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Spurensuche
Roger verließ Culloden House am nächsten Morgen
mit zwölf Seiten Notizen und einem wachsenden Gefühl der
Verwirrung. Was zunächst wie ein durchschnittliches Projekt
historischer Recherche ausgesehen hatte, zeigte immer mehr Knoten
und Verwicklungen.
In der Aufstellung der Gefallenen von Culloden
hatte er nur drei Namen von Claires Liste wiedergefunden. Das war
an sich nicht weiter bemerkenswert. Es war unwahrscheinlich, daß
sich alle Soldaten des Bonnie Prince säuberlich in seine
Heeresliste eingetragen hatten. Einige Clanoberhäupter hatten sich
Charles Stuart offenbar nur aus einer vorübergehenden Laune heraus
angeschlossen, und andere hatten ihn aus noch unbedeutenderen
Gründen wieder verlassen, bevor sie offiziell erfaßt werden
konnten. Die Registrierung der Armee des Prinzen war schon von
Anfang an höchst planlos verlaufen und hatte gegen Ende des
Feldzuges fast vollständig ihre Bedeutung verloren. Es hatte wenig
Sinn, Soldlisten zu führen, wenn man keine Mittel hatte, um die
Soldaten auszuzahlen.
Sorgsam faltete Roger sich zusammen und ließ sich
mit geducktem Kopf in seinen Morris gleiten. Dann schlug er seinen
Aktendekkel auf und blickte noch einmal auf die Blätter, die er
gerade kopiert hatte. Seltsamerweise hatte er fast alle Namen von
Claires Liste auf einer Heeresliste gefunden, allerdings auf einer
anderen.
Niemanden würde es erstaunen, wenn einzelne
Mitglieder der Clan-Regimenter Fahnenflucht begangen hatten, als
sich das Ausmaß der Katastrophe abzeichnete. Nein, was ihn vor ein
Rätsel stellte, war die Tatsache, daß die Namen der Männer von
Claires Liste samt und sonders im Regiment Lord Lovats aufgeführt
waren. Dieses Regiment hatte man erst gegen Ende des Feldzugs in
den
Kampf geschickt, um das Versprechen, das der Lord den Stuarts
gegeben hatte, zu erfüllen.
Claire hingegen hatte behauptet, daß diese Männer
alle von einem kleinen Gut namens Broch Tuarach stammten, das im
südwestlichen Winkel der Fraser-Ländereien lag, eigentlich sogar an
der Grenze zum Gebiet des MacKenzie-Clans. Und diese Männer hatte
sich der Armee der Highlander schon fast zu Beginn des Feldzugs
angeschlossen.
Roger schüttelte den Kopf. Dies alles ergab keinen
Sinn. Möglicherweise hatte sich Claire in der Zeit geirrt. Aber
bestimmt nicht im Ort. Wie konnte es passieren, daß die Männer des
kleinen Gutes Broch Tuarach, die dem Oberhaupt des Fraser-Clans
keinen Treueid geleistet hatten, von Simon Fraser in den Kampf
geschickt wurden? Gewiß, Lord Lovat war als »der alte Fuchs«
bekannt, und das mit gutem Grund. Aber Roger bezweifelte, daß er
über die nötige Durchtriebenheit verfügte, solch einen Schachzug zu
planen und durchzusetzen.
Kopfschüttelnd ließ er den Motor an und fuhr los.
Das Archiv des Culloden House hatte sich als enttäuschend
unvollständig erwiesen. Zum größten Teil bestand es aus
anschaulichen Briefen von Lord George Murray, der sich über
Versorgungsengpässe ausließ, und aus all den Dingen, die sich
Touristen gern in Schaukästen ansehen. Aber ihm reichte das
nicht.
»Ruhe bewahren, Alter«, mahnte er sich, während er
beim Abbiegen in den Rückspiegel blickte. »Du sollst herausfinden,
was mit denen passiert ist, die bei der Schlacht von Culloden nicht
ins Gras gebissen haben. Ist doch egal, wie sie dahin gekommen
sind, solange sie das Schlachtfeld unversehrt verlassen
konnten.«
Doch die Frage ließ ihn nicht mehr los. Dazu waren
die Umstände auch zu außergewöhnlich. Es passierte immer wieder,
daß man Namen verwechselte, besonders in den Highlands, wo die
Hälfte der Bevölkerung immer und zu jeder Zeit »Alexander« getauft
wurde. Männer waren daher neben dem Nachnamen in erster Linie unter
dem Namen ihres Clans oder ihres Herkunftsorts bekannt. Und
manchmal ersetzte das sogar den Nachnamen. »Lochiel«, einer der
berühmtesten Führer der Jakobiten, hieß in Wirklichkeit Donald
Cameron von Lochiel, wodurch er sich säuberlich von den Hunderten
anderer Camerons mit Vornamen Donald unterschied.
Und wenn ein Mann nicht Donald oder Alec hieß, dann
war er
auf den Namen John getauft. Die drei Männer von Claires Liste, die
er in der Aufstellung der Gefallenen von Culloden gefunden hatte,
hießen Donald Murray, Alexander MacKenzie Fraser und John Graham
Fraser. Alle ohne Herkunftsort, lediglich mit ihrer Regimentsnummer
verzeichnet. Lord Lovats Regiment.
Doch ohne den Herkunftsort konnte er nicht mit
Sicherheit sagen, ob es sich bei diesen Männern um jene von Claires
Liste handelte. Unter den Gefallenen befanden sich mindestens sechs
John Frasers, und das in einer Aufstellung, die unvollständig war.
Die Engländer hatten sich weder um Genauigkeit noch um
Vollständigkeit gekümmert - die meisten Aufstellungen stammten von
den Clanoberhäuptern, die nach der Schlacht ihre Männer zählten, um
festzustellen, wer nicht zurückgekommen war. Das machte es
natürlich nur noch komplizierter.
Roger rieb sich so fest durchs Haar, als wollte er
mit einer Kopfmassage sein Gehirn anregen. Wenn es sich bei den
drei Männern nicht um die von Claire Gesuchten handelte, wurde das
Rätsel nur noch größer. Gut die Hälfte von Charles Stuarts Heer war
in Culloden hingemetzelt worden. Und Lovats Männer waren mittendrin
gewesen. Es schien unvorstellbar, daß alle dreißig dabei unversehrt
geblieben waren. Lovats Getreue hatten sich dem Aufstand erst spät
angeschlossen, zu einem Zeitpunkt, als sich in anderen Regimentern
die Erkenntnis breitmachte, auf welch aussichtsloses Unterfangen
sie sich da eingelassen hatten, so daß Fahnenflucht keine
Seltenheit war. Die Frasers hingegen hielten Charles die Treue -
und mußten entsprechend leiden.
Ein lautes Hupen schreckte Roger aus seinen
Gedanken, und er schwenkte zur Seite, um einen riesigen Laster
passieren zu lassen. Nachdenken und Autofahren sind zwei
Tätigkeiten, die sich nicht vertragen, merkte er.
Er hielt den Wagen an und überlegte. In einem
ersten Impuls wäre er am liebsten zu Mrs. Thomas’ Pension gefahren,
um Claire von seinem Ergebnis zu berichten. Daß er auf diese Weise
auch in den Genuß von Brianna Randalls Gesellschaft kommen würde,
ließ die Idee noch reizvoller erscheinen.
Auf der anderen Seite schrie jede Faser seiner
Historikerseele nach weiteren Fakten, und es schien
unwahrscheinlich, daß Claire sie ihm liefern würde. Er konnte sich
nicht vorstellen, daß Claire ihn erst zu dieser Aufgabe heranzog
und dann deren Ausführung verhinderte,
indem sie ihn mit falschen Informationen fütterte. Das wäre
unvernünftig, und Claire war ihm von Anfang an als ausgesprochen
vernünftige Person erschienen.
Trotzdem, da blieb die Sache mit dem Whisky. Bei
dem Gedanken wurde sein Gesicht heiß. Er war ganz sicher, daß sie
es mit Absicht getan hatte - und da sie für derartige Späße nicht
der richtige Typ zu sein schien, mußte er annehmen, daß sie ihn auf
diese Weise daran hindern wollte, Brianna zu einem Ausflug nach
Broch Tuarach einzuladen. Wollte sie ihn von dem einstigen Gut
fernhalten, oder wollte sie verhindern, daß er mit Brianna fuhr? Je
länger er über den Vorfall nachdachte, desto stärker wurde seine
Gewißheit, daß Claire Randall etwas vor ihrer Tochter verbarg. Er
hatte allerdings keine Ahnung, was das sein mochte. Noch weniger
wußte er, was es mit ihm oder seinem Projekt zu tun hatte.
Nur zwei Dinge hielten ihn davon ab aufzugeben:
Brianna und die blanke Neugier. Er wollte wissen, was es damit auf
sich hatte, und das würde er, verdammt noch mal, auch
herausfinden.
Ohne auf den vorbeirauschenden Verkehr zu achten,
schlug er mit der Faust gegen das Lenkrad. Als er seine
Entscheidung getroffen hatte, startete er den Motor und fuhr
weiter. Am nächsten Kreisverkehr bog er in die Straße, die nach
Inverness und zum Bahnhof führte.
Der Flying Scotsman würde ihn in drei Stunden nach
Edinburgh bringen. Der Kurator, der die Stuart-Dokumente betreute,
war ein alter Freund des Reverend gewesen. Und Roger hatte einen,
wenn auch verwirrenden Punkt, bei dem er ansetzen konnte. Lord
Lovats Regimentsliste hatte er entnommen, daß jene dreißig Männer
unter dem Kommando eines gewissen James Fraser standen - des Herrn
von Broch Tuarach. Dieser Mann war offensichtlich das
Verbindungsglied zwischen Broch Tuarach und den Frasers von Lovat.
Und Roger fragte sich, weshalb James Fraser nicht auf Claires Liste
stand.
Die Sonne schien, ein seltenes Ereignis im April,
und Roger kostete es soweit wie möglich aus, indem er das Fenster
herunterkurbelte und die sanfte Brise in sein Auto wehen
ließ.
Er hatte über Nacht in Edinburgh bleiben müssen und
war erst am nächsten Abend zurückgekommen - so erschöpft von der
langen Zugfahrt, daß er kaum noch die warme Mahlzeit würdigen
konnte, die Fiona für ihn zubereitet hatte. Voller Energie und
Entschlossenheit war er heute morgen aufgestanden und zu dem
kleinen Dörfchen Broch Mordha nahe dem Anwesen Broch Tuarach
aufgebrochen. Mochte Claire Randall ihre Tochter auch daran
hindern, auf das ehemalige Gut zu fahren, ihn konnte niemand davon
abhalten.
Er hatte Broch Tuarach tatsächlich gefunden, oder
zumindest nahm er es an - ein großer Steinhaufen vor den
eingefallenen Überresten eines kreisrunden Brochs oder Turms. Roger
verstand genügend Gälisch, um zu wissen, daß sein Name »der nach
Norden schauende Turm« bedeutete, und er überlegte, wie sich dies
mit seiner kreisrunden Bauweise vereinbaren ließ.
Daneben lagen das Gutshaus und die
Wirtschaftsgebäude, ebenfalls zerfallen, doch nicht bis auf die
Grundmauern. Auf einem Pflock an der Einfahrt prangte das
verblichene Schild eines Grundstücksmaklers. Als Roger die Anhöhe
neben dem Haus erreichte, blickte er sich um. Er entdeckte nichts,
was erklärt hätte, warum Claire ihre Tochter davon abhalten wollte
hierherzufahren.
Er stellte den Morris in der Einfahrt ab und stieg
aus. Das Anwesen befand sich in einer herrlichen, allerdings auch
sehr einsamen Landschaft. Nur sorgfältiges Manövrieren hatte auf
seiner fast einstündigen Fahrt über die holprige Landstraße
verhindert, daß seine Ölpfanne Schaden nahm.
Da das Haus offensichtlich verlassen und wohl auch
einsturzgefährdet war, trat er gar nicht erst ein - er würde
ohnehin nichts finden. Doch auf dem Türsturz entdeckte er den
Namen«Fraser« - desgleichen auf den meisten der kleinen Grabsteine
des ehemaligen Familienfriedhofs. Kein großer Fortschritt, dachte
er. Auch nicht einen der Namen, die auf seiner Liste standen,
konnte er auf den Grabsteinen finden. Der Karte nach würde er
seinen Weg auf der eingeschlagenen Straße fortsetzen müssen, um
dann nach knapp fünf Kilometern in das Dörfchen Broch Mordha zu
gelangen.
Wie er befürchtet hatte, war die kleine Dorfkirche
schon vor Jahren eingefallen. Auf sein hartnäckiges Klopfen an
verschiedenen Haustüren begegneten ihm ausdruckslose Gesichter oder
mißtrauische Blicke, bis schließlich ein alter Bauer zweifelnd
meinte, die Taufregister seien wohl ins Museum von Fort William
gebracht worden. Vielleicht sogar nach Inverness, denn dort gäbe es
einen verrückten Reverend, der dieses Zeug sammelte.
Müde und verschwitzt, aber keineswegs entmutigt,
trottete Roger zurück zu seinem Morris, den er bei der Dorfschenke
geparkt hatte. Dies war einer der Rückschläge, die im Zuge
historischer Recherchen immer wieder auftreten, und er war daran
gewöhnt. Rasch ein Glas Bier - nun, an diesem warmen Tag auch zwei
-, und dann weiter nach Fort William.
Geschah ihm recht, überlegte er nüchtern, wenn sich
die Aufstellungen, die er suchte, im Archiv des Reverend befanden.
Das hatte er nun davon, daß er seine Arbeit vernachlässigt hatte
und auf Jagd gegangen war, um eine junge Frau zu beeindrucken.
Seine Fahrt nach Edinburgh hatte nicht mehr erbracht, als daß er
die drei Namen wieder löschen konnte, die er in Culloden House
gefunden hatte. Alle drei Männer hatten in anderen Regimentern
gedient und nicht zur Gruppe aus Broch Tuarach gehört.
Die Stuart-Dokumente hatten drei ganze Räume
ausgefüllt, die unzähligen Umzugskartons im Keller des Museums
nicht mitgerechnet. Und so konnte er kaum behaupten, ausführlich
recherchiert zu haben. Immerhin hatte er eine Abschrift der
Soldliste gefunden, die er schon von Culloden House her kannte,
jener Liste, in der die Gruppe als Mitglied des Regiments
aufgeführt war, das unter dem Kommando des Herrn von Lovat stand -
das heißt, dem Sohn des alten Fuchses, dem jungen Simon. Der
gerissene alte Hund hatte ein doppeltes Spiel getrieben, überlegte
Roger. Er hatte seinen Erben in den Kampf für die Stuarts
geschickt, war selbst aber zu Hause geblieben und hatte den treuen
Untertanen von König George gespielt. Hatte ihm auch nicht viel
genutzt.
In diesem Dokument wurde Simon Fraser der Jüngere
als Kommandant aufgeführt, und James Fraser wurde nicht erwähnt.
Dennoch tauchte ein James Fraser in zahlreichen Heeresberichten,
Memoranden und anderen Quellen auf. Wenn es sich dabei um ein und
dieselbe Person handelte, mußte er während des Feldzugs überall
seine Finger im Spiel gehabt haben. Doch solange Roger nur den
Namen »James Fraser« kannte, wußte er nicht, ob es sich um
denjenigen aus Broch Tuarach handelte, denn der Vorname James war
in den Highlands ebenso häufig wie Duncan oder Robert. Nur in einem
Dokument wurde James Fraser mit seinem mittleren Namen aufgeführt,
der die Identifikation erleichtert hätte, aber darin fanden
wiederum seine Männer keine Erwähnung.
Roger zuckte die Achseln und wischte gereizt einen
Schwarm
blutrünstiger Mücken beiseite, der urplötzlich aufgetaucht war.
All diese Quellen systematisch zu sichten würde Jahre dauern. Um
die Mücken loszuwerden, tauchte er in die biergeschwängerte
Dunkelheit des Dorfkrugs ein.
Erfrischt von dem kühlen, bitteren Ale, ging er in
Gedanken noch einmal seine letzten Schritte durch und überlegte
sich die nächsten. Für heute blieb ihm noch genug Zeit, nach Fort
William zu fahren, obwohl er dann erst spät in der Nacht nach
Inverness zurückkehren würde. Und wenn er in dem dortigen Museum
nicht fündig wurde, war die ironische, aber logische Konsequenz,
daß er sich das Archiv des Reverend vornahm.
Und anschließend? Er leerte sein Glas mit einem
kräftigen Zug und gab dem Wirt ein Zeichen, ihm noch eins zu
bringen. Nun, wenn es hart auf hart kommen würde, blieb ihm nichts
anderes übrig, als jeden Totenacker und Kirchhof in der Umgebung
von Broch Tuarach abzuklappern. Allerdings würden die beiden
Randalls wohl kaum die nächsten zwei, drei Jahre in Inverness
bleiben, um das Ergebnis abzuwarten.
Er tastete in seiner Jackentasche nach dem
Notizbuch, dem ständigen Begleiter eines Historikers. Bevor er
Broch Mordha verließ, sollte er wenigstens noch einen Blick auf die
Überreste des dortigen Kirchhofs werfen. Man wußte nie, was man
dort finden würde, und außerdem brauchte er dann nicht noch einmal
herzufahren.
Am folgenden Nachmittag kamen die Randalls auf
Rogers Einladung hin zum Tee, um sich seinen Zwischenbericht
anzuhören.
»Einige Namen von Ihrer Liste konnte ich
aufspüren«, erklärte er Claire, während er die beiden in die
Bibliothek führte. »Aber seltsamerweise habe ich keinen gefunden,
der in Culloden gefallen ist. Zunächst mußte ich es von drei
Männern annehmen, aber das waren dann doch nur Namensvettern.« Wie
erstarrt hörte Claire Randall ihm zu. Sie hielt die Lehne des
Ohrensessels mit der Hand umklammert, als hätte sie Zeit und Raum
vergessen.
»Äh, möchten Sie sich nicht setzen?« forderte Roger
sie auf. Ein Ruck ging durch ihren Körper, bevor sie nickte und
sich auf die Kante des Sessels sinken ließ. Roger musterte sie noch
einen Augenblick lang neugierig, holte dann den Aktendeckel mit
seinen Notizen heraus und reichte ihn ihr.
»Wie ich sagte, habe ich bisher noch nicht alle
Namen finden
können. Wahrscheinlich muß ich sämtliche Taufregister und
Friedhöfe in der Gegend von Broch Tuarach durchkämmen. Die meisten
dieser Dokumente stammen aus den Unterlagen meines Vaters. Aber
nichts deutet darauf hin, daß einer von ihnen gefallen ist, obwohl
sie in Culloden und zudem, wie Sie sagten, im Regiment der Frasers
gekämpft haben, das sich mitten im Schlachtgetümmel befand.«
»Ich weiß.« Der Klang ihrer Stimme ließ ihn
aufblicken, doch weil sie sich über den Schreibtisch beugte, konnte
er ihr Gesicht nicht sehen. Bei den meisten Papieren handelte es
sich um Rogers handschriftliche Kopien, da solch exotische Geräte
wie Fotokopierer noch nicht in das Regierungsarchiv vorgedrungen
waren, das die Stuart-Dokumente aufbewahrte. Aber es gab auch
Originale, die er der Sammlung des Reverend entnommen hatte. Claire
blätterte die Seiten mit spitzen Fingern um.
»Sie haben recht; es ist wirklich seltsam.« Jetzt
konnte er aus ihrer Stimme deutlich etwas heraushören - eine innere
Erregung, gemischt mit Befriedigung und sogar Erleichterung.
Offensichtlich hatte sie es erwartet - oder erhofft.
»Sagen Sie...« Sie zögerte. »Die Namen, die Sie
gefunden haben... Was ist aus den Männern geworden, wenn sie nicht
in Culloden gefallen sind?«
Roger war zwar überrascht, daß ihr so viel daran
lag, doch gehorsam zog er den Aktendeckel zu sich heran und schlug
ihn auf. »Zwei von ihnen haben sich kurz nach der Schlacht von
Culloden nach Amerika eingeschifft. Vier starben etwa ein Jahr
später eines natürlichen Todes - nicht weiter überraschend, wenn
man bedenkt, daß nach der Schlacht eine verheerende Hungersnot
ausbrach, die in den Highlands zahlreiche Opfer gefordert hat. Und
den hier habe ich in einem Taufregister gefunden - allerdings nicht
dem seiner Heimatgemeinde. Trotzdem bin ich sicher, daß es sich um
einen Ihrer Männer handelt.«
Erst als sie erleichtert die Schultern sinken ließ,
merkte er, wie angespannt sie gewesen war.
»Soll ich nach den anderen weiterforschen?« fragte
er und hoffte, daß die Antwort »ja« lauten würde. Über ihre Mutter
hinweg warf er Brianna einen Blick zu. Sie stand halb abgewandt
neben der Korkwand, als würde Claires Projekt sie nicht
interessieren, doch er sah, daß sich zwischen ihren Brauen eine
Falte eingegraben hatte.
Vielleicht fühlte auch sie diese seltsame
unterdrückte Erregung, die Claire wie ein elektrisches Feld umgab.
Er hatte es schon gespürt, als Claire den Raum betrat, und durch
seine Enthüllungen hatte es sich nur noch verstärkt. Bei einer
zufälligen Berührung, stellte er sich vor, würde ein Funken
statischer Elektrizität auf ihn überspringen.
Das Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Gedanken.
Fiona Graham trat ein und schob einen Teewagen vor sich her, auf
dem eine Teekanne, Tassen auf Zierdeckchen, drei Sorten belegter
Brote, Sahnetorte, Biskuitkuchen, Marmeladenschälchen und Hörnchen
mit dicker Sahne angerichtet waren.
»Lecker!« freute sich Brianna angesichts dieses
Angebots. »Ist das alles für uns oder kommen gleich noch zehn
Gäste?«
Claire blickte lächelnd auf die aufgetischten
Speisen. Das elektrische Feld umgab sie noch immer, nur war es,
wahrscheinlich aufgrund beträchtlicher Anstrengungen, etwas
gedämpft. Roger sah, daß sie eine Hand so fest um eine Falte ihres
Rockes klammerte, daß die Ringe ihr ins Fleisch schnitten.
»Wenn wir das alles vertilgen, brauchen wir
wochenlang nichts mehr zu essen«, erklärte sie. »Es sieht sehr
verlockend aus.«
Fiona strahlte. Sie war klein, rund und hübsch wie
eine braune Henne. Roger seufzte innerlich. Zwar war er froh,
seinen Gästen eine angemessene Erfrischung anbieten zu können, doch
er wußte nur zu genau, daß die üppige Ausstattung des Mahls darauf
abzielte, ihn zu beeindrucken, und nicht die beiden Frauen. Mit
ihren neunzehn Jahren hatte die kleine Fiona ein festes Ziel vor
Augen. Sie wollte heiraten. Am liebsten einen Mann, der mit beiden
Beinen im Berufsleben stand. Sie hatte Roger bei seiner Ankunft vor
einer Woche kaum gesehen, da war sie auch schon zu dem Schluß
gekommen, daß ein Geschichtsdozent der beste Fang sein würde, den
sie in Inverness erwarten konnte.
Seitdem hatte sie ihn gestopft wie eine
Weihnachtsgans, seine Schuhe gewienert, seine Zahnbürste
bereitgelegt, sein Bett gelüftet, seinen Mantel ausgebürstet, ihm
die Abendzeitung gekauft und neben seinen Teller gelegt, ihm den
Nacken massiert, wenn er bis spätnachts am Schreibtisch saß, und
sich unentwegt nach seinem Wohlergehen, seiner Gemütsverfassung und
seinem Gesundheitszustand erkundigt. Noch nie zuvor war er soviel
geballter Häuslichkeit ausgesetzt gewesen.
Kurz gesagt, Fiona trieb ihn in den Wahnsinn.
Die Vorstellung, mit Fiona Graham in den heiligen
Stand der Ehe zu treten, trieb ihm den kalten Angstschweiß auf die
Stirn. Spätestens nach einem Jahr wäre er reif fürs Irrenhaus.
Abgesehen davon gab es noch Brianna Randall, die gerade
nachdenklich auf den Teewagen starrte, als würde sie überlegen,
womit sie beginnen sollte.
Bisher hatte er sich ausschließlich auf Claire und
ihr Vorhaben konzentriert und jeden Blick auf ihre Tochter
vermieden. Claire war hübsch; mit ihren zarten Gliedern und der
durchscheinenden Haut würde sie mit sechzig noch ebenso ansprechend
aussehen wie mit zwanzig. Doch es war der Anblick Briannas, der ihm
den Atem raubte.
Sie hatte das Auftreten einer Königin und sank
nicht in sich zusammen wie andere großgewachsene Mädchen. Wenn er
den geraden Rücken und die anmutigen Bewegungen ihrer Mutter
betrachtete, wußte er, woher sie ihre Haltung hatte. Anders
verhielt es sich mit der außergewöhnlichen Größe und der Fülle des
taillenlangen, mit Kupfer-und Goldfäden durchsetzten, in Bernstein
und Zimt auffunkelnden Haares, das ihr in sanften Wellen auf die
Schultern fiel. Und mit den blauen Augen, die so dunkel
schimmerten, daß sie bei bestimmtem Licht beinahe schwarz aussahen.
Und dem breiten üppigen Mund mit der vollen Unterlippe, der zu
leidenschaftlichen Küssen geradezu einlud. All das mußte sie wohl
von ihrem Vater haben.
Im großen und ganzen war Roger froh, daß dieser
Vater nicht neben ihr saß. Sicherlich hätte er väterlichen Anstoß
an den Gedanken genommen, die ihm durch den Kopf gingen und ihm,
wie er fürchtete, an der Nasenspitze abzulesen waren.
»Der Tee, was!« rief er herzlich. »Ausgezeichnet!
Wunderbar! Sieht lecker aus. Vielen Dank, Fiona! Ich glaube, äh,
wir haben alles.«
Ohne auf den unmißverständlichen Hinweis zu achten,
nahm Fiona das Kompliment der Gäste mit einem anmutigen Nicken
entgegen. Dann deckte sie mit knappen Bewegungen den Tisch,
schenkte den Tee ein, reichte den ersten Kuchenteller herum und
schien bereit, die Rolle der Dame des Hauses auszufüllen.
»Nehmen Sie doch ein wenig Sahne auf Ihr Hörnchen,
Rog... ich meine Mr. Wakefield«, forderte sie ihn auf. Ohne eine
Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Sie sind viel zu dünn. Ich muß
Sie erst
mal aufpäppeln.« Dabei warf sie Brianna Randall einen
verschwörerischen Blick zu und sagte: »Sie wissen ja, wie die
Männer sind. Wenn wir Frauen nicht aufpassen, würden sie glatt
verhungern.«
»Welch ein Glück, daß Sie sich um ihn kümmern«,
entgegnete Brianna höflich.
Roger holte tief Luft und bewegte seine Finger, bis
er den Drang, Fiona zu erdrosseln, überwunden hatte.
»Fiona«, sagte er, »äh, würden Sie mir bitte einen
Gefallen tun?«
Bei der Aussicht, ihm zu Diensten zu sein, strahlte
sie übers ganze Gesicht. »Aber natürlich, Rog... Mr. Wakefield.
Alles, was Sie wollen!«
Roger verspürte einen Anflug von Scham. Doch dann
hielt er sich vor, daß es ebenso in ihrem Interesse läge wie in
seinem. Wenn sie das Zimmer nicht bald verließe, würde er sich
vergessen und etwas tun, was sie beide bedauern könnten.
»Vielen Dank, Fiona. Ich habe bei... bei...«
Verzweifelt versuchte er, sich an den Namen des Dorfkrämers zu
erinnern - »... bei Mr. Buchan in der High Street Tabak bestellt.
Können Sie ihn mir bitte holen? Nach diesem fabelhaften Tee möchte
ich gern eine gute Pfeife rauchen.«
Fiona war schon damit beschäftigt, ihre Schürze
abzubinden - die rüschen- und spitzenbesetzte, stellte Roger
grimmig fest. Als sie die Tür hinter sich zuzog, schloß er dankbar
die Augen. Daß er nicht rauchte, war ihm im Augenblick egal. Statt
dessen wandte er sich mit einem erleichterten Seufzer seinen Gästen
zu.
»Sie haben mich gefragt, ob Sie noch nach den
andern Männern auf meiner Liste forschen sollen«, erinnerte ihn
Claire. Roger hatte den Eindruck, daß sie über Fionas Aufbruch
ebenso erleichtert war wie er. »Nun, wenn es Ihnen nicht zuviel
wird, würde ich Sie gern darum bitten.«
»Keineswegs«, erwiderte Roger. »Es ist mir ein
Vergnügen.«
Unentschlossen schwebte seine Hand über dem
Überangebot auf dem Teewagen, bis sie resolut nach der Karaffe mit
dem zwölf Jahre alten Muir Breame Whisky griff. Nach dem Gerangel
mit Fiona hatte er sich eine Stärkung verdient.
»Mögen Sie auch einen Schluck?« fragte er seine
Gäste. »Oder lieber Tee?« fügte er hinzu, als er den ablehnenden
Ausdruck auf Briannas Gesicht bemerkte.
»Tee«, entschied sie erleichtert.
»Du weißt nicht, was du dir entgehen läßt«,
erklärte ihre Mutter, die genußvoll an ihrem Whisky
schnupperte.
»O doch!« entgegnete Brianna. »Deshalb lasse ich es
mir ja auch entgehen.« Sie zuckte die Achseln und blinzelte Roger
an.
»In Massachusetts darf man erst mit einundzwanzig
offiziell Alkohol trinken«, erklärte Claire, zu Roger gewandt. »Und
weil meiner Tochter dazu noch über ein Jahr fehlt, ist sie Whisky
nicht gewohnt.«
»Du tust ja gerade so, als wäre es ein Verbrechen,
wenn man keinen Whisky mag.« Brianna warf Roger über ihre Teetasse
hinweg einen lächelnden Blick zu.
»Wir sind hier in Schottland, meine Gute«,
erinnerte er sie ernst. »Und da ist es auf jeden Fall ein
Verbrechen.«
»Ach ja? Hoffentlich kein so schweres wie ein
Mord.«
Er lachte und verschluckte sich an seinem Whisky.
Als er hustend zu Claire hinüberblickte, sah er, daß ihre Lippen
ein gezwungenes Lächeln umspielte. Außerdem wirkte sie
ausgesprochen blaß. Aber gleich darauf war dieser Moment vorüber,
und nach einem kurzen Blinzeln schmunzelte auch sie.
Überrascht stellte Roger fest, wie leicht die
Unterhaltung zwischen ihnen dahinplätscherte - sowohl über
Banalitäten als auch über Claires Anliegen. Brianna mußte sich für
die Arbeit ihres Vaters sehr interessiert haben, denn sie wußte
weitaus mehr über die Jakobiten als ihre Mutter.
»Ich finde es erstaunlich, daß es die Hochlandarmee
überhaupt bis nach Culloden geschafft hat«, sagte sie. »Wußten Sie,
daß sie die Schlacht von Prestonpans mit nur knapp zweitausend Mann
gewonnen haben? Das englische Heer war achttausend Mann stark.
Unglaublich!«
»Und bei der Schlacht von Falkirk war es ähnlich«,
fiel Roger ein. »Zahlenmäßig unterlegen, schlecht bewaffnet, nur zu
Fuß. Und trotzdem schafften sie, was nach den Gesetzen der Logik
nicht hätte sein dürfen!«
»Stimmt«, meinte Claire zwischen zwei Schluck
Whisky, »das taten sie.«
»Ich habe mich gefragt«, wandte sich Roger betont
beiläufig an Brianna, »ob Sie mich nicht zu einigen dieser Orte
begleiten wollen - zu den Schauplätzen der Ereignisse. Das wäre
nicht nur interessant, sondern Sie könnten mir auch bei der Arbeit
eine Hilfe sein.«
Lachend strich sich Brianna eine Strähne aus dem
Gesicht. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß ich Ihnen eine Hilfe
bin, aber ansehen würde ich es mir gerne.«
»Prima!« Ihre Zustimmung freute ihn so sehr, daß er
beinahe die Karaffe hätte fallen lassen, nach der er gerade
gegriffen hatte. Geistesgegenwärtig kam ihm Claire zu Hilfe und
schenkte ihm gekonnt ein.
»Das ist ja wohl das mindeste, was ich tun kann,
nachdem ich neulich alles verschüttet habe«, entgegnete sie auf
seinen Dank.
Als Roger sie so entspannt und locker dasitzen sah,
kamen ihm Zweifel an seinem Verdacht. Nichts in ihrem hübschen,
kühlen Gesicht deutete darauf hin, daß es etwas anderes als ein
Mißgeschick gewesen war.
Eine halbe Stunde später saßen sie müde, aber
zufrieden vor den Überresten der Mahlzeit und der leeren
Whiskykaraffe. Nur Brianna rutschte unruhig hin und her.
Schließlich warf sie Roger einen Blick zu und fragte, wo das
Badezimmer sei.
»Oh, natürlich, die Toilette.« Abgefüllt mit
saftigem Früchtebrot und Mandelbiskuits, mühte er sich auf die
Beine. Er mußte zusehen, daß er Fionas Fängen bald entkäme, sonst
würde er in Oxford nicht mehr in seine Anzüge passen.
»Sie ist noch recht altmodisch«, erklärte er,
während er auf eine Tür an der anderen Seite des Flures wies. »Mit
Wasserkasten und einer Kette zum Ziehen.«
»Wie im Britischen Museum.« Brianna nickte. »Aber
nicht in der Ausstellung, sondern in der Damentoilette.« Nach
kurzem Zögern fragte sie: »Haben Sie hier das gleiche
Toilettenpapier wie im Britischen Museum? Wenn ja, dann halte ich
mich lieber an das Kleenex in meiner Tasche.«
Fragend blickte Roger sie an. »Entweder ist dies
ein sehr eigenartiges Gesprächsthema, oder ich habe mehr Whisky
getrunken, als ich dachte.« Tatsächlich hatten Claire und er dem
Muir Breame ausgiebig zugesprochen, während Brianna bei Tee
geblieben war.
Claire lachte und reichte ihrer Tochter
Papiertaschentücher. »Du wirst hier zwar kein Wachspapier mit dem
Aufdruck ›Eigentum Ihrer Majestät der Königin< finden, aber viel
besser wird es auch nicht sein. Britisches Toilettenpapier ist eine
steife Angelegenheit.«
»Danke.« Die Taschentücher in der Hand, wandte sich
Brianna zum Gehen, doch an der Tür blickte sie sich noch einmal um.
»Warum benutzen die Leute freiwillig Toilettenpapier, das so hart
ist wie Dosenblech?« wollte sie wissen.
»Ein Herz wie aus Eichenholz«, setzte Roger an,
»und einen Hintern hart wie Stahl. So soll ein wahrer Brite sein.
Es prägt den Volkscharakter.«
»Soweit es die Schotten betrifft, liegt es wohl
eher an ererbter Gefühllosigkeit«, fügte Claire hinzu. »Die Art
Männer, die mit dem nackten Hintern unterm Kilt Stunden auf dem
Pferderücken zubringen, haben einen Po wie Sattelleder.«
Brianna bog sich vor Lachen. »Dann will ich lieber
nicht wissen, was sie damals als Toilettenpapier benutzt
haben.«
»So schlimm war es gar nicht«, erklärte Claire zu
aller Überraschung. »Die Blätter der Königskerze sind fast so gut
wie das handelsübliche doppellagige Krepp. Und im Winter, wenn man
nicht nach draußen konnte, waren es gewöhnlich feuchte Lappen -
zwar nicht besonders hygienisch, aber dafür auch nicht
kratzig.«
Roger und Brianna verschlug es die Sprache.
»Das... äh, habe ich in einem Buch gelesen«, meinte
Claire errötend.
Nachdem Brianna den Raum verlassen hatte, blieb
Claire unschlüssig an der Tür stehen.
»Es war sehr freundlich von Ihnen, uns so großzügig
zu bewirten«, setzte sie an. Die vorübergehende Verlegenheit war
wieder ihrer gewohnten Haltung gewichen. »Aber vor allem bin ich
Ihnen dankbar, daß Sie diese Namen für mich gefunden haben.«
»Es war mir wirklich ein Vergnügen«, versicherte
ihr Roger. »Eine angenehme Abwechslung zu all den Spinnweben und
Mottenkugeln hier. Sobald ich mehr über Ihre Jakobiten
herausgefunden habe, lasse ich es Sie wissen.«
»Vielen Dank.« Sie zögerte und blickte über die
Schulter. »Da Brianna gerade nicht da ist...«, fuhr sie mit
gesenkter Stimme fort, »möchte ich Sie um einen Gefallen
bitten.«
Roger räusperte sich und rückte den Schlips
zurecht, den er sich zur Feier des Tages umgebunden hatte.
»Nur raus damit.« Er verspürte eine geradezu
überschwengliche Freude, weil der Nachmittag solch ein Erfolg
gewesen war. »Ich stehe ganz zu Ihren Diensten.«
»Sie haben Brianna eingeladen, Sie zu Ihren
Recherchen zu begleiten.
Um was ich Sie bitten möchte... es gibt einen Ort, den sie besser
nicht sehen soll, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Auf der Stelle schrillten in Rogers Kopf die
Alarmglocken. Sollte er vielleicht in das Geheimnis um Broch
Tuarach eingeweiht werden?
»Der Steinkreis - auf dem Craigh na Dun.« Ernst
beugte Claire sich vor. »Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn ich
keine gewichtigen Gründe hätte. Den Steinkreis möchte ich Brianna
selbst zeigen. Warum das so ist, kann ich Ihnen im Augenblick
leider noch nicht sagen, werde es aber zum rechten Zeitpunkt
nachholen. Versprechen Sie es mir?«
In Rogers Kopf überschlugen sich die Gedanken.
Demnach hatte sie ihre Tochter gar nicht von Broch Tuarach
fernhalten wollen. Ein Rätsel war aufgeklärt, dafür hatte sich ein
anderes aufgetan.
»Selbstverständlich«, erwiderte er. »Wenn Ihnen
daran liegt.«
»Ich danke Ihnen.« Sie legte ihm kurz die Hand auf
den Arm und wandte sich dann zum Gehen. Als er ihre Silhouette im
Gegenlicht sah, fiel ihm plötzlich etwas ein. Vielleicht war es
nicht der richtige Augenblick, aber schaden konnte es auch
nicht.
»Ach, Mrs. Randall - Claire?«
Claire drehte sich zu ihm um. Ohne Brianna, die ihn
ablenkte, sah er plötzlich, daß Claire auf ihre Weise ausgesprochen
schön war. Der Whisky hatte ihre Wangen mit einer lebhaften Farbe
überzogen, und ihre Augen waren von dem ungewöhnlichsten hellen
Goldbraun, das er je gesehen hatte - wie Bernstein, dachte
er.
»In all den Berichten, in denen diese Männer
vorkommen«, setzte er vorsichtig an, »wurde immer wieder ein
gewisser Hauptmann James Fraser erwähnt. Er muß ihr Anführer
gewesen sein. Auf Ihrer Liste habe ich ihn aber nicht gefunden. Ist
er Ihnen bekannt?«
Einen Moment lang stand sie stocksteif da. Doch
dann ging ein Zittern durch ihren Körper, und sie antwortete mit
anscheinendem Gleichmut: »Ja, er ist mir bekannt.« Ihre Stimme
klang zwar fest, doch aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Ich habe ihn nicht auf die Liste gesetzt, weil ich bereits weiß,
was mit ihm geschehen ist. James Fraser ist in Culloden
gestorben.«
»Sind Sie sicher?«
Als ob sie es nicht mehr erwarten konnte, das Haus
zu verlassen, griff sie nach ihrer Handtasche. Ungeduldig spähte
sie den Flur
entlang, wo das Rütteln an dem altehrwürdigen Türknauf verriet,
daß Brianna ihr Refugium verlassen wollte.
»Ja«, antwortete sie, ohne sich umzuwenden. »Ich
bin ganz sicher. Ach, Mr. Wakefield... ich meine, Roger.« Jetzt
drehte sie sich hastig um und heftete ihren Blick auf ihn. In
diesem Licht wirkten ihre Augen fast schon gelb, wie die Augen
einer großen Katze, eines Leopardenweibchens.
»Bitte«, sagte sie, »erwähnen Sie James Fraser
meiner Tochter gegenüber nicht.«
Es war spät geworden. Roger hätte sich eigentlich
schon längst schlafen legen sollen, doch er war alles andere als
müde. Ob es an seinem Ärger über Fiona lag, an der rätselhaften
Widersprüchlichkeit von Claire Randall oder an der Aussicht, mit
Brianna Randall auf Recherche zu gehen - Roger war hellwach.
Anstatt sich im Bett von einer Seite auf die andere zu wälzen oder
Schäfchen zu zählen, wollte er lieber etwas Nützliches tun. Wenn er
sich den Papieren des Reverend widmete, würde ihn der Schlaf
wahrscheinlich rasch einholen.
Am anderen Ende des Flures schimmerte unter Fionas
Tür ein Lichtschein hervor, und um sie nicht aufzuscheuchen,
schlich er auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Nachdem er im
Studierzimmer das Licht eingeschaltet hatte, blieb er einen Moment
lang stehen und überlegte, wie man eine Aufgabe dieses Ausmaßes am
besten anging.
Die nahezu sechs Meter lange und fast drei Meter
hohe Pinnwand war symptomatisch für die Arbeitsweise von Reverend
Wakefield. Unter all den Zetteln, Notizen, Fotos, Kopien,
Rechnungen, Quittungen, Vogelfedern, abgerissenen Ecken von
Umschlägen mit seltenen Briefmarken, Adreßaufklebern,
Schlüsselringen, Postkarten, Gummibändern und anderem Krimskrams
war praktisch kein Fleckchen Kork mehr sichtbar.
Obwohl das Sammelsurium stellenweise zwölf
Schichten dick war, hatte der Reverend jederzeit das Detail
herausfischen können, das er suchte. Roger vermutete, daß die
Anordnung auf einem Prinzip beruhte, das so ausgefeilt war, daß es
selbst ein Wissenschaftler der NASA nicht hätte entschlüsseln
können.
Skeptisch ließ er den Blick über die Pinnwand
gleiten. Sie bot keinerlei Ansatzpunkt. Versuchsweise griff er nach
einer fotokopierten
Liste mit den Tagungsterminen der Generalversammlung, die das Amt
des Bischofs versendet hatte. Doch gleich darauf erregte der
Anblick des darunterhängenden Drachen seine Aufmerksamkeit. Eine
fröhliche Buntstiftzeichnung; aus den geblähten Nüstern drangen
kugelrunde Rauchwölkchen, und aus dem aufgerissenen Rachen blies er
grüne Flammen.
ROGER stand in unbeholfenen Druckbuchstaben unten
auf der Seite. Undeutlich erinnerte sich der Künstler, warum der
Drache grüne Flammen spie: Er fraß nämlich nichts anderes als
Spinat. Roger heftete die Liste mit den Tagungsterminen wieder an
ihren Platz und wandte sich ab. Der Pinnwand konnte er sich auch
später noch widmen.
Der schwere Eichenschreibtisch mit den etwa
vierzig, bis zum Bersten vollgestopften Fächern schien im Vergleich
dazu ein Kinderspiel. Seufzend zog sich Roger den zerschlissenen
Bürostuhl heran und machte sich daran, Ordnung in all die Papiere
zu bringen, von denen sich der Reverend nicht hatte trennen
können.
Einen Stapel für unbezahlte Rechnungen. Einen
anderen für offizielle Dokumente wie Kraftfahrzeugschein und
Sachverständigengutachten zum Zustand des Hauses. Einen weiteren
für historische Notizen und Berichte. Dann einen für
Familienerinnerungsstücke. Und mit Abstand den größten für
Krimskrams.
Roger war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht
hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sich jemand dem Schreibtisch
näherte. Plötzlich schwebte eine dampfende Teekanne in sein
Blickfeld.
»Wie?« Blinzelnd blickte er auf.
»Ich dachte, Sie mögen vielleicht eine Tasse Tee,
Mr. Wake... ich meine Roger.« Fiona setzte das Tablett mit Kanne,
Tasse und einem Teller Kekse vor ihm ab.
»Oh, vielen Dank!« Er war wirklich hungrig, und so
schenkte er Fiona ein freundliches Lächeln, das ihr die Röte in die
runden Wangen trieb. Offenbar ermutigt, hockte sie sich auf die
Schreibtischkante und sah zu, wie er zwischen einzelnen Bissen
Schokoladenkeks seine Arbeit fortsetzte.
Da er sich verpflichtet fühlte, ihre Anwesenheit
zur Kenntnis zu nehmen, hielt er einen angebissenen Keks hoch.
»Wirklich gut«, brummte er.
»Ja? Ich habe sie selbst gebacken.« Die Röte wurde
noch tiefer. Ein hübsches Mädchen, diese Fiona. Klein, rund, mit
dunklem,
lockigem Haar und großen, braunen Augen. Roger ertappte sich bei
der Frage, ob Brianna Randall kochen konnte. Rasch schüttelte er
den Kopf, um derartige Gedanken zu vertreiben.
Fiona, die diese Geste als Ungläubigkeit
interpretierte, beugte sich vor. »Doch, wirklich«, beteuerte sie.
»Nach einem Rezept von meiner Oma. Das waren die Lieblingskekse des
Reverend.« Ein sanfter Schleier legte sich über ihre Augen. »Sie
hat mir alle ihre Kochbücher und so hinterlassen. Ich war doch ihre
einzige Enkeltochter.«
»Das mit Ihrer Großmutter tut mir leid«, sagte
Roger ernst. »Es kam sehr plötzlich, nicht wahr?«
Fiona nickte traurig. »Aye. Tagsüber war sie munter
wie ein Fisch im Wasser, und nach dem Abendessen sagte sie
plötzlich, sie sei ein wenig müde, und ging zu Bett.« Das Mädchen
zuckte die Achseln. »Sie ist eingeschlafen und nicht mehr
aufgewacht.«
»Nicht die schlechteste Art zu sterben«, meinte
Roger. »Das ist ein Trost.« Mrs. Graham war schon eine Institution
im Haushalt gewesen, als Roger nach dem Tod seiner Eltern als
verschüchterter Fünfjähriger vom Reverend aufgenommen worden war.
Die Witwe mittleren Alters, deren Kinder bereits erwachsen waren,
ließ Roger in den Genuß ihres unerschöpflichen Vorrats an
mütterlicher Zuneigung kommen, wenn er in den Schulferien
heimkehrte. Sie und der Reverend bildeten ein seltsames Paar, doch
auf ihre Weise hatten sie das alte Haus zu einem Heim
gemacht.
Gerührt von seinen Erinnerungen, griff Roger nach
Fionas Hand und drückte sie. Sie erwiderte seinen Druck mit
schmelzendem Blick. Der kleine Rosenknospenmund öffnete sich, und
sie beugte sich so weit vor, daß ihr warmer Atem an sein Ohr
strich.
»Tja, vielen Dank«, platzte Roger heraus. Hastig
zog er die Hand fort, als hätte er sich verbrannt. »Danke für...
äh... den Tee und so. Gut. Er war gut. Sehr gut. Danke.« Dann
wandte er sich ab. Um seine Verwirrung zu überspielen, griff er in
das nächstbeste Fach und zog die zusammengerollten
Zeitungsausschnitte heraus, die er dort vorfand.
Verlegen strich er die vergilbten Seiten glatt und
breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Dann beugte er sich mit
gerunzelter Stirn, die tiefe Konzentration suggerieren sollte, über
die verblaßte Schrift. Nach einem kurzen Augenblick erhob sich
Fiona seufzend und ging zur Tür. Roger sah nicht auf.
Statt dessen seufzte auch er und dankte dem Himmel
mit geschlossenen Augen für seine Rettung. Fiona besaß ihre Reize.
Außerdem war sie eine gute Köchin. Aber sie war auch neugierig,
besitzergreifend, nervtötend und unzweifelhaft auf Heirat
versessen. Wenn er noch einmal dieses zarte, rosige Fleisch
berührte, konnte er im nächsten Monat das Aufgebot bestellen. Aber
wenn es nach ihm ging, würde der Name, der neben dem seinen ins
Kirschenregister eingetragen werden würde, Brianna Randall
lauten.
Während Roger überlegte, wie groß sein
Mitspracherecht in dieser Angelegenheit sein würde, öffnete er die
Augen. Verwundert blinzelte er, denn der Name, den er sich eben
noch auf seiner Heiratsurkunde vorgestellt hatte, sprang ihm jetzt
von der Zeitungsseite ins Auge - Randall.
Natürlich nicht Brianna Randall, sondern Claire.
Unter der Überschrift ZURÜCKGEKEHRT VON DEN TOTEN! hatte man ihr
Bild abgedruckt - Claire, nur zwanzig Jahre jünger. Sie sah nicht
viel anders aus als heute, abgesehen von ihrem Gesichtsausdruck.
Aufrecht saß sie in einem Krankenhausbett. Ihre ungekämmten Haare
standen nach allen Seiten ab, der Mund war geschlossen, als wäre er
versiegelt, und ihre außergewöhnlichen Augen starrten zornig in die
Kamera.
Entsetzt blätterte Roger die Zeitungsausschnitte
durch. Dann begann er, sorgfältig zu lesen. Leider lieferten sie
wenig Konkretes, obwohl sie die spektakulären Ereignisse bis zum
letzten ausschlachteten.
Im Frühling des Jahres 1945 war die Frau des
angesehenen Historikers Dr. Franklin W. Randall während eines
Ferienaufenthalts in Inverness plötzlich verschwunden. Das Auto,
mit dem sie unterwegs gewesen war, hatte man sicherstellen können,
doch von der Frau fehlte jede Spur. Da alles Suchen ergebnislos
blieb, kamen Polizei und Ehemann schließlich zu dem Schluß, Claire
sei - vielleicht von einem Landstreicher - ermordet und ihr
Leichnam irgendwo in den Bergen versteckt worden.
1948, nach fast genau drei Jahren, war Claire
Randall jedoch zurückgekehrt. Abgerissen und zerlumpt fand man sie
nicht weit von der Stelle, wo sie verschwunden war. Abgesehen von
einer leichten Unterernährung schien sie gesund, doch geistig war
Mrs. Randall verwirrt und desorientiert.
Roger, der sich eine verwirrte und desorientierte
Claire nicht
vorstellen konnte, runzelte die Stirn. Aber aus den restlichen
Zeitungsausschnitten erfuhr er nicht mehr, als daß man Mrs. Randall
wegen Erschöpfung und Schock im städtischen Krankenhaus behandelt
hatte. Er stieß auf ein Foto des vermeintlich überglücklichen
Ehemanns, doch Frank Randall wirkte eher fassungslos als glücklich.
War ja auch kein Wunder.
Neugierig betrachtete er das Bild. Frank Randall
war ein schlanker, attraktiver, aristokratisch aussehender Mann mit
dunklen Haaren. Mit verwegener Anmut lehnte er an der
Krankenhaustür, wo ihn der Fotograf auf dem Weg zu seiner gerade
wiedergefundenen Frau offensichtlich überrascht hatte.
Roger merkte, daß er in der langen, hohen
Wangenlinie und der Rundung des Schädels nach Spuren suchte, die
ihn an Brianna erinnerten. Fasziniert von diesem Aspekt stand er
auf und holte eines von Frank Randalls Büchern aus dem Regal.
Hinten auf dem Umschlag fand er ein besseres Foto, ein Farbporträt.
Nein, sein Haar war dunkelbraun und ohne jeden rötlichen Schimmer.
Die rote Pracht und auch die tiefblauen Katzenaugen mußten von den
Großeltern stammen. Sosehr sich Roger auch bemühte, von der
Schönheit der flammenden Göttin fand er im Gesicht ihres Vaters
keine Spuren.
Seufzend schloß er das Buch und faltete die
Ausschnitte zusammen. Er sollte wirklich mit dem Grübeln aufhören
und sich seinen Pflichten widmen, sonst würde er in einem Jahr
immer noch hier sitzen.
Er war schon dabei, die Zeitungsartikel auf einen
der Stapel zu legen, als ihm eine Schlagzeile ins Auge stach: »VON
FEEN GERAUBT?« fragte sie. Aber noch viel interessanter fand er das
Datum über der Schlagzeile: der 6. Mai 1948.
Vorsichtig, als hielte er eine Bombe in der Hand,
legte er die Seite aus den Händen. Dann schloß er die Augen und
versuchte, sich wieder an die Unterhaltung mit den Randalls zu
erinnern. »In Massachusetts darf man erst mit einundzwanzig Alkohol
trinken«, hatte Claire gesagt. »Und meiner Tochter fehlt dazu noch
über ein Jahr.« Demnach war sie fast zwanzig. Brianna Randall war
fast zwanzig Jahre alt.
Da Roger nicht so schnell zurückrechnen konnte,
stand er auf und blätterte in dem immerwährenden Kalender, den der
Reverend an seiner Pinnwand hängen hatte. Als er das Datum gefunden
hatte,
blieb er mit wachsbleichem Gesicht stehen, den Finger auf den
Kalender gepreßt.
Claire Randall war nicht nur verwirrt, unterernährt
und desorientiert zurückgekehrt - sondern auch schwanger.
Im Laufe der Nacht fand Roger doch noch Schlaf,
aber weil er so spät zu Bett gegangen war, erwachte er spät am
Vormittag mit verquollenen Augen und bohrenden Kopfschmerzen, die
sich weder durch eine kalte Dusche noch durch Fionas Geschwätz am
Frühstückstisch vertreiben ließen.
Weil er sich der Schmerzen immer weniger erwehren
konnte, ließ er die Arbeit liegen und brach zu einem Spaziergang
auf. Draußen, im leisen Nieselregen, wurde zwar der Schmerz
erträglicher, doch auch sein Kopf so klar, daß er wieder über die
Erkenntnisse der letzten Nacht zu grübeln begann.
Brianna wußte von nichts. Das wurde schon aus der
Art und Weise deutlich, wie sie über ihren verstorbenen Vater
sprach - oder über Frank Randall, von dem sie dachte, er sei ihr
Vater. Und Claire wollte offensichtlich nicht, daß sie eingeweiht
würde, sonst hätte sie es ihr schon längst erzählt. Es sei denn,
die Reise nach Schottland war als Einleitung zu solch einem
Geständnis gedacht. Ihr wahrer Vater mußte ein Schotte sein, denn
schließlich war Claire in Schottland verschwunden - und auch wieder
aufgetaucht. Lebte er noch hier?
Welch ein verblüffender Gedanke! War Claire mit
ihrer Tochter nach Schottland gekommen, um sie ihrem wahren Vater
vorzustellen? Skeptisch schüttelte Roger den Kopf. Verdammt
riskant, solch ein Vorgehen. Für Brianna eine verwirrende und für
Claire eine schmerzliche Erfahrung. Und dem Vater mußte dabei vor
Aufregung das Herz in die Hose rutschen. Und Brianna schien mit
allen Fasern an Frank Randall zu hängen. Wie mußte sie sich fühlen,
wenn sie erfuhr, daß sie mit dem Mann, den sie geliebt und verehrt
hatte, überhaupt nicht verwandt war?
Roger bedauerte alle Beteiligten, einschließlich
sich selbst. Er hatte in diesem Stück um keine Rolle gebeten und
wünschte sich zurück in den Zustand seliger Unwissenheit, in dem er
gestern noch geschwebt hatte. Er mochte Claire Randall gern und
fand die Vorstellung, sie könnte Ehebruch begangen haben,
schlichtweg geschmacklos. Gleichzeitig verspottete er sich für
seine altmodische
Sentimentalität. Wer konnte schon wissen, wie ihr Leben mit Frank
Randall ausgesehen hatte? Vielleicht war sie aus gutem Grund mit
einem anderen Mann auf und davon gegangen. Aber warum war sie dann
zurückgekommen?
Verschwitzt und verstimmt kehrte Roger zum
Pfarrhaus zurück. Hastig zog er im Flur das Jackett aus und ging
dann nach oben, um ein Bad zu nehmen. Manchmal fühlte er sich
dadurch getröstet, und Trost hatte er jetzt bitter nötig.
Er ließ die Hand über die Kleiderbügel im
Wandschrank gleiten, bis er den Stoff seines abgetragenen weißen
Bademantels spürte. Doch nach kurzem Überlegen schob er die Bügel
beiseite und wühlte ganz hinten im Wandschrank herum, bis er
gefunden hatte, was er suchte.
Voller Zuneigung blickte er auf den schäbigen alten
Hausmantel. Die gelbe Seide des Untergrunds war vor Alter dunkel
geworden, doch die hellbunten Pfauen prangten darauf so kühn wie eh
und je. Als Zeichen ihrer hochherrschaftlichen Unbekümmertheit
schlugen sie ein Rad und blickten den Betrachter aus ihren dunklen
Knopfaugen herausfordernd an. Roger hielt sich den weichen Stoff an
die Nase und sog den Geruch mit geschlossenen Augen ein. Der
schwache Duft nach Borkum Riff und Whisky erinnerte ihn stärker an
seinen Ziehvater als die Korkwand mit all ihrem Krimskrams.
Wie oft hatte er den tröstlichen Duft mit seinem
Hauch von Old Spice eingeatmet, wie oft hatte er das Gesicht in der
glatten, weichen Seide vergraben, während der Reverend schützend
die rundlichen Arme um ihn legte. Die anderen Kleidungsstücke des
alten Herrn hatte er der Wohlfahrt geschenkt, doch von diesem Stück
hatte er sich nicht trennen können.
Auf eine innere Eingebung hin schlüpfte er mit
nacktem Oberkörper in den Mantel, überrascht von der angenehmen
Wärme, die sich auf seiner Haut wie die Liebkosung sanfter Finger
anfühlte. Wohlig bewegte er die Schultern, dann schlang er sich den
Mantel um den Körper und schloß mit einem lockeren Knoten den
Gürtel.
Wachsam darauf bedacht, Fiona nicht in die Fänge zu
geraten, schlich er über den Flur zum Badezimmer. Der altehrwürdige
Gasdurchlauferhitzer stand am Kopfende der Wanne wie der Wächter
einer heiligen Quelle. Eine seiner Jugenderinnerungen bezog sich
auf den allwöchentlichen Horror, wenn er versuchte, den
Durchlauferhitzer mit dem Gasanzünder zu entfachen, während das Gas
mit einem bedrohlichen Zischen an seinem Ohr vorbeistrich und
seine schwitzenden Hände ergebnislos hantierten. Jedesmal hatte er
befürchtet, eine Explosion könnte seinem Leben ein plötzliches Ende
setzen.
Nach einer Operation seines rätselhaften
Innenlebens war der Durchlauferhitzer nun schon seit langem
automatisch. Er gurgelte leise, während unten auf dem Gasring
hinter dem Metallschild die unsichtbare Flamme knackte und zischte.
Roger drehte den Heißwasserhahn bis zum Anschlag auf und gab eine
halbe Drehung »kalt« hinzu. Während er darauf wartete, daß die
Badewanne vollief, stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete
sich.
Gar nicht so schlecht, dachte er, nachdem er den
Bauch eingezogen und sich zu voller Größe aufgerichtet hatte.
Schlank, fest, die Beine lang, aber keine Stelzen. Vielleicht ein
bißchen mager um die Schultern? Kritisch runzelte er die Stirn,
während er seinen schlanken Körper hin und her drehte.
Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte
dunkle Haar, bis es wie ein Rasierpinsel emporstand. Er versuchte
sich vorzustellen, wie er mit längerem Haar und einem Bart aussehen
würde, der Mode, die seine Studenten trugen. Würde er damit flott
oder lediglich mottenzerfressen wirken? Vielleicht auch noch ein
Ohrring, wenn er schon mal dabei war, um ihm etwas Piratenhaftes zu
verleihen. Roger zog die Brauen zusammen und bleckte die
Zähne.
»Grrr«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
»Mr. Wakefield?« antwortete dieses.
Roger fuhr so erschreckt auf, daß er sich den Zeh
an dem Klauenfuß der altertümlichen Badewanne stieß.
»Autsch!«
»Alles in Ordnung, Mr. Wakefield?« fragte der
Spiegel. Gleichzeitig wackelte der Porzellanknauf an der Tür.
»Natürlich!« schnauzte er gereizt zurück, wobei er
die Tür anfunkelte. »Gehen Sie, Fiona, ich nehme ein Bad!«
Hinter der Tür ertönte ein Kichern.
»Oh, sogar zweimal am Tag! Sie halten’s aber
vornehm! Möchten Sie etwas von dem neuen Badesalz? Es steht im
Regal; Sie brauchen sich nur zu bedienen.«
»Nein, danke!« schnaubte er. Da die Wanne
inzwischen halb vollgelaufen war, drehte er die Hähne zu. In der
sich ausbreitenden tröstlichen Stille sog er den Wasserdampf tief
ein. Dann ließ er sich
mit einem leisen Ächzen in das heiße Wasser gleiten und fühlte,
wie ihm feiner Schweiß ins Gesicht trat.
»Mr. Wakefield?« Da war die Stimme wieder,
zwitschernd wie ein aufdringliches Rotkehlchen.
»Gehen Sie jetzt, Fiona«, zischte er. Er lehnte
sich in der Wanne zurück, und das dampfende Wasser umschmeichelte
seinen Körper wie die Arme einer Geliebten. »Ich habe hier alles,
was ich brauche.«
»Nein, haben Sie nicht.«
»Doch.« Sein Blick schweifte über die
beeindruckende Ansammlung von Flaschen und Gläsern auf dem Regal
über der Badewanne. »Drei Sorten Shampoo, Haarspülung, Rasiercreme
und -klingen, Seife, After Shave, Eau de Cologne, Deodorant. Mir
fehlt nichts, Fiona.«
»Und was ist mit Handtüchern?« fragte die Stimme
süß.
Nach einem wilden Blick durch das völlig
handtuchlose Badezimmer schloß Roger die Augen, biß die Zähne
zusammen und zählte langsam bis zehn. Da dies nicht reichte,
erhöhte er auf zwanzig. Erst dann fühlte er sich in der Lage, ohne
Schaum vorm Mund zu sprechen.
»Gut, Fiona, legen Sie sie vor die Tür. Und dann...
bitte, Fiona... gehen Sie!«
Nach einem Rascheln hörte er, wie sich ihre
Schritte entfernten. Mit einem Seufzer der Erleichterung gab sich
Roger endlich den Freuden des Alleinseins hin. Frieden. Ruhe. Keine
Fiona.
Nun, da er endlich mit etwas mehr Objektivität über
seine aufregende Entdeckung nachdenken konnte, beschäftigte ihn vor
allem die Neugier auf Briannas geheimnisvollem Vater. Der Tochter
nach zu urteilen, mußte er ein Mann von außerordentlicher
körperlicher Anziehungskraft gewesen sein. Aber hätte das
ausgereicht, um eine Frau wie Claire Randall in Versuchung zu
führen?
Er hatte sich schon gefragt, ob Briannas Vater
Schotte war. Lebte er in Inverness - oder hatte er hier gelebt?
Diese Annahme könnte Claires Nervosität und sein Gefühl, daß sie
etwas verbarg, erklären. Aber erklärte sie auch die rätselhaften
Wünsche, die sie an ihn herangetragen hatte? Sie hatte ihn gebeten,
mit Brianna nicht zum Craigh na Dun zu fahren und ihr gegenüber den
Hauptmann der Männer von Broch Tuarach nicht zu erwähnen. Warum
nur, um alles in der Welt?
Ein plötzlicher Einfall ließ ihn auffahren, so daß
das Wasser gegen den Rand der gußeisernen Wanne platschte. Könnte
es sein, daß sie sich nicht um den jakobitischen Soldaten aus dem
achtzehnten Jahrhundert sorgte, sondern um einen Mann gleichen
Namens? Hieß der Mann, mit dem sie 1947 eine Tochter gezeugt hatte,
vielleicht auch James Fraser? Weiß Gott, kein seltener Name in den
Highlands.
Ja, dachte er, das wäre eine Erklärung. Und Claires
Wunsch, selbst diejenige zu sein, die ihrer Tochter den Steinkreis
zeigte, könnte durchaus mit dem Geheimnis um ihren Vater
zusammenhängen. Vielleicht hatte ihn Claire dort kennengelernt,
oder womöglich war Brianna dort gezeugt worden. Der Steinkreis war
ein beliebter Ort für ein Schäferstündchen. Roger hatte sich in
seiner Highschool-Zeit oft genug mit Mädchen dort verabredet und
darauf gebaut, daß sie vom Hauch des heidnischen Mysteriums aus der
Reserve gelockt werden würden. Funktioniert hatte es stets.
Urplötzlich überkam ihn die Vorstellung, wie sich
Claire Randalls zarte, weiße Glieder in wilder Ekstase um den
nackten Rücken eines rothaarigen Mannes schlangen, wie sich die
zwei regennassen und mit Grashalmen bedeckten Leiber
leidenschaftlich zwischen den stehenden Steinen aufbäumten. Das
Bild war so schockierend deutlich, daß ihm ein Schauer über den
Rücken fuhr.
Mein Gott! Konnte er Claire Randall noch in die
Augen blicken, wenn er sie das nächstemal traf? Und was sollte er
Brianna sagen? »Welches Buch hat Ihnen in letzter Zeit besonders
gefallen?« - »Können Sie mir einen guten Film empfehlen?« - »Wußten
Sie schon, daß Ihr Vater nicht Ihr Vater ist?«
Abwehrend schüttelte er den Kopf. Im Grunde hatte
er keine Ahnung, was er als nächstes tun sollte. Es war eine
unangenehme Situation. Eigentlich wollte er mit alldem nichts zu
tun haben, doch dazu war es bereits zu spät. Er mochte Claire
Randall, und er mochte Brianna - mehr als das, um ehrlich zu sein.
Er wollte sie beschützen und ihr jeden Schmerz ersparen. Doch er
sah keine Möglichkeit, dies auch zu tun. Ihm blieb nichts weiter
übrig, als den Mund zu halten, bis Claire das ausführte, was sie
vorhatte. Und dann die Scherben aufsammeln.