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Spurensuche
Roger verließ Culloden House am nächsten Morgen mit zwölf Seiten Notizen und einem wachsenden Gefühl der Verwirrung. Was zunächst wie ein durchschnittliches Projekt historischer Recherche ausgesehen hatte, zeigte immer mehr Knoten und Verwicklungen.
In der Aufstellung der Gefallenen von Culloden hatte er nur drei Namen von Claires Liste wiedergefunden. Das war an sich nicht weiter bemerkenswert. Es war unwahrscheinlich, daß sich alle Soldaten des Bonnie Prince säuberlich in seine Heeresliste eingetragen hatten. Einige Clanoberhäupter hatten sich Charles Stuart offenbar nur aus einer vorübergehenden Laune heraus angeschlossen, und andere hatten ihn aus noch unbedeutenderen Gründen wieder verlassen, bevor sie offiziell erfaßt werden konnten. Die Registrierung der Armee des Prinzen war schon von Anfang an höchst planlos verlaufen und hatte gegen Ende des Feldzuges fast vollständig ihre Bedeutung verloren. Es hatte wenig Sinn, Soldlisten zu führen, wenn man keine Mittel hatte, um die Soldaten auszuzahlen.
Sorgsam faltete Roger sich zusammen und ließ sich mit geducktem Kopf in seinen Morris gleiten. Dann schlug er seinen Aktendekkel auf und blickte noch einmal auf die Blätter, die er gerade kopiert hatte. Seltsamerweise hatte er fast alle Namen von Claires Liste auf einer Heeresliste gefunden, allerdings auf einer anderen.
Niemanden würde es erstaunen, wenn einzelne Mitglieder der Clan-Regimenter Fahnenflucht begangen hatten, als sich das Ausmaß der Katastrophe abzeichnete. Nein, was ihn vor ein Rätsel stellte, war die Tatsache, daß die Namen der Männer von Claires Liste samt und sonders im Regiment Lord Lovats aufgeführt waren. Dieses Regiment hatte man erst gegen Ende des Feldzugs in den Kampf geschickt, um das Versprechen, das der Lord den Stuarts gegeben hatte, zu erfüllen.
Claire hingegen hatte behauptet, daß diese Männer alle von einem kleinen Gut namens Broch Tuarach stammten, das im südwestlichen Winkel der Fraser-Ländereien lag, eigentlich sogar an der Grenze zum Gebiet des MacKenzie-Clans. Und diese Männer hatte sich der Armee der Highlander schon fast zu Beginn des Feldzugs angeschlossen.
Roger schüttelte den Kopf. Dies alles ergab keinen Sinn. Möglicherweise hatte sich Claire in der Zeit geirrt. Aber bestimmt nicht im Ort. Wie konnte es passieren, daß die Männer des kleinen Gutes Broch Tuarach, die dem Oberhaupt des Fraser-Clans keinen Treueid geleistet hatten, von Simon Fraser in den Kampf geschickt wurden? Gewiß, Lord Lovat war als »der alte Fuchs« bekannt, und das mit gutem Grund. Aber Roger bezweifelte, daß er über die nötige Durchtriebenheit verfügte, solch einen Schachzug zu planen und durchzusetzen.
Kopfschüttelnd ließ er den Motor an und fuhr los. Das Archiv des Culloden House hatte sich als enttäuschend unvollständig erwiesen. Zum größten Teil bestand es aus anschaulichen Briefen von Lord George Murray, der sich über Versorgungsengpässe ausließ, und aus all den Dingen, die sich Touristen gern in Schaukästen ansehen. Aber ihm reichte das nicht.
»Ruhe bewahren, Alter«, mahnte er sich, während er beim Abbiegen in den Rückspiegel blickte. »Du sollst herausfinden, was mit denen passiert ist, die bei der Schlacht von Culloden nicht ins Gras gebissen haben. Ist doch egal, wie sie dahin gekommen sind, solange sie das Schlachtfeld unversehrt verlassen konnten.«
Doch die Frage ließ ihn nicht mehr los. Dazu waren die Umstände auch zu außergewöhnlich. Es passierte immer wieder, daß man Namen verwechselte, besonders in den Highlands, wo die Hälfte der Bevölkerung immer und zu jeder Zeit »Alexander« getauft wurde. Männer waren daher neben dem Nachnamen in erster Linie unter dem Namen ihres Clans oder ihres Herkunftsorts bekannt. Und manchmal ersetzte das sogar den Nachnamen. »Lochiel«, einer der berühmtesten Führer der Jakobiten, hieß in Wirklichkeit Donald Cameron von Lochiel, wodurch er sich säuberlich von den Hunderten anderer Camerons mit Vornamen Donald unterschied.
Und wenn ein Mann nicht Donald oder Alec hieß, dann war er auf den Namen John getauft. Die drei Männer von Claires Liste, die er in der Aufstellung der Gefallenen von Culloden gefunden hatte, hießen Donald Murray, Alexander MacKenzie Fraser und John Graham Fraser. Alle ohne Herkunftsort, lediglich mit ihrer Regimentsnummer verzeichnet. Lord Lovats Regiment.
Doch ohne den Herkunftsort konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich bei diesen Männern um jene von Claires Liste handelte. Unter den Gefallenen befanden sich mindestens sechs John Frasers, und das in einer Aufstellung, die unvollständig war. Die Engländer hatten sich weder um Genauigkeit noch um Vollständigkeit gekümmert - die meisten Aufstellungen stammten von den Clanoberhäuptern, die nach der Schlacht ihre Männer zählten, um festzustellen, wer nicht zurückgekommen war. Das machte es natürlich nur noch komplizierter.
Roger rieb sich so fest durchs Haar, als wollte er mit einer Kopfmassage sein Gehirn anregen. Wenn es sich bei den drei Männern nicht um die von Claire Gesuchten handelte, wurde das Rätsel nur noch größer. Gut die Hälfte von Charles Stuarts Heer war in Culloden hingemetzelt worden. Und Lovats Männer waren mittendrin gewesen. Es schien unvorstellbar, daß alle dreißig dabei unversehrt geblieben waren. Lovats Getreue hatten sich dem Aufstand erst spät angeschlossen, zu einem Zeitpunkt, als sich in anderen Regimentern die Erkenntnis breitmachte, auf welch aussichtsloses Unterfangen sie sich da eingelassen hatten, so daß Fahnenflucht keine Seltenheit war. Die Frasers hingegen hielten Charles die Treue - und mußten entsprechend leiden.
Ein lautes Hupen schreckte Roger aus seinen Gedanken, und er schwenkte zur Seite, um einen riesigen Laster passieren zu lassen. Nachdenken und Autofahren sind zwei Tätigkeiten, die sich nicht vertragen, merkte er.
Er hielt den Wagen an und überlegte. In einem ersten Impuls wäre er am liebsten zu Mrs. Thomas’ Pension gefahren, um Claire von seinem Ergebnis zu berichten. Daß er auf diese Weise auch in den Genuß von Brianna Randalls Gesellschaft kommen würde, ließ die Idee noch reizvoller erscheinen.
Auf der anderen Seite schrie jede Faser seiner Historikerseele nach weiteren Fakten, und es schien unwahrscheinlich, daß Claire sie ihm liefern würde. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Claire ihn erst zu dieser Aufgabe heranzog und dann deren Ausführung verhinderte, indem sie ihn mit falschen Informationen fütterte. Das wäre unvernünftig, und Claire war ihm von Anfang an als ausgesprochen vernünftige Person erschienen.
Trotzdem, da blieb die Sache mit dem Whisky. Bei dem Gedanken wurde sein Gesicht heiß. Er war ganz sicher, daß sie es mit Absicht getan hatte - und da sie für derartige Späße nicht der richtige Typ zu sein schien, mußte er annehmen, daß sie ihn auf diese Weise daran hindern wollte, Brianna zu einem Ausflug nach Broch Tuarach einzuladen. Wollte sie ihn von dem einstigen Gut fernhalten, oder wollte sie verhindern, daß er mit Brianna fuhr? Je länger er über den Vorfall nachdachte, desto stärker wurde seine Gewißheit, daß Claire Randall etwas vor ihrer Tochter verbarg. Er hatte allerdings keine Ahnung, was das sein mochte. Noch weniger wußte er, was es mit ihm oder seinem Projekt zu tun hatte.
Nur zwei Dinge hielten ihn davon ab aufzugeben: Brianna und die blanke Neugier. Er wollte wissen, was es damit auf sich hatte, und das würde er, verdammt noch mal, auch herausfinden.
Ohne auf den vorbeirauschenden Verkehr zu achten, schlug er mit der Faust gegen das Lenkrad. Als er seine Entscheidung getroffen hatte, startete er den Motor und fuhr weiter. Am nächsten Kreisverkehr bog er in die Straße, die nach Inverness und zum Bahnhof führte.
Der Flying Scotsman würde ihn in drei Stunden nach Edinburgh bringen. Der Kurator, der die Stuart-Dokumente betreute, war ein alter Freund des Reverend gewesen. Und Roger hatte einen, wenn auch verwirrenden Punkt, bei dem er ansetzen konnte. Lord Lovats Regimentsliste hatte er entnommen, daß jene dreißig Männer unter dem Kommando eines gewissen James Fraser standen - des Herrn von Broch Tuarach. Dieser Mann war offensichtlich das Verbindungsglied zwischen Broch Tuarach und den Frasers von Lovat. Und Roger fragte sich, weshalb James Fraser nicht auf Claires Liste stand.
 
Die Sonne schien, ein seltenes Ereignis im April, und Roger kostete es soweit wie möglich aus, indem er das Fenster herunterkurbelte und die sanfte Brise in sein Auto wehen ließ.
Er hatte über Nacht in Edinburgh bleiben müssen und war erst am nächsten Abend zurückgekommen - so erschöpft von der langen Zugfahrt, daß er kaum noch die warme Mahlzeit würdigen konnte, die Fiona für ihn zubereitet hatte. Voller Energie und Entschlossenheit war er heute morgen aufgestanden und zu dem kleinen Dörfchen Broch Mordha nahe dem Anwesen Broch Tuarach aufgebrochen. Mochte Claire Randall ihre Tochter auch daran hindern, auf das ehemalige Gut zu fahren, ihn konnte niemand davon abhalten.
Er hatte Broch Tuarach tatsächlich gefunden, oder zumindest nahm er es an - ein großer Steinhaufen vor den eingefallenen Überresten eines kreisrunden Brochs oder Turms. Roger verstand genügend Gälisch, um zu wissen, daß sein Name »der nach Norden schauende Turm« bedeutete, und er überlegte, wie sich dies mit seiner kreisrunden Bauweise vereinbaren ließ.
Daneben lagen das Gutshaus und die Wirtschaftsgebäude, ebenfalls zerfallen, doch nicht bis auf die Grundmauern. Auf einem Pflock an der Einfahrt prangte das verblichene Schild eines Grundstücksmaklers. Als Roger die Anhöhe neben dem Haus erreichte, blickte er sich um. Er entdeckte nichts, was erklärt hätte, warum Claire ihre Tochter davon abhalten wollte hierherzufahren.
Er stellte den Morris in der Einfahrt ab und stieg aus. Das Anwesen befand sich in einer herrlichen, allerdings auch sehr einsamen Landschaft. Nur sorgfältiges Manövrieren hatte auf seiner fast einstündigen Fahrt über die holprige Landstraße verhindert, daß seine Ölpfanne Schaden nahm.
Da das Haus offensichtlich verlassen und wohl auch einsturzgefährdet war, trat er gar nicht erst ein - er würde ohnehin nichts finden. Doch auf dem Türsturz entdeckte er den Namen«Fraser« - desgleichen auf den meisten der kleinen Grabsteine des ehemaligen Familienfriedhofs. Kein großer Fortschritt, dachte er. Auch nicht einen der Namen, die auf seiner Liste standen, konnte er auf den Grabsteinen finden. Der Karte nach würde er seinen Weg auf der eingeschlagenen Straße fortsetzen müssen, um dann nach knapp fünf Kilometern in das Dörfchen Broch Mordha zu gelangen.
Wie er befürchtet hatte, war die kleine Dorfkirche schon vor Jahren eingefallen. Auf sein hartnäckiges Klopfen an verschiedenen Haustüren begegneten ihm ausdruckslose Gesichter oder mißtrauische Blicke, bis schließlich ein alter Bauer zweifelnd meinte, die Taufregister seien wohl ins Museum von Fort William gebracht worden. Vielleicht sogar nach Inverness, denn dort gäbe es einen verrückten Reverend, der dieses Zeug sammelte.
Müde und verschwitzt, aber keineswegs entmutigt, trottete Roger zurück zu seinem Morris, den er bei der Dorfschenke geparkt hatte. Dies war einer der Rückschläge, die im Zuge historischer Recherchen immer wieder auftreten, und er war daran gewöhnt. Rasch ein Glas Bier - nun, an diesem warmen Tag auch zwei -, und dann weiter nach Fort William.
Geschah ihm recht, überlegte er nüchtern, wenn sich die Aufstellungen, die er suchte, im Archiv des Reverend befanden. Das hatte er nun davon, daß er seine Arbeit vernachlässigt hatte und auf Jagd gegangen war, um eine junge Frau zu beeindrucken. Seine Fahrt nach Edinburgh hatte nicht mehr erbracht, als daß er die drei Namen wieder löschen konnte, die er in Culloden House gefunden hatte. Alle drei Männer hatten in anderen Regimentern gedient und nicht zur Gruppe aus Broch Tuarach gehört.
Die Stuart-Dokumente hatten drei ganze Räume ausgefüllt, die unzähligen Umzugskartons im Keller des Museums nicht mitgerechnet. Und so konnte er kaum behaupten, ausführlich recherchiert zu haben. Immerhin hatte er eine Abschrift der Soldliste gefunden, die er schon von Culloden House her kannte, jener Liste, in der die Gruppe als Mitglied des Regiments aufgeführt war, das unter dem Kommando des Herrn von Lovat stand - das heißt, dem Sohn des alten Fuchses, dem jungen Simon. Der gerissene alte Hund hatte ein doppeltes Spiel getrieben, überlegte Roger. Er hatte seinen Erben in den Kampf für die Stuarts geschickt, war selbst aber zu Hause geblieben und hatte den treuen Untertanen von König George gespielt. Hatte ihm auch nicht viel genutzt.
In diesem Dokument wurde Simon Fraser der Jüngere als Kommandant aufgeführt, und James Fraser wurde nicht erwähnt. Dennoch tauchte ein James Fraser in zahlreichen Heeresberichten, Memoranden und anderen Quellen auf. Wenn es sich dabei um ein und dieselbe Person handelte, mußte er während des Feldzugs überall seine Finger im Spiel gehabt haben. Doch solange Roger nur den Namen »James Fraser« kannte, wußte er nicht, ob es sich um denjenigen aus Broch Tuarach handelte, denn der Vorname James war in den Highlands ebenso häufig wie Duncan oder Robert. Nur in einem Dokument wurde James Fraser mit seinem mittleren Namen aufgeführt, der die Identifikation erleichtert hätte, aber darin fanden wiederum seine Männer keine Erwähnung.
Roger zuckte die Achseln und wischte gereizt einen Schwarm blutrünstiger Mücken beiseite, der urplötzlich aufgetaucht war. All diese Quellen systematisch zu sichten würde Jahre dauern. Um die Mücken loszuwerden, tauchte er in die biergeschwängerte Dunkelheit des Dorfkrugs ein.
Erfrischt von dem kühlen, bitteren Ale, ging er in Gedanken noch einmal seine letzten Schritte durch und überlegte sich die nächsten. Für heute blieb ihm noch genug Zeit, nach Fort William zu fahren, obwohl er dann erst spät in der Nacht nach Inverness zurückkehren würde. Und wenn er in dem dortigen Museum nicht fündig wurde, war die ironische, aber logische Konsequenz, daß er sich das Archiv des Reverend vornahm.
Und anschließend? Er leerte sein Glas mit einem kräftigen Zug und gab dem Wirt ein Zeichen, ihm noch eins zu bringen. Nun, wenn es hart auf hart kommen würde, blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden Totenacker und Kirchhof in der Umgebung von Broch Tuarach abzuklappern. Allerdings würden die beiden Randalls wohl kaum die nächsten zwei, drei Jahre in Inverness bleiben, um das Ergebnis abzuwarten.
Er tastete in seiner Jackentasche nach dem Notizbuch, dem ständigen Begleiter eines Historikers. Bevor er Broch Mordha verließ, sollte er wenigstens noch einen Blick auf die Überreste des dortigen Kirchhofs werfen. Man wußte nie, was man dort finden würde, und außerdem brauchte er dann nicht noch einmal herzufahren.
 
Am folgenden Nachmittag kamen die Randalls auf Rogers Einladung hin zum Tee, um sich seinen Zwischenbericht anzuhören.
»Einige Namen von Ihrer Liste konnte ich aufspüren«, erklärte er Claire, während er die beiden in die Bibliothek führte. »Aber seltsamerweise habe ich keinen gefunden, der in Culloden gefallen ist. Zunächst mußte ich es von drei Männern annehmen, aber das waren dann doch nur Namensvettern.« Wie erstarrt hörte Claire Randall ihm zu. Sie hielt die Lehne des Ohrensessels mit der Hand umklammert, als hätte sie Zeit und Raum vergessen.
»Äh, möchten Sie sich nicht setzen?« forderte Roger sie auf. Ein Ruck ging durch ihren Körper, bevor sie nickte und sich auf die Kante des Sessels sinken ließ. Roger musterte sie noch einen Augenblick lang neugierig, holte dann den Aktendeckel mit seinen Notizen heraus und reichte ihn ihr.
»Wie ich sagte, habe ich bisher noch nicht alle Namen finden können. Wahrscheinlich muß ich sämtliche Taufregister und Friedhöfe in der Gegend von Broch Tuarach durchkämmen. Die meisten dieser Dokumente stammen aus den Unterlagen meines Vaters. Aber nichts deutet darauf hin, daß einer von ihnen gefallen ist, obwohl sie in Culloden und zudem, wie Sie sagten, im Regiment der Frasers gekämpft haben, das sich mitten im Schlachtgetümmel befand.«
»Ich weiß.« Der Klang ihrer Stimme ließ ihn aufblicken, doch weil sie sich über den Schreibtisch beugte, konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Bei den meisten Papieren handelte es sich um Rogers handschriftliche Kopien, da solch exotische Geräte wie Fotokopierer noch nicht in das Regierungsarchiv vorgedrungen waren, das die Stuart-Dokumente aufbewahrte. Aber es gab auch Originale, die er der Sammlung des Reverend entnommen hatte. Claire blätterte die Seiten mit spitzen Fingern um.
»Sie haben recht; es ist wirklich seltsam.« Jetzt konnte er aus ihrer Stimme deutlich etwas heraushören - eine innere Erregung, gemischt mit Befriedigung und sogar Erleichterung. Offensichtlich hatte sie es erwartet - oder erhofft.
»Sagen Sie...« Sie zögerte. »Die Namen, die Sie gefunden haben... Was ist aus den Männern geworden, wenn sie nicht in Culloden gefallen sind?«
Roger war zwar überrascht, daß ihr so viel daran lag, doch gehorsam zog er den Aktendeckel zu sich heran und schlug ihn auf. »Zwei von ihnen haben sich kurz nach der Schlacht von Culloden nach Amerika eingeschifft. Vier starben etwa ein Jahr später eines natürlichen Todes - nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, daß nach der Schlacht eine verheerende Hungersnot ausbrach, die in den Highlands zahlreiche Opfer gefordert hat. Und den hier habe ich in einem Taufregister gefunden - allerdings nicht dem seiner Heimatgemeinde. Trotzdem bin ich sicher, daß es sich um einen Ihrer Männer handelt.«
Erst als sie erleichtert die Schultern sinken ließ, merkte er, wie angespannt sie gewesen war.
»Soll ich nach den anderen weiterforschen?« fragte er und hoffte, daß die Antwort »ja« lauten würde. Über ihre Mutter hinweg warf er Brianna einen Blick zu. Sie stand halb abgewandt neben der Korkwand, als würde Claires Projekt sie nicht interessieren, doch er sah, daß sich zwischen ihren Brauen eine Falte eingegraben hatte.
Vielleicht fühlte auch sie diese seltsame unterdrückte Erregung, die Claire wie ein elektrisches Feld umgab. Er hatte es schon gespürt, als Claire den Raum betrat, und durch seine Enthüllungen hatte es sich nur noch verstärkt. Bei einer zufälligen Berührung, stellte er sich vor, würde ein Funken statischer Elektrizität auf ihn überspringen.
Das Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Gedanken. Fiona Graham trat ein und schob einen Teewagen vor sich her, auf dem eine Teekanne, Tassen auf Zierdeckchen, drei Sorten belegter Brote, Sahnetorte, Biskuitkuchen, Marmeladenschälchen und Hörnchen mit dicker Sahne angerichtet waren.
»Lecker!« freute sich Brianna angesichts dieses Angebots. »Ist das alles für uns oder kommen gleich noch zehn Gäste?«
Claire blickte lächelnd auf die aufgetischten Speisen. Das elektrische Feld umgab sie noch immer, nur war es, wahrscheinlich aufgrund beträchtlicher Anstrengungen, etwas gedämpft. Roger sah, daß sie eine Hand so fest um eine Falte ihres Rockes klammerte, daß die Ringe ihr ins Fleisch schnitten.
»Wenn wir das alles vertilgen, brauchen wir wochenlang nichts mehr zu essen«, erklärte sie. »Es sieht sehr verlockend aus.«
Fiona strahlte. Sie war klein, rund und hübsch wie eine braune Henne. Roger seufzte innerlich. Zwar war er froh, seinen Gästen eine angemessene Erfrischung anbieten zu können, doch er wußte nur zu genau, daß die üppige Ausstattung des Mahls darauf abzielte, ihn zu beeindrucken, und nicht die beiden Frauen. Mit ihren neunzehn Jahren hatte die kleine Fiona ein festes Ziel vor Augen. Sie wollte heiraten. Am liebsten einen Mann, der mit beiden Beinen im Berufsleben stand. Sie hatte Roger bei seiner Ankunft vor einer Woche kaum gesehen, da war sie auch schon zu dem Schluß gekommen, daß ein Geschichtsdozent der beste Fang sein würde, den sie in Inverness erwarten konnte.
Seitdem hatte sie ihn gestopft wie eine Weihnachtsgans, seine Schuhe gewienert, seine Zahnbürste bereitgelegt, sein Bett gelüftet, seinen Mantel ausgebürstet, ihm die Abendzeitung gekauft und neben seinen Teller gelegt, ihm den Nacken massiert, wenn er bis spätnachts am Schreibtisch saß, und sich unentwegt nach seinem Wohlergehen, seiner Gemütsverfassung und seinem Gesundheitszustand erkundigt. Noch nie zuvor war er soviel geballter Häuslichkeit ausgesetzt gewesen.
Kurz gesagt, Fiona trieb ihn in den Wahnsinn.
Die Vorstellung, mit Fiona Graham in den heiligen Stand der Ehe zu treten, trieb ihm den kalten Angstschweiß auf die Stirn. Spätestens nach einem Jahr wäre er reif fürs Irrenhaus. Abgesehen davon gab es noch Brianna Randall, die gerade nachdenklich auf den Teewagen starrte, als würde sie überlegen, womit sie beginnen sollte.
Bisher hatte er sich ausschließlich auf Claire und ihr Vorhaben konzentriert und jeden Blick auf ihre Tochter vermieden. Claire war hübsch; mit ihren zarten Gliedern und der durchscheinenden Haut würde sie mit sechzig noch ebenso ansprechend aussehen wie mit zwanzig. Doch es war der Anblick Briannas, der ihm den Atem raubte.
Sie hatte das Auftreten einer Königin und sank nicht in sich zusammen wie andere großgewachsene Mädchen. Wenn er den geraden Rücken und die anmutigen Bewegungen ihrer Mutter betrachtete, wußte er, woher sie ihre Haltung hatte. Anders verhielt es sich mit der außergewöhnlichen Größe und der Fülle des taillenlangen, mit Kupfer-und Goldfäden durchsetzten, in Bernstein und Zimt auffunkelnden Haares, das ihr in sanften Wellen auf die Schultern fiel. Und mit den blauen Augen, die so dunkel schimmerten, daß sie bei bestimmtem Licht beinahe schwarz aussahen. Und dem breiten üppigen Mund mit der vollen Unterlippe, der zu leidenschaftlichen Küssen geradezu einlud. All das mußte sie wohl von ihrem Vater haben.
Im großen und ganzen war Roger froh, daß dieser Vater nicht neben ihr saß. Sicherlich hätte er väterlichen Anstoß an den Gedanken genommen, die ihm durch den Kopf gingen und ihm, wie er fürchtete, an der Nasenspitze abzulesen waren.
»Der Tee, was!« rief er herzlich. »Ausgezeichnet! Wunderbar! Sieht lecker aus. Vielen Dank, Fiona! Ich glaube, äh, wir haben alles.«
Ohne auf den unmißverständlichen Hinweis zu achten, nahm Fiona das Kompliment der Gäste mit einem anmutigen Nicken entgegen. Dann deckte sie mit knappen Bewegungen den Tisch, schenkte den Tee ein, reichte den ersten Kuchenteller herum und schien bereit, die Rolle der Dame des Hauses auszufüllen.
»Nehmen Sie doch ein wenig Sahne auf Ihr Hörnchen, Rog... ich meine Mr. Wakefield«, forderte sie ihn auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Sie sind viel zu dünn. Ich muß Sie erst mal aufpäppeln.« Dabei warf sie Brianna Randall einen verschwörerischen Blick zu und sagte: »Sie wissen ja, wie die Männer sind. Wenn wir Frauen nicht aufpassen, würden sie glatt verhungern.«
»Welch ein Glück, daß Sie sich um ihn kümmern«, entgegnete Brianna höflich.
Roger holte tief Luft und bewegte seine Finger, bis er den Drang, Fiona zu erdrosseln, überwunden hatte.
»Fiona«, sagte er, »äh, würden Sie mir bitte einen Gefallen tun?«
Bei der Aussicht, ihm zu Diensten zu sein, strahlte sie übers ganze Gesicht. »Aber natürlich, Rog... Mr. Wakefield. Alles, was Sie wollen!«
Roger verspürte einen Anflug von Scham. Doch dann hielt er sich vor, daß es ebenso in ihrem Interesse läge wie in seinem. Wenn sie das Zimmer nicht bald verließe, würde er sich vergessen und etwas tun, was sie beide bedauern könnten.
»Vielen Dank, Fiona. Ich habe bei... bei...« Verzweifelt versuchte er, sich an den Namen des Dorfkrämers zu erinnern - »... bei Mr. Buchan in der High Street Tabak bestellt. Können Sie ihn mir bitte holen? Nach diesem fabelhaften Tee möchte ich gern eine gute Pfeife rauchen.«
Fiona war schon damit beschäftigt, ihre Schürze abzubinden - die rüschen- und spitzenbesetzte, stellte Roger grimmig fest. Als sie die Tür hinter sich zuzog, schloß er dankbar die Augen. Daß er nicht rauchte, war ihm im Augenblick egal. Statt dessen wandte er sich mit einem erleichterten Seufzer seinen Gästen zu.
»Sie haben mich gefragt, ob Sie noch nach den andern Männern auf meiner Liste forschen sollen«, erinnerte ihn Claire. Roger hatte den Eindruck, daß sie über Fionas Aufbruch ebenso erleichtert war wie er. »Nun, wenn es Ihnen nicht zuviel wird, würde ich Sie gern darum bitten.«
»Keineswegs«, erwiderte Roger. »Es ist mir ein Vergnügen.«
Unentschlossen schwebte seine Hand über dem Überangebot auf dem Teewagen, bis sie resolut nach der Karaffe mit dem zwölf Jahre alten Muir Breame Whisky griff. Nach dem Gerangel mit Fiona hatte er sich eine Stärkung verdient.
»Mögen Sie auch einen Schluck?« fragte er seine Gäste. »Oder lieber Tee?« fügte er hinzu, als er den ablehnenden Ausdruck auf Briannas Gesicht bemerkte.
»Tee«, entschied sie erleichtert.
»Du weißt nicht, was du dir entgehen läßt«, erklärte ihre Mutter, die genußvoll an ihrem Whisky schnupperte.
»O doch!« entgegnete Brianna. »Deshalb lasse ich es mir ja auch entgehen.« Sie zuckte die Achseln und blinzelte Roger an.
»In Massachusetts darf man erst mit einundzwanzig offiziell Alkohol trinken«, erklärte Claire, zu Roger gewandt. »Und weil meiner Tochter dazu noch über ein Jahr fehlt, ist sie Whisky nicht gewohnt.«
»Du tust ja gerade so, als wäre es ein Verbrechen, wenn man keinen Whisky mag.« Brianna warf Roger über ihre Teetasse hinweg einen lächelnden Blick zu.
»Wir sind hier in Schottland, meine Gute«, erinnerte er sie ernst. »Und da ist es auf jeden Fall ein Verbrechen.«
»Ach ja? Hoffentlich kein so schweres wie ein Mord.«
Er lachte und verschluckte sich an seinem Whisky. Als er hustend zu Claire hinüberblickte, sah er, daß ihre Lippen ein gezwungenes Lächeln umspielte. Außerdem wirkte sie ausgesprochen blaß. Aber gleich darauf war dieser Moment vorüber, und nach einem kurzen Blinzeln schmunzelte auch sie.
Überrascht stellte Roger fest, wie leicht die Unterhaltung zwischen ihnen dahinplätscherte - sowohl über Banalitäten als auch über Claires Anliegen. Brianna mußte sich für die Arbeit ihres Vaters sehr interessiert haben, denn sie wußte weitaus mehr über die Jakobiten als ihre Mutter.
»Ich finde es erstaunlich, daß es die Hochlandarmee überhaupt bis nach Culloden geschafft hat«, sagte sie. »Wußten Sie, daß sie die Schlacht von Prestonpans mit nur knapp zweitausend Mann gewonnen haben? Das englische Heer war achttausend Mann stark. Unglaublich!«
»Und bei der Schlacht von Falkirk war es ähnlich«, fiel Roger ein. »Zahlenmäßig unterlegen, schlecht bewaffnet, nur zu Fuß. Und trotzdem schafften sie, was nach den Gesetzen der Logik nicht hätte sein dürfen!«
»Stimmt«, meinte Claire zwischen zwei Schluck Whisky, »das taten sie.«
»Ich habe mich gefragt«, wandte sich Roger betont beiläufig an Brianna, »ob Sie mich nicht zu einigen dieser Orte begleiten wollen - zu den Schauplätzen der Ereignisse. Das wäre nicht nur interessant, sondern Sie könnten mir auch bei der Arbeit eine Hilfe sein.«
Lachend strich sich Brianna eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß ich Ihnen eine Hilfe bin, aber ansehen würde ich es mir gerne.«
»Prima!« Ihre Zustimmung freute ihn so sehr, daß er beinahe die Karaffe hätte fallen lassen, nach der er gerade gegriffen hatte. Geistesgegenwärtig kam ihm Claire zu Hilfe und schenkte ihm gekonnt ein.
»Das ist ja wohl das mindeste, was ich tun kann, nachdem ich neulich alles verschüttet habe«, entgegnete sie auf seinen Dank.
Als Roger sie so entspannt und locker dasitzen sah, kamen ihm Zweifel an seinem Verdacht. Nichts in ihrem hübschen, kühlen Gesicht deutete darauf hin, daß es etwas anderes als ein Mißgeschick gewesen war.
Eine halbe Stunde später saßen sie müde, aber zufrieden vor den Überresten der Mahlzeit und der leeren Whiskykaraffe. Nur Brianna rutschte unruhig hin und her. Schließlich warf sie Roger einen Blick zu und fragte, wo das Badezimmer sei.
»Oh, natürlich, die Toilette.« Abgefüllt mit saftigem Früchtebrot und Mandelbiskuits, mühte er sich auf die Beine. Er mußte zusehen, daß er Fionas Fängen bald entkäme, sonst würde er in Oxford nicht mehr in seine Anzüge passen.
»Sie ist noch recht altmodisch«, erklärte er, während er auf eine Tür an der anderen Seite des Flures wies. »Mit Wasserkasten und einer Kette zum Ziehen.«
»Wie im Britischen Museum.« Brianna nickte. »Aber nicht in der Ausstellung, sondern in der Damentoilette.« Nach kurzem Zögern fragte sie: »Haben Sie hier das gleiche Toilettenpapier wie im Britischen Museum? Wenn ja, dann halte ich mich lieber an das Kleenex in meiner Tasche.«
Fragend blickte Roger sie an. »Entweder ist dies ein sehr eigenartiges Gesprächsthema, oder ich habe mehr Whisky getrunken, als ich dachte.« Tatsächlich hatten Claire und er dem Muir Breame ausgiebig zugesprochen, während Brianna bei Tee geblieben war.
Claire lachte und reichte ihrer Tochter Papiertaschentücher. »Du wirst hier zwar kein Wachspapier mit dem Aufdruck ›Eigentum Ihrer Majestät der Königin< finden, aber viel besser wird es auch nicht sein. Britisches Toilettenpapier ist eine steife Angelegenheit.«
»Danke.« Die Taschentücher in der Hand, wandte sich Brianna zum Gehen, doch an der Tür blickte sie sich noch einmal um. »Warum benutzen die Leute freiwillig Toilettenpapier, das so hart ist wie Dosenblech?« wollte sie wissen.
»Ein Herz wie aus Eichenholz«, setzte Roger an, »und einen Hintern hart wie Stahl. So soll ein wahrer Brite sein. Es prägt den Volkscharakter.«
»Soweit es die Schotten betrifft, liegt es wohl eher an ererbter Gefühllosigkeit«, fügte Claire hinzu. »Die Art Männer, die mit dem nackten Hintern unterm Kilt Stunden auf dem Pferderücken zubringen, haben einen Po wie Sattelleder.«
Brianna bog sich vor Lachen. »Dann will ich lieber nicht wissen, was sie damals als Toilettenpapier benutzt haben.«
»So schlimm war es gar nicht«, erklärte Claire zu aller Überraschung. »Die Blätter der Königskerze sind fast so gut wie das handelsübliche doppellagige Krepp. Und im Winter, wenn man nicht nach draußen konnte, waren es gewöhnlich feuchte Lappen - zwar nicht besonders hygienisch, aber dafür auch nicht kratzig.«
Roger und Brianna verschlug es die Sprache.
»Das... äh, habe ich in einem Buch gelesen«, meinte Claire errötend.
Nachdem Brianna den Raum verlassen hatte, blieb Claire unschlüssig an der Tür stehen.
»Es war sehr freundlich von Ihnen, uns so großzügig zu bewirten«, setzte sie an. Die vorübergehende Verlegenheit war wieder ihrer gewohnten Haltung gewichen. »Aber vor allem bin ich Ihnen dankbar, daß Sie diese Namen für mich gefunden haben.«
»Es war mir wirklich ein Vergnügen«, versicherte ihr Roger. »Eine angenehme Abwechslung zu all den Spinnweben und Mottenkugeln hier. Sobald ich mehr über Ihre Jakobiten herausgefunden habe, lasse ich es Sie wissen.«
»Vielen Dank.« Sie zögerte und blickte über die Schulter. »Da Brianna gerade nicht da ist...«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, »möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.«
Roger räusperte sich und rückte den Schlips zurecht, den er sich zur Feier des Tages umgebunden hatte.
»Nur raus damit.« Er verspürte eine geradezu überschwengliche Freude, weil der Nachmittag solch ein Erfolg gewesen war. »Ich stehe ganz zu Ihren Diensten.«
»Sie haben Brianna eingeladen, Sie zu Ihren Recherchen zu begleiten. Um was ich Sie bitten möchte... es gibt einen Ort, den sie besser nicht sehen soll, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Auf der Stelle schrillten in Rogers Kopf die Alarmglocken. Sollte er vielleicht in das Geheimnis um Broch Tuarach eingeweiht werden?
»Der Steinkreis - auf dem Craigh na Dun.« Ernst beugte Claire sich vor. »Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn ich keine gewichtigen Gründe hätte. Den Steinkreis möchte ich Brianna selbst zeigen. Warum das so ist, kann ich Ihnen im Augenblick leider noch nicht sagen, werde es aber zum rechten Zeitpunkt nachholen. Versprechen Sie es mir?«
In Rogers Kopf überschlugen sich die Gedanken. Demnach hatte sie ihre Tochter gar nicht von Broch Tuarach fernhalten wollen. Ein Rätsel war aufgeklärt, dafür hatte sich ein anderes aufgetan.
»Selbstverständlich«, erwiderte er. »Wenn Ihnen daran liegt.«
»Ich danke Ihnen.« Sie legte ihm kurz die Hand auf den Arm und wandte sich dann zum Gehen. Als er ihre Silhouette im Gegenlicht sah, fiel ihm plötzlich etwas ein. Vielleicht war es nicht der richtige Augenblick, aber schaden konnte es auch nicht.
»Ach, Mrs. Randall - Claire?«
Claire drehte sich zu ihm um. Ohne Brianna, die ihn ablenkte, sah er plötzlich, daß Claire auf ihre Weise ausgesprochen schön war. Der Whisky hatte ihre Wangen mit einer lebhaften Farbe überzogen, und ihre Augen waren von dem ungewöhnlichsten hellen Goldbraun, das er je gesehen hatte - wie Bernstein, dachte er.
»In all den Berichten, in denen diese Männer vorkommen«, setzte er vorsichtig an, »wurde immer wieder ein gewisser Hauptmann James Fraser erwähnt. Er muß ihr Anführer gewesen sein. Auf Ihrer Liste habe ich ihn aber nicht gefunden. Ist er Ihnen bekannt?«
Einen Moment lang stand sie stocksteif da. Doch dann ging ein Zittern durch ihren Körper, und sie antwortete mit anscheinendem Gleichmut: »Ja, er ist mir bekannt.« Ihre Stimme klang zwar fest, doch aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Ich habe ihn nicht auf die Liste gesetzt, weil ich bereits weiß, was mit ihm geschehen ist. James Fraser ist in Culloden gestorben.«
»Sind Sie sicher?«
Als ob sie es nicht mehr erwarten konnte, das Haus zu verlassen, griff sie nach ihrer Handtasche. Ungeduldig spähte sie den Flur entlang, wo das Rütteln an dem altehrwürdigen Türknauf verriet, daß Brianna ihr Refugium verlassen wollte.
»Ja«, antwortete sie, ohne sich umzuwenden. »Ich bin ganz sicher. Ach, Mr. Wakefield... ich meine, Roger.« Jetzt drehte sie sich hastig um und heftete ihren Blick auf ihn. In diesem Licht wirkten ihre Augen fast schon gelb, wie die Augen einer großen Katze, eines Leopardenweibchens.
»Bitte«, sagte sie, »erwähnen Sie James Fraser meiner Tochter gegenüber nicht.«
 
Es war spät geworden. Roger hätte sich eigentlich schon längst schlafen legen sollen, doch er war alles andere als müde. Ob es an seinem Ärger über Fiona lag, an der rätselhaften Widersprüchlichkeit von Claire Randall oder an der Aussicht, mit Brianna Randall auf Recherche zu gehen - Roger war hellwach. Anstatt sich im Bett von einer Seite auf die andere zu wälzen oder Schäfchen zu zählen, wollte er lieber etwas Nützliches tun. Wenn er sich den Papieren des Reverend widmete, würde ihn der Schlaf wahrscheinlich rasch einholen.
Am anderen Ende des Flures schimmerte unter Fionas Tür ein Lichtschein hervor, und um sie nicht aufzuscheuchen, schlich er auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Nachdem er im Studierzimmer das Licht eingeschaltet hatte, blieb er einen Moment lang stehen und überlegte, wie man eine Aufgabe dieses Ausmaßes am besten anging.
Die nahezu sechs Meter lange und fast drei Meter hohe Pinnwand war symptomatisch für die Arbeitsweise von Reverend Wakefield. Unter all den Zetteln, Notizen, Fotos, Kopien, Rechnungen, Quittungen, Vogelfedern, abgerissenen Ecken von Umschlägen mit seltenen Briefmarken, Adreßaufklebern, Schlüsselringen, Postkarten, Gummibändern und anderem Krimskrams war praktisch kein Fleckchen Kork mehr sichtbar.
Obwohl das Sammelsurium stellenweise zwölf Schichten dick war, hatte der Reverend jederzeit das Detail herausfischen können, das er suchte. Roger vermutete, daß die Anordnung auf einem Prinzip beruhte, das so ausgefeilt war, daß es selbst ein Wissenschaftler der NASA nicht hätte entschlüsseln können.
Skeptisch ließ er den Blick über die Pinnwand gleiten. Sie bot keinerlei Ansatzpunkt. Versuchsweise griff er nach einer fotokopierten Liste mit den Tagungsterminen der Generalversammlung, die das Amt des Bischofs versendet hatte. Doch gleich darauf erregte der Anblick des darunterhängenden Drachen seine Aufmerksamkeit. Eine fröhliche Buntstiftzeichnung; aus den geblähten Nüstern drangen kugelrunde Rauchwölkchen, und aus dem aufgerissenen Rachen blies er grüne Flammen.
ROGER stand in unbeholfenen Druckbuchstaben unten auf der Seite. Undeutlich erinnerte sich der Künstler, warum der Drache grüne Flammen spie: Er fraß nämlich nichts anderes als Spinat. Roger heftete die Liste mit den Tagungsterminen wieder an ihren Platz und wandte sich ab. Der Pinnwand konnte er sich auch später noch widmen.
Der schwere Eichenschreibtisch mit den etwa vierzig, bis zum Bersten vollgestopften Fächern schien im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Seufzend zog sich Roger den zerschlissenen Bürostuhl heran und machte sich daran, Ordnung in all die Papiere zu bringen, von denen sich der Reverend nicht hatte trennen können.
Einen Stapel für unbezahlte Rechnungen. Einen anderen für offizielle Dokumente wie Kraftfahrzeugschein und Sachverständigengutachten zum Zustand des Hauses. Einen weiteren für historische Notizen und Berichte. Dann einen für Familienerinnerungsstücke. Und mit Abstand den größten für Krimskrams.
Roger war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sich jemand dem Schreibtisch näherte. Plötzlich schwebte eine dampfende Teekanne in sein Blickfeld.
»Wie?« Blinzelnd blickte er auf.
»Ich dachte, Sie mögen vielleicht eine Tasse Tee, Mr. Wake... ich meine Roger.« Fiona setzte das Tablett mit Kanne, Tasse und einem Teller Kekse vor ihm ab.
»Oh, vielen Dank!« Er war wirklich hungrig, und so schenkte er Fiona ein freundliches Lächeln, das ihr die Röte in die runden Wangen trieb. Offenbar ermutigt, hockte sie sich auf die Schreibtischkante und sah zu, wie er zwischen einzelnen Bissen Schokoladenkeks seine Arbeit fortsetzte.
Da er sich verpflichtet fühlte, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, hielt er einen angebissenen Keks hoch. »Wirklich gut«, brummte er.
»Ja? Ich habe sie selbst gebacken.« Die Röte wurde noch tiefer. Ein hübsches Mädchen, diese Fiona. Klein, rund, mit dunklem, lockigem Haar und großen, braunen Augen. Roger ertappte sich bei der Frage, ob Brianna Randall kochen konnte. Rasch schüttelte er den Kopf, um derartige Gedanken zu vertreiben.
Fiona, die diese Geste als Ungläubigkeit interpretierte, beugte sich vor. »Doch, wirklich«, beteuerte sie. »Nach einem Rezept von meiner Oma. Das waren die Lieblingskekse des Reverend.« Ein sanfter Schleier legte sich über ihre Augen. »Sie hat mir alle ihre Kochbücher und so hinterlassen. Ich war doch ihre einzige Enkeltochter.«
»Das mit Ihrer Großmutter tut mir leid«, sagte Roger ernst. »Es kam sehr plötzlich, nicht wahr?«
Fiona nickte traurig. »Aye. Tagsüber war sie munter wie ein Fisch im Wasser, und nach dem Abendessen sagte sie plötzlich, sie sei ein wenig müde, und ging zu Bett.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Sie ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.«
»Nicht die schlechteste Art zu sterben«, meinte Roger. »Das ist ein Trost.« Mrs. Graham war schon eine Institution im Haushalt gewesen, als Roger nach dem Tod seiner Eltern als verschüchterter Fünfjähriger vom Reverend aufgenommen worden war. Die Witwe mittleren Alters, deren Kinder bereits erwachsen waren, ließ Roger in den Genuß ihres unerschöpflichen Vorrats an mütterlicher Zuneigung kommen, wenn er in den Schulferien heimkehrte. Sie und der Reverend bildeten ein seltsames Paar, doch auf ihre Weise hatten sie das alte Haus zu einem Heim gemacht.
Gerührt von seinen Erinnerungen, griff Roger nach Fionas Hand und drückte sie. Sie erwiderte seinen Druck mit schmelzendem Blick. Der kleine Rosenknospenmund öffnete sich, und sie beugte sich so weit vor, daß ihr warmer Atem an sein Ohr strich.
»Tja, vielen Dank«, platzte Roger heraus. Hastig zog er die Hand fort, als hätte er sich verbrannt. »Danke für... äh... den Tee und so. Gut. Er war gut. Sehr gut. Danke.« Dann wandte er sich ab. Um seine Verwirrung zu überspielen, griff er in das nächstbeste Fach und zog die zusammengerollten Zeitungsausschnitte heraus, die er dort vorfand.
Verlegen strich er die vergilbten Seiten glatt und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Dann beugte er sich mit gerunzelter Stirn, die tiefe Konzentration suggerieren sollte, über die verblaßte Schrift. Nach einem kurzen Augenblick erhob sich Fiona seufzend und ging zur Tür. Roger sah nicht auf.
Statt dessen seufzte auch er und dankte dem Himmel mit geschlossenen Augen für seine Rettung. Fiona besaß ihre Reize. Außerdem war sie eine gute Köchin. Aber sie war auch neugierig, besitzergreifend, nervtötend und unzweifelhaft auf Heirat versessen. Wenn er noch einmal dieses zarte, rosige Fleisch berührte, konnte er im nächsten Monat das Aufgebot bestellen. Aber wenn es nach ihm ging, würde der Name, der neben dem seinen ins Kirschenregister eingetragen werden würde, Brianna Randall lauten.
Während Roger überlegte, wie groß sein Mitspracherecht in dieser Angelegenheit sein würde, öffnete er die Augen. Verwundert blinzelte er, denn der Name, den er sich eben noch auf seiner Heiratsurkunde vorgestellt hatte, sprang ihm jetzt von der Zeitungsseite ins Auge - Randall.
Natürlich nicht Brianna Randall, sondern Claire. Unter der Überschrift ZURÜCKGEKEHRT VON DEN TOTEN! hatte man ihr Bild abgedruckt - Claire, nur zwanzig Jahre jünger. Sie sah nicht viel anders aus als heute, abgesehen von ihrem Gesichtsausdruck. Aufrecht saß sie in einem Krankenhausbett. Ihre ungekämmten Haare standen nach allen Seiten ab, der Mund war geschlossen, als wäre er versiegelt, und ihre außergewöhnlichen Augen starrten zornig in die Kamera.
Entsetzt blätterte Roger die Zeitungsausschnitte durch. Dann begann er, sorgfältig zu lesen. Leider lieferten sie wenig Konkretes, obwohl sie die spektakulären Ereignisse bis zum letzten ausschlachteten.
Im Frühling des Jahres 1945 war die Frau des angesehenen Historikers Dr. Franklin W. Randall während eines Ferienaufenthalts in Inverness plötzlich verschwunden. Das Auto, mit dem sie unterwegs gewesen war, hatte man sicherstellen können, doch von der Frau fehlte jede Spur. Da alles Suchen ergebnislos blieb, kamen Polizei und Ehemann schließlich zu dem Schluß, Claire sei - vielleicht von einem Landstreicher - ermordet und ihr Leichnam irgendwo in den Bergen versteckt worden.
1948, nach fast genau drei Jahren, war Claire Randall jedoch zurückgekehrt. Abgerissen und zerlumpt fand man sie nicht weit von der Stelle, wo sie verschwunden war. Abgesehen von einer leichten Unterernährung schien sie gesund, doch geistig war Mrs. Randall verwirrt und desorientiert.
Roger, der sich eine verwirrte und desorientierte Claire nicht vorstellen konnte, runzelte die Stirn. Aber aus den restlichen Zeitungsausschnitten erfuhr er nicht mehr, als daß man Mrs. Randall wegen Erschöpfung und Schock im städtischen Krankenhaus behandelt hatte. Er stieß auf ein Foto des vermeintlich überglücklichen Ehemanns, doch Frank Randall wirkte eher fassungslos als glücklich. War ja auch kein Wunder.
Neugierig betrachtete er das Bild. Frank Randall war ein schlanker, attraktiver, aristokratisch aussehender Mann mit dunklen Haaren. Mit verwegener Anmut lehnte er an der Krankenhaustür, wo ihn der Fotograf auf dem Weg zu seiner gerade wiedergefundenen Frau offensichtlich überrascht hatte.
Roger merkte, daß er in der langen, hohen Wangenlinie und der Rundung des Schädels nach Spuren suchte, die ihn an Brianna erinnerten. Fasziniert von diesem Aspekt stand er auf und holte eines von Frank Randalls Büchern aus dem Regal. Hinten auf dem Umschlag fand er ein besseres Foto, ein Farbporträt. Nein, sein Haar war dunkelbraun und ohne jeden rötlichen Schimmer. Die rote Pracht und auch die tiefblauen Katzenaugen mußten von den Großeltern stammen. Sosehr sich Roger auch bemühte, von der Schönheit der flammenden Göttin fand er im Gesicht ihres Vaters keine Spuren.
Seufzend schloß er das Buch und faltete die Ausschnitte zusammen. Er sollte wirklich mit dem Grübeln aufhören und sich seinen Pflichten widmen, sonst würde er in einem Jahr immer noch hier sitzen.
Er war schon dabei, die Zeitungsartikel auf einen der Stapel zu legen, als ihm eine Schlagzeile ins Auge stach: »VON FEEN GERAUBT?« fragte sie. Aber noch viel interessanter fand er das Datum über der Schlagzeile: der 6. Mai 1948.
Vorsichtig, als hielte er eine Bombe in der Hand, legte er die Seite aus den Händen. Dann schloß er die Augen und versuchte, sich wieder an die Unterhaltung mit den Randalls zu erinnern. »In Massachusetts darf man erst mit einundzwanzig Alkohol trinken«, hatte Claire gesagt. »Und meiner Tochter fehlt dazu noch über ein Jahr.« Demnach war sie fast zwanzig. Brianna Randall war fast zwanzig Jahre alt.
Da Roger nicht so schnell zurückrechnen konnte, stand er auf und blätterte in dem immerwährenden Kalender, den der Reverend an seiner Pinnwand hängen hatte. Als er das Datum gefunden hatte, blieb er mit wachsbleichem Gesicht stehen, den Finger auf den Kalender gepreßt.
Claire Randall war nicht nur verwirrt, unterernährt und desorientiert zurückgekehrt - sondern auch schwanger.
 
Im Laufe der Nacht fand Roger doch noch Schlaf, aber weil er so spät zu Bett gegangen war, erwachte er spät am Vormittag mit verquollenen Augen und bohrenden Kopfschmerzen, die sich weder durch eine kalte Dusche noch durch Fionas Geschwätz am Frühstückstisch vertreiben ließen.
Weil er sich der Schmerzen immer weniger erwehren konnte, ließ er die Arbeit liegen und brach zu einem Spaziergang auf. Draußen, im leisen Nieselregen, wurde zwar der Schmerz erträglicher, doch auch sein Kopf so klar, daß er wieder über die Erkenntnisse der letzten Nacht zu grübeln begann.
Brianna wußte von nichts. Das wurde schon aus der Art und Weise deutlich, wie sie über ihren verstorbenen Vater sprach - oder über Frank Randall, von dem sie dachte, er sei ihr Vater. Und Claire wollte offensichtlich nicht, daß sie eingeweiht würde, sonst hätte sie es ihr schon längst erzählt. Es sei denn, die Reise nach Schottland war als Einleitung zu solch einem Geständnis gedacht. Ihr wahrer Vater mußte ein Schotte sein, denn schließlich war Claire in Schottland verschwunden - und auch wieder aufgetaucht. Lebte er noch hier?
Welch ein verblüffender Gedanke! War Claire mit ihrer Tochter nach Schottland gekommen, um sie ihrem wahren Vater vorzustellen? Skeptisch schüttelte Roger den Kopf. Verdammt riskant, solch ein Vorgehen. Für Brianna eine verwirrende und für Claire eine schmerzliche Erfahrung. Und dem Vater mußte dabei vor Aufregung das Herz in die Hose rutschen. Und Brianna schien mit allen Fasern an Frank Randall zu hängen. Wie mußte sie sich fühlen, wenn sie erfuhr, daß sie mit dem Mann, den sie geliebt und verehrt hatte, überhaupt nicht verwandt war?
Roger bedauerte alle Beteiligten, einschließlich sich selbst. Er hatte in diesem Stück um keine Rolle gebeten und wünschte sich zurück in den Zustand seliger Unwissenheit, in dem er gestern noch geschwebt hatte. Er mochte Claire Randall gern und fand die Vorstellung, sie könnte Ehebruch begangen haben, schlichtweg geschmacklos. Gleichzeitig verspottete er sich für seine altmodische Sentimentalität. Wer konnte schon wissen, wie ihr Leben mit Frank Randall ausgesehen hatte? Vielleicht war sie aus gutem Grund mit einem anderen Mann auf und davon gegangen. Aber warum war sie dann zurückgekommen?
Verschwitzt und verstimmt kehrte Roger zum Pfarrhaus zurück. Hastig zog er im Flur das Jackett aus und ging dann nach oben, um ein Bad zu nehmen. Manchmal fühlte er sich dadurch getröstet, und Trost hatte er jetzt bitter nötig.
Er ließ die Hand über die Kleiderbügel im Wandschrank gleiten, bis er den Stoff seines abgetragenen weißen Bademantels spürte. Doch nach kurzem Überlegen schob er die Bügel beiseite und wühlte ganz hinten im Wandschrank herum, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Voller Zuneigung blickte er auf den schäbigen alten Hausmantel. Die gelbe Seide des Untergrunds war vor Alter dunkel geworden, doch die hellbunten Pfauen prangten darauf so kühn wie eh und je. Als Zeichen ihrer hochherrschaftlichen Unbekümmertheit schlugen sie ein Rad und blickten den Betrachter aus ihren dunklen Knopfaugen herausfordernd an. Roger hielt sich den weichen Stoff an die Nase und sog den Geruch mit geschlossenen Augen ein. Der schwache Duft nach Borkum Riff und Whisky erinnerte ihn stärker an seinen Ziehvater als die Korkwand mit all ihrem Krimskrams.
Wie oft hatte er den tröstlichen Duft mit seinem Hauch von Old Spice eingeatmet, wie oft hatte er das Gesicht in der glatten, weichen Seide vergraben, während der Reverend schützend die rundlichen Arme um ihn legte. Die anderen Kleidungsstücke des alten Herrn hatte er der Wohlfahrt geschenkt, doch von diesem Stück hatte er sich nicht trennen können.
Auf eine innere Eingebung hin schlüpfte er mit nacktem Oberkörper in den Mantel, überrascht von der angenehmen Wärme, die sich auf seiner Haut wie die Liebkosung sanfter Finger anfühlte. Wohlig bewegte er die Schultern, dann schlang er sich den Mantel um den Körper und schloß mit einem lockeren Knoten den Gürtel.
Wachsam darauf bedacht, Fiona nicht in die Fänge zu geraten, schlich er über den Flur zum Badezimmer. Der altehrwürdige Gasdurchlauferhitzer stand am Kopfende der Wanne wie der Wächter einer heiligen Quelle. Eine seiner Jugenderinnerungen bezog sich auf den allwöchentlichen Horror, wenn er versuchte, den Durchlauferhitzer mit dem Gasanzünder zu entfachen, während das Gas mit einem bedrohlichen Zischen an seinem Ohr vorbeistrich und seine schwitzenden Hände ergebnislos hantierten. Jedesmal hatte er befürchtet, eine Explosion könnte seinem Leben ein plötzliches Ende setzen.
Nach einer Operation seines rätselhaften Innenlebens war der Durchlauferhitzer nun schon seit langem automatisch. Er gurgelte leise, während unten auf dem Gasring hinter dem Metallschild die unsichtbare Flamme knackte und zischte. Roger drehte den Heißwasserhahn bis zum Anschlag auf und gab eine halbe Drehung »kalt« hinzu. Während er darauf wartete, daß die Badewanne vollief, stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete sich.
Gar nicht so schlecht, dachte er, nachdem er den Bauch eingezogen und sich zu voller Größe aufgerichtet hatte. Schlank, fest, die Beine lang, aber keine Stelzen. Vielleicht ein bißchen mager um die Schultern? Kritisch runzelte er die Stirn, während er seinen schlanken Körper hin und her drehte.
Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte dunkle Haar, bis es wie ein Rasierpinsel emporstand. Er versuchte sich vorzustellen, wie er mit längerem Haar und einem Bart aussehen würde, der Mode, die seine Studenten trugen. Würde er damit flott oder lediglich mottenzerfressen wirken? Vielleicht auch noch ein Ohrring, wenn er schon mal dabei war, um ihm etwas Piratenhaftes zu verleihen. Roger zog die Brauen zusammen und bleckte die Zähne.
»Grrr«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
»Mr. Wakefield?« antwortete dieses.
Roger fuhr so erschreckt auf, daß er sich den Zeh an dem Klauenfuß der altertümlichen Badewanne stieß.
»Autsch!«
»Alles in Ordnung, Mr. Wakefield?« fragte der Spiegel. Gleichzeitig wackelte der Porzellanknauf an der Tür.
»Natürlich!« schnauzte er gereizt zurück, wobei er die Tür anfunkelte. »Gehen Sie, Fiona, ich nehme ein Bad!«
Hinter der Tür ertönte ein Kichern.
»Oh, sogar zweimal am Tag! Sie halten’s aber vornehm! Möchten Sie etwas von dem neuen Badesalz? Es steht im Regal; Sie brauchen sich nur zu bedienen.«
»Nein, danke!« schnaubte er. Da die Wanne inzwischen halb vollgelaufen war, drehte er die Hähne zu. In der sich ausbreitenden tröstlichen Stille sog er den Wasserdampf tief ein. Dann ließ er sich mit einem leisen Ächzen in das heiße Wasser gleiten und fühlte, wie ihm feiner Schweiß ins Gesicht trat.
»Mr. Wakefield?« Da war die Stimme wieder, zwitschernd wie ein aufdringliches Rotkehlchen.
»Gehen Sie jetzt, Fiona«, zischte er. Er lehnte sich in der Wanne zurück, und das dampfende Wasser umschmeichelte seinen Körper wie die Arme einer Geliebten. »Ich habe hier alles, was ich brauche.«
»Nein, haben Sie nicht.«
»Doch.« Sein Blick schweifte über die beeindruckende Ansammlung von Flaschen und Gläsern auf dem Regal über der Badewanne. »Drei Sorten Shampoo, Haarspülung, Rasiercreme und -klingen, Seife, After Shave, Eau de Cologne, Deodorant. Mir fehlt nichts, Fiona.«
»Und was ist mit Handtüchern?« fragte die Stimme süß.
Nach einem wilden Blick durch das völlig handtuchlose Badezimmer schloß Roger die Augen, biß die Zähne zusammen und zählte langsam bis zehn. Da dies nicht reichte, erhöhte er auf zwanzig. Erst dann fühlte er sich in der Lage, ohne Schaum vorm Mund zu sprechen.
»Gut, Fiona, legen Sie sie vor die Tür. Und dann... bitte, Fiona... gehen Sie!«
Nach einem Rascheln hörte er, wie sich ihre Schritte entfernten. Mit einem Seufzer der Erleichterung gab sich Roger endlich den Freuden des Alleinseins hin. Frieden. Ruhe. Keine Fiona.
Nun, da er endlich mit etwas mehr Objektivität über seine aufregende Entdeckung nachdenken konnte, beschäftigte ihn vor allem die Neugier auf Briannas geheimnisvollem Vater. Der Tochter nach zu urteilen, mußte er ein Mann von außerordentlicher körperlicher Anziehungskraft gewesen sein. Aber hätte das ausgereicht, um eine Frau wie Claire Randall in Versuchung zu führen?
Er hatte sich schon gefragt, ob Briannas Vater Schotte war. Lebte er in Inverness - oder hatte er hier gelebt? Diese Annahme könnte Claires Nervosität und sein Gefühl, daß sie etwas verbarg, erklären. Aber erklärte sie auch die rätselhaften Wünsche, die sie an ihn herangetragen hatte? Sie hatte ihn gebeten, mit Brianna nicht zum Craigh na Dun zu fahren und ihr gegenüber den Hauptmann der Männer von Broch Tuarach nicht zu erwähnen. Warum nur, um alles in der Welt?
Ein plötzlicher Einfall ließ ihn auffahren, so daß das Wasser gegen den Rand der gußeisernen Wanne platschte. Könnte es sein, daß sie sich nicht um den jakobitischen Soldaten aus dem achtzehnten Jahrhundert sorgte, sondern um einen Mann gleichen Namens? Hieß der Mann, mit dem sie 1947 eine Tochter gezeugt hatte, vielleicht auch James Fraser? Weiß Gott, kein seltener Name in den Highlands.
Ja, dachte er, das wäre eine Erklärung. Und Claires Wunsch, selbst diejenige zu sein, die ihrer Tochter den Steinkreis zeigte, könnte durchaus mit dem Geheimnis um ihren Vater zusammenhängen. Vielleicht hatte ihn Claire dort kennengelernt, oder womöglich war Brianna dort gezeugt worden. Der Steinkreis war ein beliebter Ort für ein Schäferstündchen. Roger hatte sich in seiner Highschool-Zeit oft genug mit Mädchen dort verabredet und darauf gebaut, daß sie vom Hauch des heidnischen Mysteriums aus der Reserve gelockt werden würden. Funktioniert hatte es stets.
Urplötzlich überkam ihn die Vorstellung, wie sich Claire Randalls zarte, weiße Glieder in wilder Ekstase um den nackten Rücken eines rothaarigen Mannes schlangen, wie sich die zwei regennassen und mit Grashalmen bedeckten Leiber leidenschaftlich zwischen den stehenden Steinen aufbäumten. Das Bild war so schockierend deutlich, daß ihm ein Schauer über den Rücken fuhr.
Mein Gott! Konnte er Claire Randall noch in die Augen blicken, wenn er sie das nächstemal traf? Und was sollte er Brianna sagen? »Welches Buch hat Ihnen in letzter Zeit besonders gefallen?« - »Können Sie mir einen guten Film empfehlen?« - »Wußten Sie schon, daß Ihr Vater nicht Ihr Vater ist?«
Abwehrend schüttelte er den Kopf. Im Grunde hatte er keine Ahnung, was er als nächstes tun sollte. Es war eine unangenehme Situation. Eigentlich wollte er mit alldem nichts zu tun haben, doch dazu war es bereits zu spät. Er mochte Claire Randall, und er mochte Brianna - mehr als das, um ehrlich zu sein. Er wollte sie beschützen und ihr jeden Schmerz ersparen. Doch er sah keine Möglichkeit, dies auch zu tun. Ihm blieb nichts weiter übrig, als den Mund zu halten, bis Claire das ausführte, was sie vorhatte. Und dann die Scherben aufsammeln.
Die Geliehene Zeit
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