummelten sich über den Schränken, bliesen ins Horn, schwenkten Bänder und wirkten samt und sonders, als hätten sie an den alkoholischen Tinkturen des Ladens genippt.
»Könnte ich mit Monsieur Raymond sprechen?« erkundigte ich mich höflich bei der jungen Frau, die hinter dem Tresen stand.
»Maitre Raymond«, verbesserte sie mich. Unelegant wischte sie sich mit dem Ärmel über die rote Nase; dann wies sie zu dem hinteren Teil des Ladens, wo dunkle Rauchwolken durch die obere Hälfte einer zweiteiligen Tür quollen.
Die Umgebung schien für einen Hexenmeister wie geschaffen. Von einer schwarzen, geschieferten Feuerstelle stieg Rauch zu den verrußten Deckenbalken auf. Auf einem Steintisch über dem Feuer standen Glasphiolen, kupferne Schnabelkannen, aus denen undefinierbare Lösungen in Becher tropften, und ein, wie es schien, funktionsfähiger Destillierkolben. Ich schnupperte. Der Alkoholdunst, der von der Feuerstelle her zu mir drang, überlagerte die zahlreichen anderen Gerüche des Ladens. Die säuberlich gespülten und aufgereihten Flaschen auf einer Anrichte verstärkten meinen Verdacht. Wie immer sein Geschärft mit Zaubermitteln und Tränken auch beschaffen sein mochte - Maitre Raymond trieb schwunghaften Handel mit hochprozentigem Kirschlikör.
Der Ladenbesitzer beugte sich gerade über die Feuerstelle und schob einige Kohlestückchen zurück auf den Rost. Doch als er mich hereinkommen hörte, richtete er sich auf und wandte sich mit einem freundlichen Lächeln zu mir um.
»Guten Tag«, sagte ich höflich zu dem kleinen Mann. Der Eindruck, eine Hexenküche betreten zu haben, war so überwältigend, daß mich auch ein Quaken als Antwort nicht verwundert hätte.
Denn Maitre Raymond ähnelte nichts so sehr wie einem großen, liebenswerten Frosch. Er maß wenig mehr als einszwanzig, hatte einen mächtigen Brustkorb und O-Beine, die dicke, feuchtklebrige Haut eines Sumpfbewohners und leicht hervorquellende, freundliche, schwarze Augen. Abgesehen von der unbedeutenden Tatsache, daß seine Haut nicht grün war, fehlten ihm nur noch die Warzen.
»Madonna!« sagte er und strahlte mich an. »Womit kann ich Ihnen zu Diensten sein?« Ihm waren alle Zähne ausgefallen, was den froschartigen Eindruck noch verstärkte. Fasziniert starrte ich ihn an.
»Bitte sehr, Madonna?« Fragend blickte er zu mir auf.
Erst jetzt wurde mir bewußt, wie unhöflich ich ihn gemustert hatte. Ich errötete und sagte wie aus der Pistole geschossen: »Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie schon mal von einem hübschen, jungen Mädchen geküßt worden sind.«
Er brach in schallendes Gelächter aus, und meine Röte wurde noch tiefer. »Viele Male. Doch wie Sie selbst sehen, hat es nichts genutzt. Quakquak.«
Wir lachten so laut, daß das Ladenmädchen beunruhigt nach uns sah. Maitre Raymond scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. Dann humpelte er hustend und sich die Seiten haltend zum Fenster, um die Bleiglasflügel zu öffnen und den Rauch abziehen zu lassen.
»Ah, das tut gut!« sagte er, während er die kühle Frühlingsluft tief einatmete. Er wandte sich wieder zu mir um und strich sich die langen Silbersträhnen zurück, die ihm bis auf die Schultern reichten. »Nun, Madonna, da wir jetzt Freunde sind, erlauben Sie mir bitte, daß ich rasch noch etwas zu Ende bringe.«
Ich gab meine Zustimmung, und er ging, noch immer glucksend, zu dem Tisch an der Feuerstelle und füllte den Destillierkolben auf. Dadurch hatte ich Zeit, meine Fassung zurückzugewinnen. Ich schlenderte durch die Werkstatt und betrachtete das erstaunliche Sammelsurium, das ich dort vorfand.
Von der Decke hing ein riesiges, wahrscheinlich ausgestopftes Krokodil. Von unten sah man lediglich die gelben Bauchschuppen, hart und glänzend wie gepreßtes Wachs.
»Das ist echt, nicht wahr?« fragte ich, während ich mich an dem rissigen Eichentisch auf einen Stuhl sinken ließ.
Lächelnd blickte Maitre Raymond nach oben.
»Mein Krokodil? Aber gewiß doch, Madonna. Es flößt meinen Kunden Vertrauen ein.« Mit dem Kopf wies er auf ein Regal, das in Augenhöhe an der Wand angebracht war. Dort waren weiße Porzellangefäße aufgereiht, ein jedes mit goldenen Schnörkeln verziert, mit Blumen- oder Tierornamenten bemalt und mit einem elegant beschrifteten Etikett versehen. Die drei in meiner Nähe trugen lateinische Namen, die ich mit einiger Mühe übersetzte: Krokodilsblut, Leber und Galle des gleichen Tiers - vermutlich sogar jenes, das in der Zugluft über uns im Laden schwebte.
Ich nahm eines der Gefäße aus dem Regal, zog den Stöpsel heraus und roch an seinem Inhalt.
»Senf«, sagte ich und zog die Nase kraus. »Und Thymian. Das Ganze in Walnußöl, scheint mir. Aber wie haben Sie es geschafft, daß es so eklig wird?« Ich kippte das Gefäß zur Seite und betrachtete prüfend die schleimige, schwarze Flüssigkeit.
»Aha! Sie tragen Ihre Nase also nicht nur zur Zierde im Gesicht!« Ein breites Grinsen überzog sein Froschgesicht und offenbarte festes, bläuliches Zahnfleisch.
»Das schwarze Zeug ist das verfaulte Fruchtfleisch eines Kürbisses«, gestand er mir, während er sich zu mir herüberbeugte und die Stimme senkte. »Und der Geruch... nun, das ist wirklich Blut.«
»Aber nicht von einem Krokodil«, wandte ich mit einem Blick nach oben ein.
»Wie kann ein junger Mensch nur so mißtrauisch sein!« sagte Raymond betrübt. »Die Damen und Herren vom Hof haben glücklicherweise größeres Vertrauen in die Natur, obwohl sie selbst nicht gerade Vertrauen einflößen. Nein, es ist Schweineblut, Madonna. Schweine sind hierzulande nun mal leichter aufzutreiben als Krokodile.«
»In der Tat«, gab ich ihm recht. »Dieses Exemplar muß Sie ein Vermögen gekostet haben.«
»Glücklicherweise habe ich es zusammen mit dem Warenbestand vom früheren Besitzer des Ladens geerbt.« Ich meinte, in den Tiefen der sanften, schwarzen Augen ein leichtes Flackern zu sehen. Doch in den letzten Tagen war ich überempfindlich geworden, was Feinheiten im Gesichtsausdruck betraf, da ich bei den Gästen der Abendgesellschaften ständig nach kleinsten Hinweisen forschte, die Jamie bei seiner Aufgabe hilfreich sein könnten.
Der stämmige kleine Ladenbesitzer beugte sich noch näher heran und legte vertrauensvoll seine Hand auf meine.
»Sie sind vom Fach, nicht wahr?« fragte er. »Obwohl Sie nicht danach aussehen.«
In einem ersten Impuls hätte ich am liebsten meine Hand fortgezogen, doch seltsamerweise war mir die Berührung angenehm. Als mein Blick auf die Eisblumen fiel, die am Rand der Bleiglasfenster wuchsen, wußte ich auch, warum: Obwohl er keine Handschuhe trug, waren seine Hände warm, was zu dieser Jahreszeit nicht gerade der Regel entsprach.
»Das hängt davon ab, was Sie damit meinen«, entgegnete ich. »Ich bin eine Heilerin.«
»Aha, eine Heilerin!« Er blickte mich neugierig an. »Das habe ich mir gedacht. Und sonst noch etwas? Weissagungen? Liebestränke?«
Ich hatte leichte Gewissensbisse, da ich an meine Wanderschaft mit Murtagh dachte, als wir im schottischen Hochland auf der Suche nach Jamie waren und für ein warmes Essen die Zukunft weissagten und Lieder sangen wie die Zigeuner.
»Nichts dergleichen«, erwiderte ich, und eine leichte Röte stieg mir ins Gesicht.
»Also zumindest keine versierte Lügnerin«, stellte er amüsiert fest. »Beinahe schade. Aber wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Madonna?«
Ich erklärte ihm meine Wünsche, die er mit einem weisen Nicken zur Kenntnis nahm. In seinem Refugium trug er weder eine Perücke, noch puderte er sich das Haar. Statt dessen strich er es sich streng aus der hohen breiten Stirn, so daß es ihm glatt auf die Schultern fiel. Dort endete es in einer so exakten Linie, als wäre es mit einem resoluten Scherenschnitt gekürzt worden.
Schon bald entwickelte sich zwischen uns ein lebhaftes Gespräch, denn er kannte sich gut aus in der Anwendung von Pflanzen und Kräutern. Immer wieder nahm er ein Gefäß aus dem Regal, schüttete ein wenig von seinem Inhalt in seine Hand und zerrieb die Blätter, damit ich daran riechen oder davon kosten konnte.
Plötzlich wurde unsere Unterhaltung von lauten Stimmen unterbrochen, die aus dem Laden zu uns drangen. Ein höchst schmuck ausstaffierter Lakai lehnte sich über den Tresen und sprach mit dem Ladenmädchen. Oder zumindest hatte er das vor. Doch seine matten Bemühungen prallten gegen einen Schwall tiefsten provenzalischen Dialekts. Ich verstand nur einen Teil, konnte aber dem Sinn im groben folgen. Irgendwie ging es um Kohl und Würste, was durchaus nicht als Kompliment gemeint war.
Ich beschäftigte mich im Geiste noch immer mit der erstaunlichen Eigenheit der Franzosen, in praktisch jeder Lebenslage aufs Essen sprechen zu kommen, als die Ladentür aufgerissen wurde. Der Lakai bekam Verstärkung, und zwar in Gestalt einer geschminkten und in Rüschen gehüllten Dame.
»Aha«, murmelte Raymond, während er unter meinem Arm hindurch das Schauspiel beobachtete, das in seinem Laden stattfand. »La Vicomtesse de Rambeau.«
»Ist sie Ihnen bekannt?« Dem Ladenmädchen war sie das augenscheinlich, denn es ließ von dem Lakaien ab und wich bis zum Regal mit Abführmitteln zurück.
»Ja, Madonna«, erwiderte Raymond nickend. »Ein Geschöpf, verwöhnt bis über beide Ohren.«
Gleich darauf sah ich auch, was er meinte, denn die fragliche Dame griff nach dem Streitobjekt, einem Glas mit eingelegten Kräutern, zielte und schleuderte es mit erstaunlicher Kraft und Treffsicherheit gegen die Glastür der Vitrine.
Es schepperte und klirrte, und dann herrschte Ruhe im Raum. Mit einem langen, knochigen Finger zeigte die Vicomtesse auf das Mädchen.
»Du«, drohte sie mit einer Stimme, die irgendwie an Metallspäne erinnerte. »Hol mir den schwarzen Trank! Auf der Stelle!«
Das Mädchen öffnete den Mund, um zu protestieren, doch als es sah, daß die Vicomtesse nach einem weiteren Gefäß griff, drehte es sich um und verließ fluchtartig den Raum.
Raymond, der dies vorausgesehen hatte, holte mit einem resignierten Seufzer eine Flasche aus dem Regal und drückte sie dem Mädchen in die Hand, als es durch die Werkstattür geschossen kam.
»Gib ihr das«, sagte er, »bevor sie weiteres Unheil anrichtet.«
Als das Mädchen zögernd in den Laden zurückkehrte, um das Gewünschte zu überbringen, wandte Raymond sich mit einem ironischen Ausdruck im Gesicht zu mir um.
»Gift für eine Nebenbuhlerin«, zwinkerte er. »Oder zumindest glaubt sie das.«
»Ach ja?« fragte ich. »Und was ist es wirklich? Faulbaumrinde?«
Bewundernd und überrascht zugleich blickte er mich an.
»Sie verstehen Ihr Handwerk«, staunte er. »Ein Naturtalent, oder sind Sie irgendwo in die Lehre gegangen? Aber eigentlich spielt das keine Rolle.« Abwinkend ließ er das Thema fallen. »Jedenfalls haben Sie recht; es ist wirklich Faulbaumrinde. Die Nebenbuhlerin wird morgen von Übelkeit geplagt sein und merklich leiden. Dies stillt den Rachedurst der Vicomtesse, und sie ist überzeugt, ein gutes Geschäft getätigt zu haben. Wenn sich die Rivalin dann erholt und keine Anzeichen einer dauerhaften Schädigung zeigt, wird es die Vicomtesse auf das Eingreifen eines Priesters oder den Gegenzauber eines Hexenmeisters zurückführen, den die andere zu diesem Zweck herbeigerufen hat.«
Ich sann nach. »Und der Schaden in Ihrem Laden?« fragte ich schließlich. Die späte Nachmittagssonne beleuchtete die Glasscherben auf dem Tisch und den einsamen Silbertaler, den die Vicomtesse zur Bezahlung hingeworfen hatte.
Raymond drehte die Hand hin und her, um anzudeuten, daß jedes Ding zwei Seiten hatte.
»Es gleicht sich aus«, erklärte er. »Wenn sie im nächsten Monat kommt und nach einem Abtreibungsmittel verlangt, werde ich ihr so viel berechnen, daß nicht nur der Schaden wieder behoben werden kann, sondern auch noch drei neue Vitrinen dabei herausspringen. Und sie wird ohne Murren zahlen.« Er lächelte kurz, aber ohne den Humor, den er zuvor noch gezeigt hatte. »Sehen Sie, es ist alles eine Frage der Zeit.«
Ich merkte, daß seine schwarzen Augen wissend über meinen Körper glitten. Obwohl man noch nichts sah, war ich mir sicher, daß er es wußte.
»Und wird das Mittel, das Sie der Vicomtesse nächsten Monat verordnen, seinen Zweck erfüllen?« erkundigte ich mich.
»Alles eine Frage der Zeit«, wiederholte er, während er abwägend den Kopf neigte. »Rechtzeitig eingenommen, tut es sein Werk. Wenn man zu lange wartet, wird es gefährlich.«
Die Warnung war nicht zu überhören, und ich lächelte ihm beruhigend zu.
»Es ist nicht für mich«, erklärte ich. »Ich frage nur aus Neugier.«
Erleichtert seufzte er auf.
»Gut. Das hätte ich auch nicht erwartet.«
Ein Poltern auf der Straße verriet, daß die blausilberne Kutsche der Vicomtesse am Laden vorbeifuhr. Der Lakai auf seinem Stand rief und winkte, während die Fußgänger sich in Hauseingänge und Torwege flüchteten, um nicht von den Rädern zerquetscht zu werden.
»A la lanterne«, murmelte ich vor mich hin. Es kam nur selten vor, daß mir meine ungewöhnliche Sicht der gegenwärtigen Entwicklungen eine derartige Befriedigung bot, doch diesmal war es wirklich der Fall.
»Hört nur, nach wem der Schinderkarren ruft«, sagte ich, zu Raymond gewandt. »Ruft er nach Euch?«
Erstaunt blickte Raymond mich an.
»Wie auch immer. Sie verwenden für einen Abführungstrank schwarze Betonien, sagten Sie? Ich ziehe die weißen vor.«
»Tatsächlich? Warum?«
Ohne uns weiter mit der Vicomtesse zu beschäftigen, setzten wir uns nieder, um unser Geschäft abzuwickeln.
Die Geliehene Zeit
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