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Wenn der Postmann zweimal
klingelt
Ich wußte nicht, was Ian Jenny von seinem Gespräch
mit Jamie draußen im Schnee erzählt hatte. Sie verhielt sich
jedenfalls ihrem Bruder gegenüber nicht anders als vorher -
nüchtern und zartbitter, mit einem Hauch liebevoller Neckerei. Ich
kannte sie jedoch lange genug, um zu wissen, daß es zu Jennys
größten Talenten gehörte, etwas mit äußerster Klarheit wahrzunehmen
- und dann einfach hindurchzusehen, als wäre es gar nicht
vorhanden.
Die Beziehung zwischen uns vieren entwickelte sich
ständig weiter, und im Laufe der Monate entstand ein starkes Band,
das auf Freundschaft gründete und in der Arbeit wurzelte.
Gegenseitige Achtung und gegenseitiges Vertrauen waren einfach
notwendig - es gab soviel zu tun.
Als Jennys Entbindung näher rückte, übernahm ich
mehr und mehr häusliche Pflichten, und sie überließ mir immer
häufiger die Führung. Es wäre mir jedoch niemals in den Sinn
gekommen, ihren Platz einnehmen zu wollen. Seit dem Tod ihrer
Mutter war sie die Seele von Haus und Hof, und die Dienstboten und
Pächter kamen meistens zu ihr, wenn sie etwas benötigten. Dennoch
gewöhnten sie sich nach und nach auch an mich und behandelten mich
mit freundlicher, teils ehrfürchtiger, teils zutraulicher
Achtung.
Die erste Arbeit im Frühjahr war das
Kartoffellegen. Über die Hälfte der Felder war für den
Kartoffelanbau vorgesehen - eine Entscheidung, deren Richtigkeit
bald durch einen Hagelsturm bestätigt wurde, der die jungen
Gerstenpflänzchen zerstörte. Die niedrigen Kartoffelstauden
überstanden das Unwetter ohne Schaden.
Das zweite große Ereignis des Frühjahrs war die
Geburt von Jennys und Ians zweiter Tochter Katherine Mary. Sie kam
mit einer so blitzartigen Geschwindigkeit zur Welt, daß jedermann
überrascht war, sogar Jenny. Eines Tages klagte Jenny über
Rückenschmerzen
und legte sich ins Bett. Doch schon wenig später wurde klar, was
wirklich los war, und Jamie holte eilends Mrs. Martins, die
Hebamme. Die beiden trafen gerade noch rechtzeitig ein, um mit
einem Gläschen Wein auf die Ankunft der neuen Erdenbürgerin
anzustoßen.
So nahm das Jahr seinen Lauf, die Natur erblühte,
und auch ich blühte auf, und meine letzten Wunden verheilten.
Die Post traf sehr unregelmäßig ein, manchmal kam
sie einmal pro Woche, manchmal einen Monat lang gar nicht. Doch
angesichts der langen Wege, die ein Bote zurücklegen mußte, um die
Post im Hochland abzuliefern, hielt ich es für ein Wunder, daß
überhaupt Briefe ankamen.
An diesem Tag traf jedoch ein großer Stapel Briefe
und Bücher ein, die zum Schutz gegen Unwetter in Ölpapier
eingeschlagen und fest verschnürt waren. Jenny schickte den Boten
in die Küche, damit er sich dort stärke, löste vorsichtig den
Knoten und steckte, sparsam, wie sie war, die Schnur in ihre
Rocktasche. Dann legte sie ein verführerisch aussehendes Paket aus
Paris beiseite und ging zunächst einmal den Briefstapel
durch.
»Ein Brief für Ian - das wird die Rechnung für das
Saatgut sein - und einer von Tante Jocasta - wie schön. Wir haben
seit Monaten nichts von ihr gehört, aber der festen Schrift nach zu
urteilen, geht es ihr gut.«
Jenny legte den Brief auf ihren Stapel, ebenso
einen Brief von einer der verheirateten Töchter Jocastas. Dann war
da noch ein Brief für Ian aus Edinburgh, einer für Jamie von Jared
und noch einer, ein dicker, cremefarbener Bogen, versiegelt mit dem
königlichen Siegel des Hauses Stuart. Wahrscheinlich eine erneute
Klage von Charles über die Unbilden des Pariser Lebens und die
Qualen verschmähter Liebe. Diesmal schien sein Brief wenigstens
nicht so lang zu sein; gewöhnlich waren es mehrere Seiten, auf
denen Charles dem »cher Jamie« sein Herz ausschüttete - in
einem fehlerhaften Kauderwelsch aus vier Sprachen, das darauf
schließen ließ, daß er bei seiner persönlichen Korrespondenz auf
die Hilfe eines Sekretärs verzichtete.
»Oh, drei französische Romane und ein Gedichtband
aus Paris!« rief Jenny aufgeregt aus, als sie das Päckchen geöffnet
hatte. »C’est un embarras de ricbesse, hm? Welchen lesen wir
heute abend?« Sie hob den kleinen Bücherstapel hoch und strich
freudig erregt über
den weichen Ledereinband des obersten Buches. Jenny liebte Bücher
mit derselben Leidenschaft, die ihr Bruder für Pferde empfand. Das
Gut besaß eine ansehnliche kleine Bibliothek, und war auch die
freie Zeit zwischen Arbeit und Schlafengehen kurz bemessen, so
blieb doch immer noch Zeit für ein paar Minuten Lektüre.
»Da hat man etwas, worüber man während der Arbeit
nachdenken kann«, erklärte Jenny, als sie eines Abends vor
Müdigkeit kaum noch die Augen offenhalten konnte. Ich drängte sie,
schlafen zu gehen, statt weiter aufzubleiben und Ian, Jamie und mir
laut vorzulesen. Sie gähnte und hielt sich dabei die Faust vor den
Mund. »Auch wenn ich schrecklich müde bin und kaum noch die
Buchstaben auf der Seite sehe, erinnere ich mich am nächsten Tag
beim Buttern, Spinnen oder Walken an das, was ich gelesen habe, und
im Geist schlage ich sogar die Seiten um.«
Bei der Erwähnung des Walkens mußte ich mir ein
Schmunzeln verkneifen. Die Frauen von Lallybroch waren bestimmt die
einzigen im Hochland, die ihre Wolle nicht nur zu den alten
überlieferten Liedern, sondern auch zu den Versen von Molière und
Piron walkten.
Deutlich sah ich ein Bild des Schuppens vor mir, in
dem die Frauen einander in zwei Reihen gegenübersaßen, barfuß und
in ihren ältesten Kleidern, und sich gegen die Wände lehnten und
mit den Füßen gegen die tropfnasse Wolltuchbahn schlugen. Auf diese
Weise entstand das dichte, filzige Gewebe, das der Hochlandnebel
und selbst leichter Regen nicht zu durchdringen vermag.
Hin und wieder stand eine der Frauen auf und holte
von draußen den Kessel mit dem dampfenden Urin vom Feuer. Mit
geschürztem Rock schleppte sie den Kessel in die Mitte des Raumes,
stellte sich breitbeinig hin und goß den Inhalt auf das Tuch
zwischen ihren Beinen. Die heißen, erstickenden Dämpfe stiegen aus
der nassen Wolle auf, während die Walkerinnen ihre Füße vor den
Spritzern in Sicherheit brachten und grobe Scherze machten.
»Heißer Urin fixiert die Farbe«, hatte mir eine der
Frauen erklärt, als ich voller Erstaunen zum erstenmal den Schuppen
betrat. Zuerst hatten die anderen Frauen neugierig aufgeblickt und
beobachtet, ob ich vor einer derartigen Arbeit zurückschrecken
würde, aber Wollewalken war für mich kein großer Schock - nach
allem, was ich in Frankreich gesehen und erlebt hatte, im Krieg
1944 und im Spital 1944. Die grundlegenden Erfahrungen des Lebens
sind zu
allen Zeiten gleich. Und einmal abgesehen von dem scharfen Geruch,
war der Schuppen ein warmer, gemütlicher Ort. Die Frauen
plauderten, scherzten und sangen, während sie ihre nackten Füße in
den dampfenden Stoff einsinken ließen.
Ich wurde durch das Geräusch schwerer Stiefel im
Flur aus meinen Gedanken gerissen. Ein Schwall kalter, feuchter
Luft schwappte herein, als die Tür aufging. Ich hörte die Stimmen
von Jamie und Ian, die Gälisch miteinander sprachen - in jener
behäbigen, unspektakulären Art, die bedeutete, daß sie über die
Landwirtschaft redeten.
»Dieser Acker muß nächstes Jahr entwässert werden«,
sagte Jamie, während sie zur Tür hereinkamen. Als Jenny die beiden
erblickte, legte sie die Post auf den Tisch und holte frische
Leinenhandtücher aus der Truhe im Flur.
»Trocknet euch ab, bevor ihr den ganzen Teppich
naßtropft«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch
duldete, und reichte jedem ein Handtuch. »Und zieht eure
schmutzigen Stiefel aus. Die Post ist gekommen, Ian - für dich ist
ein Brief von dem Mann aus Perth dabei, dem du wegen der
Saatkartoffeln geschrieben hattest.«
»Aye? Ich lese ihn gleich, aber können wir nicht
zuerst etwas zu essen haben?« fragte Ian und rieb sich den Kopf mit
dem Handtuch trocken. »Ich bin am Verhungern, und ich höre Jamies
Magen bis hierher knurren.«
Jamie schüttelte sich wie ein nasser Hund, und
seine Schwester protestierte mit einem spitzen Schrei, als die
Tropfen überall im Flur herumspritzten. Sein Hemd klebte ihm am
Körper, und sein nasses Haar hing ihm in die Augen.
Ich legte ihm das Handtuch um die Schultern.
»Trockne dich ab, ich hole inzwischen etwas zu essen.«
Ich stand in der Küche, als ich ihn aufschreien
hörte. Niemals zuvor hatte ich einen solchen Laut aus seinem Mund
vernommen. In seiner Stimme lagen Schock und Entsetzen und noch
etwas - etwas fatalistisch Ergebenes, wie der Schrei eines
Menschen, der sich in den Klauen eines Tigers rettungslos verloren
glaubt. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, rannte ich
durch den Flur in das Wohnzimmer, ein Tablett mit Haferkuchen in
der Hand.
Als ich eintrat, stand er am Tisch, auf den Jenny
die Post gelegt
hatte. Sein Gesicht war kreidebleich, und er taumelte wie ein
entwurzelter Baum.
»Was ist?« rief ich, zu Tode erschrocken bei diesem
Anblick. »Jamie, was ist? Was ist los!?«
Mit sichtlicher Anstrengung nahm er einen Brief vom
Tisch und reichte ihn mir.
Ich stellte das Tablett ab, griff nach dem Blatt
Papier und überflog es rasch. Es war Jareds Brief. »Mein lieber
Cousin«, las ich, »... hocherfreut, kann meine Bewunderung gar
nicht mit Worten ausdrücken... Dein Mut und Deine Tapferkeit werden
mir ein Ansporn sein... von Erfolg gekrönt... meine Gebete werden
Dich begleiten...« Ich blickte verwirrt von dem Brief auf. »Wovon
um Himmels willen spricht er? Was hast du getan, Jamie?«
Er grinste freudlos und reichte mir ein weiteres
Blatt Papier, diesmal ein billig bedrucktes Flugblatt.
»Es geht nicht darum, was ich gemacht habe,
Sassenach«, erwiderte er. Das Flugblatt trug das Wappen des
Königshauses der Stuarts. Die Botschaft, die es enthielt, war knapp
und feierlich.
Durch den Ratschluß des Allmächtigen Gottes, hieß
es darin, mache König James VIII. von Schottland und der III. von
England und Irland hiermit seinen rechtmäßigen Anspruch auf den
Thron der drei Königreiche geltend. Hiermit hätten auch die
Oberhäupter der Hochlandclans, die jakobitischen Lords sowie
»weitere treue Untertanen seiner Majestät König James ihre
Unterstützung zugesichert, indem sie ihre Namen unter diesen
Bündnisvertrag setzten«.
Mir wurde eiskalt, als ich dies las, und eine
lähmende Angst stieg in mir auf, die mir beinahe die Luft
abschnürte. Meine Ohren dröhnten, und mir wurde schwarz vor
Augen.
Das Blatt war unterzeichnet von den schottischen
Clanoberhäuptern, die damit aller Welt ihre Treue zu Charles Stuart
erklärten und ihr Leben und ihr Ansehen dem Erfolg seiner Sache
widmeten. Unter anderem standen da die Namen Clanranald und
Glengarry, Stewart von Appin, Alexander MacDonald von Keppoch,
Angus MacDonald von Scotus.
Und ganz unten: »James Alexander Malcolm MacKenzie
Fräser von Broch Tuarach.«
»Jesus H. Roosevelt Christ«, flüsterte ich
und wünschte, mir fiele ein stärkerer Fluch ein, mit dem ich mir
hätte Luft machen
können. »Der verdammte Dreckskerl hat einfach deinen Namen
daruntergesetzt!«
Jamie stand da, bleich und angespannt, doch er
erholte sich allmählich von seinem Schrecken.
»Das hat er«, entgegnete er kurz. Er griff nach dem
anderen Brief, der noch ungeöffnet auf dem Tisch lag - schweres
Pergament mit dem Wappen der Stuarts auf dem Wachssiegel.
Ungeduldig riß Jamie den Brief auf, überflog ihn hastig und legte
ihn dann auf den Tisch, als hätte er sich daran verbrannt.
»Eine Ausrede«, sagte er heiser. »Aus Zeitmangel
hat er mir das Dokument angeblich nicht schicken können, damit ich
es selbst unterzeichne. Und seine Dankbarkeit für meine treue
Unterstützung. Claire, um Himmels willen, was soll ich bloß
machen?«
Es war ein verzweifelter Hilferuf, und ich wußte
keine Antwort darauf. Ohnmächtig sah ich zu, wie er auf ein
Kniekissen sank und reglos ins Feuer starrte.
Jenny, die die Szene wie versteinert beobachtet
hatte, nahm jetzt den Brief und das Flugblatt und las sie
aufmerksam. Dann legte sie die Schriftstücke behutsam auf den
blankpolierten Tisch zurück. Mit finsterer Miene ging sie zu ihrem
Bruder und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Jamie«, sagte sie leise. Ihr Gesicht war blaß. »Du
kannst nur eins machen, mein Lieber. Du mußt losziehen und für
Charles Stuart kämpfen. Du mußt ihm beistehen, damit er den Kampf
gewinnt.«
Jenny hatte recht, doch in meinem Schock gelang es
mir nicht sofort, den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Die
Veröffentlichung dieses Bündnisvertrags brandmarkte jene, die
unterzeichnet hatten, als Rebellen und Verräter. Es spielte jetzt
keine Rolle mehr, wie Charles bis an diesen Punkt hatte gelangen
können oder wie er die Mittel dafür aufgetrieben hatte; er hatte
sich zur Rebellion entschlossen, und Jamie - und damit auch ich -
saßen nolens volens mit ihm in einem Boot. Wie Jenny gesagt hatte:
Wir hatten keine andere Wahl.
Mein Blick fiel auf den Brief von Charles, den
Jamie hatte sinken lassen. »... auch wenn viele sagen, es wäre
töricht, mich ohne Hilfe von Louis - oder au moins seiner banques -
auf dies Werk einzulassen. Ich werde niemals erwägen, wieder
dorthin zurückzukehren, woher ich kam«, hieß es darin. »Freuen Sie
sich mit mir, my dear friend, denn ich kehre in die Heimat
zurück.«