Achtes Kapitel

Weedanook hasste die Aufgabe, mit der ihn der Ältestenrat betraut hatte, und er machte keinen Hehl daraus. Am Morgen ihres Aufbruchs ließ er Abby durch Nangala ausrichten, wie sie sich auf dem Rückmarsch ihm gegenüber zu verhalten hatte.

»Es ist dir verboten, ihn anzusprechen oder zu berühren. Auch sein Schatten ist tabu. Du darfst ihn nicht einmal mit deinem Schatten berühren. Verboten ist auch, ihn anzusehen. Niemals darf sich dein Blick mit seinem kreuzen!«, schärfte Nangala ihr ein.

»Und warum?«, fragte Abby.

»Weil er und seine Frau das so wollen«, antwortete Nangala. »Für mich gelten fast dieselben Verbote, und wir müssen uns daran halten, wenn wir ihn nicht noch ärgerlicher stimmen wollen.«

»Vermutlich macht er mich dafür verantwortlich, dass er nun den größten Teil des Fledermausfestes verpasst«, mutmaßte Abby.

Nangala machte ein unglückliches Gesicht. »Die corroborrees beim Frühjahrsvollmond sind nun mal jedes Jahr der Höhepunkt der Wanderschaft auf unseren Traumpfaden. Es trifft ihn schon hart, dass er nicht länger daran teilnehmen kann, sondern mit uns zurück über die Berge muss.«

Abby konnte Weedanooks Unmut in gewisser Weise verstehen, wollte den Vorwurf, den er ihr indirekt machte, jedoch nicht einfach so hinnehmen. »Sag ihm, dass ich den Katajunga für alles dankbar bin, was sie für mich getan haben. Aber sag ihm bitte auch, dass mich die Wanderschaft der Katajunga zu weit und zu lange von meinen Traumpfaden entfernt hat, als dass ich noch länger so leben könnte.«

Nangala zeigte eine skeptische Miene, als bezweifelte sie, dass Weedanook dadurch milder zu stimmen wäre. Doch sie ging zu ihm hinüber und redete mit ihm.

»Und? Was hat er gesagt?«, fragte Abby, als Nangala zu ihr zurückkehrte.

»Nichts, außer dass wir jetzt aufbrechen.«

Abby war enttäuscht. Doch die Freude, dass nun endlich der Heimweg begann, überwog schnell alles andere. Sie marschierten im Dämmerlicht des Morgens los, der aufgehenden Sonne entgegen. Und damit ihre Schatten nicht mit dem ihres Führers in Berührung kamen, folgten sie Weedanook mit einem Abstand von gut zehn Schritten.

Abbys Wunden waren mittlerweile gut verheilt und die ersten Stunden vermochte sie das Tempo, das Weedanook anschlug, auch gut mitzuhalten. Doch als die Sonne immer höher stieg und die Luft so heiß wurde, als käme sie geradewegs aus einem glühenden Hochofen, da begann die Qual.

»Sag ihm, dass es Wahnsinn ist, in der prallen Mittagshitze zu marschieren«, keuchte Abby, als Weedanook keine Anstalten machte, den Schatten einer Baumgruppe zu suchen und dort zu rasten, bis der sengende Glutball ein wenig von seiner Unbarmherzigkeit verloren hatte.

Weedanook schickte Nangala mit einer herrischen Handbewegung zurück. Er wollte von einer Rast nichts wissen. Abby biss die Zähne zusammen und schaffte es kraft ihres eisernen Willens, weiterzugehen und den Anschluss nicht zu verlieren. Doch als Weedanook dann endlich eine Pause einlegte, hatte er einen Vorsprung von gut einer Meile. Und als Rastplatz wählte er eine einsame Akazie aus, in deren Schatten er sich setzte.

Da es Nangala und Abby jedoch verwehrt war, den Schatten der Akazie mit ihm zu teilen, blieb ihnen nur der kümmerliche Sonnenschutz, den ein niedriges Gebüsch warf. Doch schon nach zehn Minuten sprang ihr Führer wieder auf und befahl den Weitermarsch.

Abby protestierte. »Das kann er doch nicht tun, Nangala!«

Diese zuckte bedauernd mit den Achseln. »Er sagt, wenn wir nicht so getrödelt hätten und dicht hinter ihm geblieben wären, hätten auch wir genügend Zeit zum Ausruhen gehabt.«

»Wie beruhigend zu wissen, dass es auch unter eurem Volk gemeine, herzlose Leute gibt!«, sagte Abby mit bitterem Sarkasmus.

Abby war völlig erledigt, als Weedanook es für den ersten Tag genug sein ließ und einen Lagerplatz für die Nacht bestimmte. Doch an Ausruhen war noch längst nicht zu denken. Beim Errichten der Windschirme rührte Weedanook nicht einen Finger. Er half auch nicht beim Holzsammeln für das Kochfeuer. All das war Frauenarbeit und somit Aufgabe von Abby und Nangala.

Tags darauf, als die geringen Vorräte an Nahrung erschöpft waren, mussten sie nicht nur weiterhin Schritt mit ihm halten, sondern zudem auch noch während des Marsches dafür sorgen, dass sie etwas Essbares fanden. Weedanook dachte nicht daran, ihnen dabei zur Hand zu gehen. Wenn sie Wurzeln aus dem Boden gruben und fette Larven einsammelten, die über dem Feuer geröstet sogar Abby gar nicht mal schlecht schmeckten, setzte er sich in den nächsten Schatten und kehrte ihnen den Rücken zu.

»Warum müssen nur wir uns so abmühen?«, grollte Abby, deren Wut auf Weedanook immer stärker wurde, je mehr sie unter den Strapazen litt, die er ihr zumutete, ohne dass dafür eine Notwendigkeit bestand. »Er könnte doch auch mal auf Jagd gehen und seinen Teil beitragen.«

Daraufhin angesprochen, behauptete Weedanook, dass die Nähe eines Weißgesichtes das Wild fern halte und er nicht die Zeit hätte, auf einen Jagdzug zu gehen, der ihn weit genug von ihnen wegführte, um Aussicht auf Erfolg zu haben.

Abby vermutete jedoch, dass dies nichts weiter als eine billige Ausrede war. Sie nahm vielmehr an, dass es ihm nicht passte, ein Tier, das er erlegte, mit ihnen teilen zu müssen, wie es das Gesetz unter den Aborigines verlangte. Er wollte ihr den Rückmarsch so schwer wie möglich machen, um sie dafür zu strafen, weil er wegen ihr nicht an den corroborrees teilnehmen konnte. Und als sie Nangala gegenüber ihren Verdacht äußerte, war deren Schweigen nichts anderes als eine wortlose Bestätigung.

Das Bewusstsein, dass jeder Schritt in glutheißer Hitze sie ihrer Heimat und Andrew näher brachte, stärkte jedoch Abbys Willen und gab ihr die Kraft, durchzuhalten.

Am Morgen des dritten Tages wachte Abby schon ganz früh auf. Ein spitzer Stein hatte sich in ihre Schulter gebohrt und sie aus dem Schlaf geholt. Mit schmerzenden Gliedern richtete sie sich auf. Ihr Mund war trocken und fühlte sich an, als wäre er mit einem alten, staubigen Fell ausgeschlagen. Sie erinnerte sich an die kleine Grube, die Nangala am Abend drüben zwischen den Büschen gegraben hatte und die sich mit Wasser gefüllt hatte.

Sie nahm Nangalas hölzernes Saugrohr und ihren Grabstock an sich, denn vielleicht musste sie noch etwas nachgraben, damit neues Wasser nachlief. Auf dem Weg zur Wasserstelle kam sie an Weedanook vorbei, der eingerollt unter seinem Windschirm lag und schnarchte.

Plötzlich bemerkte sie die Schlange, die keine Armlänge vom linken Fuß des Eingeborenen entfernt über den warmen Boden kroch. Die gezackte, gelblich grüne Zeichnung legte die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Reptil um eine giftige Viper handelte.

Abby überlegte nicht lange. Sie ließ das Saugrohr fallen, packte den Grabstock und schlug mit aller Kraft zu. Der Knüppel sauste nieder und zertrümmerte der Viper den Schädel.

Weedanook fuhr, von dem dumpfen Schlag geweckt, jäh aus dem Schlaf auf. Dabei riss er den Windschirm um. Verstört sprang er hoch.

Abby packte die tote Schlange am Schwanz und warf sie ihm vor die Füße.

Nangala war im nächsten Moment bei ihr. »Eine Königsotter!«, stieß sie erschrocken hervor, als sie die Schlange sah. »Hast du sie erschlagen?«

Abby nickte und wusste, dass dies eine einmalige Chance war, Weedanook zu mehr Rücksichtnahme zu zwingen. »Sag ihm, dass dies ein Geschenk des Weißgesichtes ist!«, forderte sie Nangala grimmig auf. »Und frag ihn, wann er sich endlich auf seine Pflicht als Jäger besinnt. Aber vielleicht ist es ihm ja lieber, wenn ich noch einmal mein Jagdglück versuche. Nur muss er mir dazu seinen Speer überlassen.«

»Ich weiß nicht, ob das so klug ist«, meinte Nangala verunsichert.

Abby verschaffte ihrem angestauten Ärger nun Luft. »Es ist auch nicht klug, uns so schäbig zu behandeln und zu schikanieren. Auch wir Weißgesichter haben so etwas wie Traumpfade und Ahnen, die unsere Wege begleiten. Und ich denke nicht, dass er darauf versessen ist, meine Ahnen zu verärgern und sie dazu zu bringen, auf seinen Traumpfaden böse Geister zurückzulassen, die ihn jedesmal heimsuchen werden, wenn er hier des Weges kommt«, fabulierte sie. »Ich will, dass du ihm das klar und deutlich sagst, Nangala.«

Das tat sie dann auch und Weedanook reagierte mit einem wütenden Wortschwall auf Abbys Drohung. Doch sie zeigte Wirkung. Er begab sich an diesem Morgen auf die Jagd, nachdem er Nangala erklärt hatte, in welche Richtung sie zu gehen hatten. Als er drei Stunden später aus dem Busch auftauchte, brachte er ein Beuteltier mit. Zum ersten Mal, seit sie Tiheri Maamu Kuran verlassen hatten, gab es genug zu essen, um ihren knurrenden Magen zufrieden zu stellen. Er mäßigte sich auch im Marschtempo und gewährte ihnen in der Mittagshitze sogar eine mehrstündige Rast.

Am Vormittag des vierten Tages, als die tief gestaffelten Bergzüge der Blue Mountains merklich näher gerückt waren, bewegten sie sich auf ein kleines Wäldchen Eukalyptusbäume zu.

Plötzlich blieb Weedanook stehen und stieß einen kurzen Warnruf aus.

»Was ist?«, fragte Abby alarmiert.

»Ein Fremder!« Nangala deutete zu den Eukalypten hinüber.

Abbys Herz schlug wie verrückt, als sie nun auch diese merkwürdige Gestalt bemerkte, die dort zwischen den Bäumen stand. Sie strengte ihre Augen an. Es war ein Mann, der über einer kurzen Hose eine Art Seemannsrock trug und auf dem Kopf einen schwarzen Dreispitz. Doch dann erkannte sie zu ihrer maßlosen Enttäuschung, dass die Haut des Mannes das dunkle Braun eines Aborigines hatte.

Vorsichtig ging Weedanook auf den absonderlich gekleideten Eingeborenen zu, seinen Speer kampfbereit in der Hand, gefolgt von Abby und Nangala.

Als die Entfernung keine fünfzig Schritte mehr betrug, gab es eine Bewegung hinter dem graubärtigen Aborigine mit dem Dreispitz und ein zweiter Mann trat aus dem Unterholz hervor. Bei ihm handelte es sich ganz eindeutig um einen Weißen.

Ein Schauer durchlief Abby und auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut.

»Andrew?«, flüsterte sie.

Im ersten Moment fürchtete sie, ihr Wunschdenken könnte ihr einen bösen Streich spielen. Und sie sagte sich, dass es doch eigentlich unmöglich war, hier westlich der Blue Mountains auf ihren Mann zu stoßen. Doch dann trat der Weiße aus dem Schatten der Bäume und nun gab es keinen Zweifel mehr.

Er war es!

Andrew!

Sie hatten einander gefunden!

»Andrew!« Sie schrie seinen Namen mit aller Kraft und Glückseligkeit hinaus, zu der sie fähig war, und rannte auf ihn zu.

»Abby! ... Abby!«

Sie flogen einander entgegen. Weinend und lachend zugleich fielen sie sich in die Arme.

»Du lebst! ... Du lebst! ... Ich wusste, dass du lebst! ... . Ich habe nie aufgegeben, daran zu glauben! ... O mein Liebling!« Andrew küsste und umarmte sie, streichelte über ihr Gesicht, drückte sie wieder an sich, und die Tränen ihres Glücks vermischten sich auf ihren Lippen.

Abby war ganz schwindelig vor Glück. Der Alptraum hatte ein Ende gefunden.

Später dann stellte Andrew ihr seinen schwarzen Führer vor und nie sollte sie seine Worte vergessen: »Das ist Baralong, mein Fährtenleser - und mein Freund, der beste, den sich ein Mensch nur wünschen kann. Ihm verdanke ich mehr, als ich dir jetzt sagen kann.«

Baralong lächelte kaum merklich und schaffte es trotz seines komischen Aufzuges, eine Würde auszustrahlen, die von Äußerlichkeiten nicht berührt wurde.

Weedanook dagegen blieb auf Distanz, und als er erfuhr, dass Baralong den Weg über die Berge kannte und die Weißgesichter in die Kolonie zurückbringen würde, drängte er Nangala zur sofortigen Rückkehr.

Abby fiel der Abschied von Nangala sehr schwer. Er kam ihr zu abrupt und es wäre noch so viel zu sagen gewesen. Doch ihr blieb keine Zeit und sie wusste auch nicht, wo sie anfangen sollte.

»Danke ... und alles Glück der Welt, Nangala«, sagte sie bewegt. »Ich werde nie vergessen, was ihr für mich getan habt - und was ich bei euch gelernt habe.«

Nangala lächelte. »Auch wir werden dich nicht vergessen, Abby. Du wirst nicht nur in meinen Gedanken weiterleben, sondern auch in den Geschichten unserer Sippe, du weißt ja, dass wir einen guten song-man haben.«

Eine letzte Umarmung und dann folgte Nangala Weedanook, der sich schon auf den Rückweg gemacht hatte.

Mit Tränen in den Augen sah Abby ihr nach. Dann spürte sie Andrews Hand auf ihrer Schulter und mit einem Lächeln, das halb Abschiedsschmerz und halb Glück war, sah sie ihn an. »Es kommt mir alles wie ein Traum vor.«

Zärtlich lächelte er sie an. »Vielleicht haben die Aborigines ja Recht und das Leben ist nur eine andere Art von Traumzeit. Und wer weiß, ob nicht eines Tages unsere Traumpfade sich wieder mit den ihren kreuzen«, sagte er und schaute über das weite wellige Land, das sein Farmerherz höher schlagen ließ. »Auch wenn wir über das, was wir hier gesehen haben, werden schweigen müssen...«

Unwillkürlich spürte Abby, was Andrew in diesem Moment dachte und fühlte. Dieses endlose Land westlich der Blue Mountains war eine einzige Verlockung, und irgendwann würden auch Weiße passierbare Wege über die Berge finden und hier siedeln. Doch von ihnen, Andrew und ihr, würde keiner erfahren, wo man die Blue Mountains überqueren konnte. Das war das Mindeste, was sie den Katajunga und allen anderen Aborigines schuldig waren.

Andrew nahm ihre Hand. »Komm, lass uns gehen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Abbys Finger schlossen sich fest um seine Hand. »Mit dir ist mir kein Weg zu lang«, sagte sie von Glück und Dankbarkeit erfüllt. Und sie erinnerte sich an eine Bibelstelle im 1. Korinther, an das Hohelied der Liebe, das ihre Mutter ihr schon als Kind ans Herz gelegt und so häufig zitiert hatte:

»Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte die Liebe aber nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.

Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts ...


Nun aber bleibt

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;

aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.«