19
Der Eid
Die Uhr auf dem Kaminsims tickte aufdringlich
laut. Es war das einzige Geräusch im Haus, abgesehen von dem
Knarren der Dielen und den gedämpften Lauten aus der Küche, wo die
Dienstboten noch arbeiteten. Von Lärm jedweder Art hatte ich für
die nächste Zeit genug. Ich brauchte Ruhe, um wieder zu mir zu
finden. Also öffnete ich das Uhrgehäuse und entfernte das
Zuggewicht. Sofort hörte das Ticken auf.
Zweifelsfrei lag die Abendgesellschaft der Saison
hinter mir. Wer nicht das Glück gehabt hatte, sie mitzuerleben,
würde noch Monate später behaupten, dabeigewesen zu sein, und zur
Bekräftigung mit Klatsch und verzerrten Schilderungen
aufwarten.
Es war mir schließlich gelungen, Marys habhaft zu
werden und ihr noch ein Quentchen Mohnsaft einzuflößen. Daraufhin
sank sie zu Boden, und ich konnte mich der Auseinandersetzung
zwischen Jamie, dem General und Mr. Hawkins zuwenden. Da Alex
klugerweise beschlossen hatte, noch eine Weile ohnmächtig zu
bleiben, bettete ich seinen erschlafften Körper neben Marys auf den
Treppenabsatz, und da lagen sie nun wie tote Makrelen. Daß sie auch
ein wenig an Romeo und Julia - aufgebahrt auf dem Marktplatz, als
Anklage gegen ihre Verwandten - erinnerten, war Mr. Hawkins
offensichtlich entgangen.
»Ruiniert!« schrie er immer wieder mit schriller
Stimme. »Sie haben meine Nichte ruiniert! Nun wird sie der Vicomte
niemals heiraten! Dreckiger schottischer Schweinehund! Sie und Ihre
Schlampe!« Er wandte sich zu mir um. »Hure! Kupplerin! Bringt
unschuldige junge Mädchen in ihre Gewalt, damit dieser elende
Abschaum sein Vergnügen hat! Sie...« Mit grimmiger Miene legte
Jamie die Hand auf Mr. Hawkins Schulter, drehte ihn um und vesetzte
ihm einen Faustschlag, der ihn unterhalb seiner fleischigen
Wange traf. Dann rieb er sich geistesabwesend die schmerzenden
Fingerknöchel und beobachtete, wie der Weinhändler die Augen
verdrehte. Mr. Hawkins fiel rückwärts gegen die Holzvertäfelung,
glitt zu Boden und blieb mit dem Rücken zur Wand sitzen.
Jamie musterte mit kaltem Blick General
d’Arbanville, der angesichts des Schicksals seines Mitstreiters die
Weinflasche, die er geschwungen hatte, abstellte und einen Schritt
zurücktrat.
»Nur weiter so!« ließ sich eine Stimme hinter
meinem Rücken vernehmen. »Warum jetzt aufhören, Tuarach? Schlagen
Sie doch alle drei nieder! Machen Sie reinen Tisch!« Angewidert
blickten sowohl der General als auch Jamie auf die elegante Gestalt
hinter mir.
»Scheren Sie sich fort, St. Germain. Diese Sache
geht Sie nichts an«, sagte Jamie müde, aber laut genug, um sich bei
dem Lärm von unten verständlich zu machen. Die Naht seines Rockes
war an der Schulter geplatzt, so daß die Falten des weißen
Leinenhemds hervorlugten.
St. Germain verzog seine schmalen Lippen zu einem
Lächeln. Offensichtlich amüsierte sich der Comte großartig.
»Es geht mich nichts an? Gehen derartige
Vorkommnisse einen Verfechter von Anstand und Moral etwa nichts
an?« Belustigt betrachtete er die stattliche Anzahl lebloser Körper
auf dem Treppenabsatz. »Wenn ein Gast Seiner Majestät die
Gastfreundschaft so pervertiert, daß er ein Bordell in seinem Hause
führt, ist das nicht - nein, lassen Sie es besser!« sagte er, als
Jamie einen Schritt auf ihn zuging. Plötzlich funkelte in St.
Germains Hand eine Klinge, die wie durch Zauberei aus der üppigen
Spitze um sein Handgelenk geglitten war. Ich sah, wie Jamie
verächtlich den Mund verzog und in Kampfposition ging.
»Schluß damit!« befahl eine energische Stimme. Die
beiden Duverneys drängten sich auf den bereits überfüllten
Treppenabsatz. Duverney der Jüngere drehte sich um und gebot der
Menge auf der Treppe mit ausladenden Armbewegungen, Platz zu
machen. Eingeschüchtert von seinem finsteren Blick, wichen die
Gäste immerhin einen Schritt zurück.
»Sie«, wandte sich der Duverney der Ältere an St.
Germain. »Wenn Sie tatsächlich für Anstand und Moral eintreten, wie
Sie vorgeben, so können Sie sich nützlich machen, indem Sie einige
der Zeugen dieses traurigen Schauspiels hinausbegleiten.«
Der Adlige fixierte den Bankier mit einem eisigen
Blick, zuckte dann aber die Schultern und ließ den Dolch
verschwinden. Wortlos machte er kehrt und bahnte sich seinen Weg
die Treppe hinunter, wobei er die vor ihm Stehenden hinunterdrängte
und mit lauter Stimme zum Gehen aufforderte.
Doch ungeachtet dieser Anstrengungen brach der
Großteil der Gäste erst auf, als die Leibgarde des Königs
eintraf.
Kaum hatte sich Mr. Hawkins erholt, zeigte er
Jamie, den er der Entführung und Kuppelei bezichtigte, an. Einen
Augenblick lang dachte ich, Jamie würde ihn erneut niederschlagen.
Schon schwollen die Muskeln unter dem azurblauen Samt, doch dann
besann er sich eines Besseren.
Nach einigem Hin und Her, verworrenen
Beschuldigungen und Erklärungen ließ sich Jamie schließlich ins
Hauptquartier der Leibgarde in der Bastille abführen, wo sich die
Sache - vielleicht - aufklären würde.
Der bleiche, schwitzende Alex Randall, der
offensichtlich keine Ahnung hatte, was eigentlich los war, wurde
ebenfalls festgenommen. Der Herzog, sein Arbeitgeber, überließ den
Sekretär seinem Schicksal - er hatte unauffällig seine Kutsche
vorfahren lassen und war noch vor dem Eintreffen der Leibgarde
verschwunden. Ganz gleich, in welcher diplomatischen Mission er
unterwegs war, die Verwicklung in einen Skandal wäre ihm nicht
dienlich gewesen. Die immer noch bewußtlose Mary Hawkins wurde ins
Haus ihres Onkels gebracht.
Ich selbst entging nur knapp der Festnahme, denn
Jamie lehnte dieses Ansinnen schlichtweg ab, da ich guter Hoffnung
sei und ein Gefängnisaufenthalt keinesfalls in Frage käme. Als der
Hauptmann der Leibgarde erkannte, daß Jamie durchaus bereit war, um
dieser Sache willen weitere Männer niederzuschlagen, gab er
schließlich nach, aber nur unter der Bedingung, daß ich versprach,
die Stadt nicht zu verlassen. Der Gedanke, aus Paris zu fliehen,
hatte zwar einiges für sich, aber ich konnte wohl kaum ohne Jamie
abreisen, also gab ich ohne Zögern meine parole
d’honneur.
In dem allgemeinen Durcheinander, das in der Halle
herrschte, sah ich Murtagh, der mit zerschundenem Gesicht und
grimmiger Miene am Rande der Menge wartete. Offenbar beabsichtigte
er, Jamie zu begleiten, wo immer er hinging, und ich fühlte mich
erleichtert. Wenigstens war mein Mann nicht allein.
»Mach dir keine Sorgen, Sassenach.« Jamie umarmte
mich hastig und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin beizeiten wieder
da. Wenn etwas schiefgeht...« Er zögerte, dann sagte er fest: »Es
wird nicht nötig sein, aber wenn du eine Freundin brauchst, geh zu
Louise de La Tour.«
»Das werde ich.« Es blieb uns nur Zeit für einen
flüchtigen Kuß, bevor ihn die Wachen abführten.
Die Haustür öffnete sich, und ich sah, wie sich
Jamie umwandte, Murtagh erblickte und den Mund öffnete, als wollte
er ihm etwas sagen. Murtagh legte die Hände an sein Schwertgehenk
und bahnte sich mit entschlossener Miene einen Weg zu Jamie, wobei
er Duverney den Jüngeren fast auf die Straße stieß. Es folgte ein
kurzer, stummer Machtkampf, der nur mit wütenden Blicken
ausgetragen wurde. Schließlich zuckte Jamie die Schultern und hob
resigniert die Hände.
Er trat auf die Straße hinaus, ohne sich um die
Wachleute zu kümmern, die ihn von allen Seiten bedrängten. Doch als
er am Tor eine kleine Gestalt erblickte, hielt er inne. Er beugte
sich hinunter, sagte etwas, und als er sich aufrichtete, sah er
sich noch einmal lächelnd zu mir um. Im Laternenlicht konnte ich
sein Gesicht genau erkennen. Er nickte auch Monsieur Duverney dem
Älteren zu, stieg in die wartende Kutsche - Murtagh war hinten
aufgesprungen -, und fort waren sie.
Fergus stand auf der Straße und schaute der Kutsche
nach, bis sie in der Dunkelheit verschwand. Dann kam er festen
Schritts die Treppe herauf, nahm mich an der Hand und führte mich
ins Haus.
»Kommen Sie, Madame«, sagte er. »Der Herr hat
gesagt, ich soll mich um Sie kümmern, bis er wieder da ist.«
Fergus schlüpfte nun in den Salon und schloß
geräuschlos die Tür hinter sich.
»Ich habe meinen Rundgang durchs Haus gemacht,
Madame«, flüsterte er. »Alles in Ordnung.« Trotz meines Kummers
mußte ich bei seinem Tonfall lächeln, denn er ahmte unüberhörbar
Jamie nach. Sein Idol hatte ihn mit einer Aufgabe betraut, und
offensichtlich nahm er seine Pflichten ernst.
Er hatte mich in den Salon begleitet und
anschließend seine Runde durchs Haus gemacht, wie Jamie es jeden
Abend tat, um zu prüfen, ob die Feuer mit Asche bedeckt und die
Riegel an den
Fensterläden und die Querbalken an den Außentüren - die Fergus
kaum hätte heben können - fest verschlossen waren.
»Sie sollten sich ausruhen, Madame«, sagte er.
»Keine Sorge, ich bin ja da.«
Ich lachte nicht, lächelte ihn aber an. »Jetzt
könnte ich nicht schlafen, Fergus. Ich bleibe einfach noch eine
Weile hier sitzen. Aber vielleicht gehst du besser ins Bett. Du
hast eine schrecklich lange Nacht hinter dir.« Es widerstrebte mir,
ihn ins Bett zu schikken, da ich seiner neugewonnenen Würde als
stellvertretender Hausherr keinen Abbruch tun wollte, doch seine
Erschöpfung war nicht zu übersehen. Er ließ die zarten, knochigen
Schultern hängen, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe.
Fergus gähnte schamlos, schüttelte aber den Kopf.
»Nein, Madame. Ich bleibe bei Ihnen... wenn Sie es erlauben.« fügte
er hastig hinzu.
»Ich habe nichts dagegen.« Offenbar war er zu müde,
um zu plaudern oder in gewohnter Weise herumzuzappeln, und die
Gesellschaft eines schläfrigen Kindes hatte etwas Tröstliches, so
wie die Anwesenheit eines Hundes oder einer Katze.
Ich starrte ins Kaminfeuer und versuchte, eine
heiter-gelassene Gemütsverfassung heraufzubeschwören; ich stellte
mir stille Seen, Waldlichtungen, selbst den düsteren Frieden einer
Kapelle vor. Aber es half alles nichts, über die Bilder des
Friedens legten sich die Eindrücke des vergangenen Abends: brutale
Hände, weißschimmernde Zähne, die furchterregend aus der Dunkelheit
auftauchten; Marys bleiches, verzweifeltes Gesicht neben dem von
Alex Randall; die haßerfüllten Schweinsaugen von Mr. Hawkins; das
plötzliche Mißtrauen in den Zügen des Generals und der Duverneys;
St. Germains unverhohlene Freude über den Skandal. Und zuletzt
Jamies Lächeln, halb selbstbewußt, halb unsicher im Licht- und
Schattenspiel der Laternen.
Was, wenn er nicht wiederkam? Das war der Gedanke,
den ich zu unterdrücken versuchte, seit sie ihn abgeführt hatten.
Wenn es ihm nicht gelang, sich von den Anschuldigungen
reinzuwaschen? Wenn der Richter Vorbehalte gegen Ausländer hatte -
mehr Vorbehalte als üblich, verbesserte ich mich -, dann konnte er
leicht auf unbegrenzte Zeit in Gewahrsam genommen werden. Und die
Furcht, daß diese unvorhergesehene Krise die Arbeit von Wochen
zunichte machte, wurde überlagert von der Vorstellung, wie Jamie in
einer
Zelle lag, ähnlich jener in Wentworth. Angesichts der
gegenwärtigen Krise erschien die Nachricht, daß Charles Stuart in
Wein investierte, unbedeutend.
In meiner Einsamkeit hatte ich nun genug Zeit zum
Nachdenken, doch meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wer war
»La Dame Blanche«? Was hatte es mit der »weißen Dame« auf
sich, und warum hatten die Angreifer bei der Nennung ihres Namens
die Flucht ergriffen?
Dann wanderten meine Gedanken zu der
Abendgesellschaft und den Bemerkungen des Generals über die Banden,
die die Straßen von Paris unsicher machten und denen teilweise auch
Adelige angehörten. Das paßte zu der Sprache und Kleidung des
Anführers, obwohl seine Gefährten erheblich rauher ausgesehen
hatten. Ich überlegte, ob der Mann Ähnlichkeit mit jemandem hatte,
den ich kannte, doch ich sah ihn nur undeutlich vor mir - es war
dunkel gewesen, und die Erinnerung war durch den Schock
getrübt.
Insgesamt hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Comte de St. Germain, obwohl die Stimme anders war. Doch wenn der
Comte beteiligt war, hätte er dann nicht seine Stimme verstellt?
Zugleich fand ich es völlig unglaublich, daß der Comte imstande
sein könnte, uns erst zu überfallen und mir dann zwei Stunden
später am Tisch gegenüberzusitzen und in aller Seelenruhe seine
Suppe zu löffeln.
Niedergeschlagen fuhr ich mir durchs Haar. Jetzt
konnte ich nichts unternehmen. Wenn Jamie am Morgen noch nicht
zurück war, dann konnte ich der Reihe nach Bekannte und mutmaßliche
Freunde aufsuchen; vielleicht wußte einer von ihnen Neuigkeiten
oder bot seine Hilfe an. Aber während der Nachtstunden war ich
machtlos, bewegungsunfähig wie eine in Bernstein gefangene
Libelle.
Ungeduldig zerrte ich an einer der mit Brillanten
besetzten Haarnadeln. Sie hatte sich in meinen Haaren verfangen und
wollte sich nicht lösen.
»Autsch!«
»Warten Sie, Madame. Ich hol’ sie heraus.«
Ich hatte nicht gehört, wie er hinter mich getreten
war, aber ich spürte Fergus’ schmale, geschickte Finger an meinem
Kopf, die den Haarschmuck herauszogen. »Die anderen auch,
Madame?«
»O danke, Fergus«, sagte ich erleichtert. »Wenn es
dir nichts ausmacht.«
Leicht und sicher war die kleine Hand des
Taschendiebs, und bald fielen mir die dichten Locken auf die
Schultern. Während sich Strähne für Strähne löste, ging auch mein
Atem allmählich etwas ruhiger.
»Sie machen sich Sorgen, Madame?« fragte die leise
Stimme hinter mir.
»Ja«, sagte ich, zu müde, um Tapferkeit zu
heucheln.
»Ich auch«, sagte er schlicht.
Die letzte Haarnadel fiel auf den Tisch, und ich
sank mit geschlossenen Augen im Sessel zusammen. Dann spürte ich
wieder eine Berührung; Fergus begann, meine Haare zu bürsten und
vorsichtig zu entwirren.
»Sie erlauben, Madame?« fragte er, da er mein
plötzliches Zusammenzucken bemerkte. »Die Damen haben immer gesagt,
es täte ihnen gut, wenn sie besorgt oder aufgeregt waren.«
Ich entspannte mich unter der angenehmen
Berührung.
»Ich erlaube es«, erwiderte ich. »Danke.« Nach
einer Weile fragte ich: »Welche Damen, Fergus?«
Er zögerte kurz, dann fuhr er sanft mit seiner
Tätigkeit fort.
»In dem Haus, wo ich früher geschlafen habe,
Herrin. Ich durfte nicht herauskommen wegen der Kunden, aber Madame
Elise ließ mich in einem Kämmerchen unter der Treppe schlafen,
solange ich ruhig war. Und gegen Morgen, wenn die ganzen Männer
gegangen waren, kam ich heraus, und manchmal teilten die Damen ihr
Frühstück mit mir. Ich half ihnen oft beim Anziehen, mit all den
kleinen Verschlüssen - sie sagten, niemand sei so geschickt wie
ich«, fügte er stolz hinzu, »und ich kämmte ihnen das Haar, wenn
sie es wünschten.«
»Mhm.« Das leise Geräusch der Bürste, die durch
mein Haar glitt, wirkte hypnotisch. Da die Uhr auf dem Kaminsims
stillstand, wußte ich nicht, wie spät es war, aber die Stille
draußen auf den Straßen verriet, daß es tiefe Nacht sein
mußte.
»Wie kam es, daß du bei Madame Elise übernachten
durftest, Fergus?« fragte ich mit mühsam unterdrücktem
Gähnen.
»Ich bin dort geboren, Madame«, gab er zur Antwort.
Seine Bewegungen verlangsamten sich, und seine Stimme wurde
schläfrig. »Ich habe mich immer gefragt, welche der Damen meine
Mutter ist, aber ich habe es nie herausgefunden.«
Ich wurde wach, als sich die Tür des Salons
öffnete. Im grauen Licht des frühen Morgens sah ich Jamie. Trotz
seiner Blässe und der müden, geröteten Augen hatte er ein Lächeln
auf den Lippen.
»Ich hatte Angst, daß du nicht wiederkommst«, sagte
ich, als er einen Augenblick später seinen Kopf an meiner Brust
barg. Sein Haar roch nach abgestandenem Rauch und Talgkerzen, und
mit seinem Rock war nun wirklich kein Staat mehr zu machen. Aber
ich spürte seine Wärme und Nähe, was kümmerte mich da der Geruch
seiner Haare.
»Ich auch«, sagte er leise, und ich ahnte sein
Lächeln. Er drückte mich fest an sich, dann ließ er mich los,
setzte sich auf und strich mir die Locken aus dem Gesicht.
»Mein Gott, bist du schön«, sagte er zärtlich.
»Unfrisiert, unausgeschlafen, mit offener Mähne. Süße Geliebte.
Hast du die ganze Nacht hier gesessen?«
»Ich bin nicht die einzige.« Ich deutete auf den
Boden, wo sich Fergus auf dem Teppich zusammengerollt hatte. Sein
Kopf lag auf einem Kissen zu meinen Füßen. Der Junge bewegte sich
im Schlaf, und sein voller, rosiger Kindermund war ein wenig
geöffnet.
Jamie legte ihm sanft die Hand auf die
Schulter.
»Komm, mein Kleiner. Du hast deine Herrin gut
bewacht.« Er nahm den Jungen hoch, legte ihn an seine Schulter und
murmelte: »Du bist ein guter Mann, Fergus, du hast dir deinen
Schlaf verdient. Komm jetzt ins Bett.« Überrascht riß Fergus die
Augen auf, dann fielen sie ihm wieder zu, und er entspannte sich
und nickte wieder ein.
Als Jamie in den Salon zurückkehrte, hatte ich die
Fensterläden geöffnet und das Feuer wieder angefacht. Abgesehen von
dem verdorbenen Rock, den er abgelegt hatte, trug er noch die
eleganten Kleider vom Vorabend.
»Hier.« Ich reichte ihm ein Glas Wein, das er
stehend in drei Zügen leerte. Er schüttelte sich, sank auf das
kleine Sofa und hielt mir den Becher zum Nachfüllen hin.
»Du bekommst keinen Tropfen«, erklärte ich, »bis du
mir erzählt hast, was los ist. Du bist nicht im Gefängnis, also
vermute ich, daß alles in Ordnung ist, aber -«
»Nicht in Ordnung, Sassenach«, fiel er mir ins
Wort, »aber es könnte schlimmer sein.«
Nach langem Hin und Her - und endlosen Tiraden
seitens Mr.
Hawkins’, der immer wieder seinen ersten Eindruck schilderte -
entschied der mürrische Richter, den man aus dem warmen Bett geholt
hatte, um die improvisierte Untersuchung zu leiten, daß Alex
Randall als einer der Angeklagten wohl kaum als unparteiischer
Zeuge vernommen werden könne. Ebensowenig ich als Ehefrau und
mögliche Komplizin des anderen Angeklagten. Murtagh war seiner
eigenen Aussage zufolge zur Zeit des angeblichen Überfalls
besinnungslos gewesen, und das Kind Claudel wurde als Zeuge nicht
zugelassen.
Offensichtlich, so erklärte der Richter mit einem
zornigen Seitenblick auf den Hauptmann der Garde, war die einzige
Person, die Licht in die Sache bringen konnte, Mary Hawkins. Doch
den Aussagen zufolge sei sie im Augenblick nicht dazu imstande. Aus
diesem Grunde sollten alle Beschuldigten in der Bastille unter
Gewahrsam genommen werden, bis Mademoiselle Hawkins
vernehmungsfähig sei. Und gewiß hätte Monsieur le Capitaine sich
das eigentlich selbst denken können, nicht wahr?
»Und warum bist du jetzt nicht in der Bastille?«
fragte ich.
»Monsieur Duverney, der Ältere, hat sich für mich
verbürgt«, erwiderte Jamie und zog mich aufs Sofa neben sich.
»Während des ganzen Palavers saß er in einer Ecke, eingerollt wie
ein Igel. Und als der Richter seine Entscheidung fällte, stand er
auf und sagte, er habe Gelegenheit gehabt, mehrmals mit mir Schach
zu spielen. Dabei habe er einen so günstigen Eindruck von meinen
moralischen Grundsätzen gewonnen, daß ich an einer so verwerflichen
Tat keinen Anteil haben könne...« Er hielt inne und zuckte die
Achseln.
»Na ja, du weißt ja, wie er spricht, wenn er
richtig loslegt. Der Grundgedanke war, daß ein Mann, der ihn bei
sechs von sieben Schachpartien besiegt, keine jungen unschuldigen
Mädchen in sein Haus lockt, um sie zu schänden.«
»Vollkommen logisch«, bemerkte ich trocken. »Ich
glaube, was er wirklich sagen wollte, war, wenn sie dich
einsperren, verliert er seinen Schachpartner.«
»Gut möglich«, stimmte Jamie zu. Er reckte sich,
gähnte und zwinkerte mir vergnügt zu.
»Aber ich bin daheim, und gerade jetzt ist es mir
einerlei, warum. Komm her zu mir, Sassenach.« Er faßte mich mit
beiden Händen um die Taille, hob mich auf seinen Schoß und umarmte
mich, zufrieden seufzend.
»Alles, was ich will«, flüsterte er mir ins Ohr,
»ist, diese verdreckten Sachen ausziehen und dich hier auf dem
Kaminvorleger nehmen, dann sofort einschlafen, den Kopf auf deine
Schulter gebettet, und bis morgen so liegen bleiben.«
»Ziemlich lästig für die Dienerschaft«, bemerkte
ich, »sie werden um uns herumfegen müssen.«
»Ich pfeif’ auf die Dienerschaft«, meinte er
gelassen. »Wozu gibt es Türen?«
»Offensichtlich, um daran anzuklopfen«, sagte ich,
da ein vorsichtiges Pochen zu hören war.
Jamie vergrub die Nase in meinen Haaren, zögerte
einen Augenblick, dann seufzte er und ließ mich von seinem Schoß
aufs Sofa gleiten.
»Dreißig Sekunden«, versprach er mir mit gedämpfer
Stimme, dann rief er: »Entrez!«
Die Tür ging auf, und Murtagh trat ein. In der
Unruhe und dem Durcheinander der vergangenen Nacht hatte ich
Murtagh fast vergessen. Nun stellte ich fest, daß seine Erscheinung
nicht gerade gewonnen hatte.
Er litt ebenso unter Schlafmangel wie Jamie. Sein
eines Auge war blutunterlaufen, das andere hatte die Tönung einer
faulen Banane angenommen und war - bis auf einen schmalen Schlitz,
aus dem es schwarz blitzte - zugeschwollen. Die Beule auf seiner
Stirn kam neun voll zur Geltung: ein dunkelrotes Gänseei direkt
über der Braue.
Seit seiner Befreiung aus dem Sack hatte Murtagh
kaum ein Wort gesagt. Abgesehen von einer knappen Frage nach dem
Verbleib seiner Messer - Fergus hatte mit dem Spürsinn eines
Terriers sowohl den Dolch als auch den sgian dhu hinter
einem Haufen Unrat entdeckt - hatte er in den kritischen
Augenblicken unserer Flucht grimmig geschwiegen und uns, während
wir durch die düsteren Straßen von Paris eilten, den Rücken
gedeckt. Zu Hause angekommen, hatte ein stechender Blick aus seinem
gesunden Auge genügt, um unliebsame Fragen der Küchenmägde zu
unterbinden.
Vermutlich hatte er sich auf dem commissariat de
police zu Wort gemeldet, wenn auch nur, um den tadellosen
Charakter seines Arbeitgebers zu bezeugen - allerdings fragte ich
mich, wieviel Glauben ich Murtagh geschenkt hätte, wenn ich der
Richter gewesen wäre. Aber jetzt war er ebenso schweigsam wie die
Wasserspeier von Notre Dame - denen er erstaunlich ähnlich
sah.
Doch ganz gleich, wie heruntergekommen er aussehen
mochte, Murtagh bewahrte stets eine würdevolle Haltung. Steif wie
ein Stock schritt er über den Teppich und kniete vor Jamie nieder.
Der musterte ihn verblüfft.
Der drahtige kleine Mann zog den Dolch aus dem
Gürtel und streckte ihn Jamie mit dem Griff voran entgegen.
Murtaghs zerfurchtes Gesicht war ausdruckslos, und sein eines
schwarzes Auge blickte unerschütterlich auf Jamie.
»Ich habe dich enttäuscht«, sagte der kleine Mann
ruhig. »Und ich bitte dich als meinen Anführer, jetzt mein Leben
hinzunehmen, damit ich nicht länger mit der Schande leben
muß.«
Jamie richtete sich langsam auf, und ich spürte,
wie er seine Müdigkeit verdrängte, als er den Blick auf seinen
Gefolgsmann richtete. Eine Weile saß er wortlos da. Dann streckte
er eine Hand aus und berührte die dunkelrote Beule auf Murtaghs
Stirn.
»Es ist keine Schande, in der Schlacht zu fallen,
mo caraidh,« sagte er leise. »Auch der größte Krieger erlebt
einmal eine Niederlage.«
Aber Murtagh schüttelte störrisch den Kopf, das
Auge unverwandt auf Jamie gerichtet.
»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht in der Schlacht
gefallen. Du hast mir deine Frau und euer ungeborenes Kind
anvertraut, und ebenso das englische Mädel. Und ich habe meine
Pflicht so mißachtet, daß ich in der Stunde der Gefahr nicht einmal
Gelegenheit hatte, einen Streich zu führen. Um die Wahrheit zu
sagen, ich sah nicht einmal die Hand, die mich niederschlug.« Bei
diesen Worten blinzelte er zum erstenmal.
»Verrat -«, begann Jamie.
»Und schau, wohin es geführt hat«, unterbrach ihn
Murtagh. Seit ich ihn kannte, hatte ich ihn noch nie eine so lange
Rede halten hören. »Dein guter Name besudelt, deine Frau
überfallen, und das Mädelchen...« Er kniff die schmalen Lippen
zusammen und schluckte. »Allein deswegen schnürt mir die Reue die
Kehle zu.«
»Aye«, sagte Jamie leise und nickte. »Aye, das
verstehe ich, Mann. Das empfinde ich auch.« Er legte die Hand aufs
Herz. Sie sprachen, als wären sie allein miteinander. Ihre Köpfe
berührten sich fast, als sich Jamie zu Murtagh vorbeugte. Ich hatte
die Hände im Schoß gefaltet und saß reglos da. Diese Sache mußten
sie unter sich ausmachen.
»Aber ich bin nicht dein Anführer, Mann«, fuhr
Jamie mit festerer Stimme fort. »Du hast mir keinen Eid geleistet,
und ich habe keine Macht über dich.«
»Doch, das hast du.« Murtaghs Stimme zitterte
ebensowenig wie der Griff des Dolchs.
»Aber -«
»Ich habe meinen Eid geschworen, Jamie Fraser, als
du noch keine Woche alt warst - ein gesunder Junge an der Brust
deiner Mutter.«
Ich sah, wie sich Jamies Augen vor Verblüffung
weiteten.
»Ich kniete zu Ellens Füßen, wie ich jetzt hier vor
dir knie«, fuhr der kleine Clansmann mit hocherhobenem Kinn fort.
»Und ich habe ihr beim dreifaltigen Gott geschworen, daß ich dir
stets folgen würde, um zu tun, was du befiehlst, und dir den Rücken
freizuhalten, wenn du zum Mann herangewachsen wärst und solche
Dienste brauchtest.« Bei diesen Worten wurde die rauhe Stimme
weich, und das Lid schloß sich über dem müden Auge.
»Aye, mein Junge. Ich liebe dich, als wärst du mein
eigener Sohn. Aber ich habe dir die Treue gebrochen.«
»Das hast du nie getan und könntest es nie tun.«
Jamie nahm Murtagh fest bei den Schultern. »Nein, ich will dein
Leben nicht, weil ich dich noch brauche. Aber ich will dir einen
Eid abverlangen, und du wirst ihn leisten.«
Nach einem endlosen Augenblick des Zögerns nickte
der rabenschwarze Kopf unmerklich.
Jamie sprach nun noch leiser. Er streckte die drei
mittleren Finger der rechten Hand aus und legte sie auf das Heft
des Dolchs.
»Ich beauftrage dich also bei dem Eid, der dich an
mich bindet, und dem Wort, das du meiner Mutter gegeben hast -
finde die Männer. Jage sie, und wenn Sie gefunden sind, beauftrage
ich dich, die Rache zu üben, die der Ehre meiner Frau - und Mary
Hawkins’ Unschuld gebührt.«
Er hielt inne, dann zog er die Hand zurück.
Der Clansmann erhob den Dolch. Nun nahm er zum
erstenmal meine Anwesenheit zur Kenntnis, verbeugte sich vor mir
und sagte: »Was der Herr gesagt hat, Herrin, das werde ich tun. Ich
werde Rache üben um deinetwillen.«
Ich leckte mir die trockenen Lippen und wußte
nicht, was ich
sagen sollte. Doch es schien keine Antwort notwendig zu sein.
Murtagh führte den Dolch an die Lippen und küßte ihn. Dann richtete
er sich entschlossen auf und steckte die Waffe zurück in die
Scheide.