Achtes Kapitel

Sie brauchten zweieinhalb Tage bis zum Saunder’s Creek. Andrew empfand den Ritt bei der Hitze als Strapaze, und desto unverständlicher war es ihm, dass Baralong, der die Strecke doch zu Fuß zurücklegte, keine übermäßige Erschöpfung zeigte. Dabei kippte er den Rum abends wie Wasser in sich hinein. Morgens erwachte er zwar mit einem schweren Kater und brach erst lange nach Andrew auf, doch im Laufe des Tages holte er ihn jedes Mal wieder ein.

Unverständlich war ihm auch, dass Baralong am ausgetrockneten Flussbett keine Mühe hatte, die Spur des Fuhrwerkes aufzunehmen. Am Abend des dritten Tages gelangten sie, ohne dass Andrew es ahnte, zu der Stelle, wo Abby und Greg Halston ihren Fluchtversuch unternommen hatten.

Es war Baralong, der im letzten Licht des weichenden Tages Stiefelspuren fand, die sich von den Eindrücken der Wagenräder entfernten, sowie getrocknetes Blut auf den Blättern und Zweigen eines großen Dickichts. Andrew konnte noch nicht einmal die Spuren des Fuhrwerks erkennen, von den winzigen braunen Flecken ganz zu schweigen.

»Das kann das Blut von Greg Halston sein, mit dem Abby unterwegs war«, sagte Andrew.

Baralong widersprach ihm. »Nein, die großen Stiefelspuren dort drüben stammen von einem Mann und sie führen nach Südosten. Die anderen Spuren, die bedeutend kleiner sind und von deiner Frau sein müssen, wie auch das Blut, führen in eine andere Richtung, nämlich nach Nordwesten.«

Andrew krampfte sich das Herz zusammen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Abby tot ist«, murmelte er.

»Sie lebt, so lange du ihren Namen aussprichst«, antwortete Baralong rätselhaft, der dem Rum an diesem Abend nicht so heftig zusprach wie an den beiden vorangegangenen.

Andrew war einerseits davon überzeugt, dass Baralong Abbys Spur gefunden hatte. Andererseits hoffte er jedoch auch, dass er sich getäuscht hatte, denn er fürchtete sich vor dem, was der nächste Tag womöglich an grausiger Wahrheit offenbaren konnte.

Den Sattel unter dem Kopf lag er auf seiner Decke und blickte mit Tränen in den Augen zu den Sternen hoch, die am Nachthimmel funkelten. Abby durfte noch nicht tot sein! Ihr gemeinsames Leben hatte doch gerade erst angefangen. Es konnte nicht sein, dass ihnen nur eine solch kurze Zeitspanne des Glücks vergönnt gewesen sein sollte!

Er fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem er wenige Stunden später wieder erwachte. Um ihn herum war tiefe Nacht. Die Glut des Feuers lag unter einer dicken Schicht Asche verborgen.

Verwirrt richtete sich Andrew auf. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihn ein Geräusch aus dem Schlaf geholt hatte, das sein Unterbewusstsein mit den gewohnten Lauten einer Nacht im Busch nicht in Einklang hatte bringen können.

Als sein Blick Baralong suchte, der sich auf der anderen Seite des Feuers niedergelegt hatte, fand er die Stelle verlassen vor. Hatte der Eingeborene vielleicht Tabak und Rum an sich genommen und im Schutze der Nacht das Weite gesucht?

Kaum war Andrew dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da schämte er sich schon für diese bösartige Unterstellung. Baralong hatte ihm in den Tagen, die sie gemeinsam durch den Busch zogen, nicht einmal auch nur den geringsten Anlass gegeben, ihm nicht zu trauen. Ganz im Gegenteil, sein Respekt vor ihm war mit jedem Tag gewachsen.

Aber wo war Baralong?

Andrew erhob sich und ging zu den Pferden hinüber, die unter einer Akazie angebunden standen. In dem Augenblick bemerkte er den Feuerschein. Er kam von jenseits der nächsten Hügelgruppe, die sich eine gute halbe Meile von ihrem Lagerplatz als tiefschwarze Silhouette vor dem Nachthimmel abzeichnete.

Was hatte dieses Feuer zu bedeuten?

Beunruhigt griff Andrew zu seinem Gewehr und machte sich auf den Weg, um herauszufinden, was es mit diesem Feuerschein auf sich hatte. Er hielt sich nicht zum ersten Mal allein im Busch auf, doch die besonderen Umstände dieser Suche waren nicht dazu angetan, ihn mit Gelassenheit und Selbstsicherheit zu erfüllen.

Da er nicht wusste, wer das Feuer entzündet hatte und was ihn erwartete, lief er in geduckter Haltung auf die Hügel zu und nutzte jede natürliche Deckung. Als er bis auf etwa hundert Yards herangekommen war, hörte er den Gesang. Es war eine einzelne Stimme, die in einer fremden Sprache eine eigentümliche Melodie sang. Es war bei aller Fremdartigkeit ein irgendwie feierlicher Gesang, der durch die Nacht zu ihm drang.

Baralong?

Vorsichtig erklomm Andrew den vor ihm liegenden Hügel. Er erreichte die Kuppe, gelangte zu einem Gebüsch, bog die Zweige auseinander - und blickte mit großer Verwunderung auf die Szene, die sich ihm nun darbot.

Auf der anderen Seite des Hügels ragten mehrere abgerundete Felsbrocken von bis zu Manneshöhe aus dem Boden und davor brannte ein Feuer. Andrew brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es sich bei der nackten Gestalt, die dort unten vor dem Feuer tanzte und sang, um Baralong handelte. Der Körper des Eingeborenen war von Kopf bis Fuß mit weißen und roten Streifen sowie Kreisen und anderen geometrischen Mustern bemalt.

Reglos verharrte Andrew im Schutz des Gebüsches, lauschte dem merkwürdigen Gesang und sah seinem Fährtenleser beim Tanz im Feuerschein zu. Nach allem, was er von Baralong erfahren hatte, nahm er an, dass es sich bei dieser kleinen Felsgruppe um einen den Aborigines heiligen Ort handelte, der zu den Traumpfaden der Urwesen gehörte, und dass er, Andrew, Zeuge einer religiösen Zeremonie wurde.

Einige Minuten lang lauschte er dem an- und abschwellenden Gesang und verfolgte voller Neugier und Faszination den gestenreichen Tanz Baralongs. Plötzlich aber kam ihm der Gedanke, dass es nicht richtig war, dass er hinter dem Strauch lag und seinen Führer ohne dessen Wissen bei der Ausübung seiner Religion beobachtete. Ihn befiel das unangenehme Gefühl, dass er sich damit eines Vertrauensbruchs schuldig machte.

Leise zog er sich zurück. Als er wieder bei ihrem Lagerplatz war und sich auf seiner Decke ausgestreckt hatte, ging ihm vieles durch den Kopf. Er dachte auch über Baralong nach. Als er ihn in Sydney als seinen Tracker verpflichtet hatte, hatte er nur an dessen Nützlichkeit im Busch gedacht und sich keine Gedanken über ihn als Mensch gemacht. Was dieser Aborigine dachte und fühlte, ja seine ganze Welt hatte ihn nicht im Geringsten interessiert. Es war ja so einfach gewesen, von seinesgleichen als »Primitive« und »Wilde« zu denken, denen man nicht die geringste Rücksichtnahme schuldete. Das erleichterte es, sich auch nicht mit Gewissensbissen zu belasten, weil man ihnen das Land stahl und sie unbarmherzig tötete, wo sie den Weißen im Wege standen, als wären sie Ungeziefer, das man ungestraft ausrotten durfte.

Baralong war ein Mensch wie er. Er hatte seinen tiefen Glauben, dem er sein Leben aufrichtiger und friedliebender unterwarf als wohl die Mehrzahl der Christen. Und ihm waren dieselben Empfindungen gegeben wie jedem Weißen: Liebe und Schmerz, Trauer und Freude. Und mit Sicherheit wusste er, als Letzter seiner Sippe, was Verzweiflung und Einsamkeit waren.

Andrew dachte lange darüber nach und fragte sich, wie es nur möglich war, dass Weiße wie Charles Gilmore und Lieutenant Danesfield eine solche Grausamkeit und Menschenverachtung an den Tag legen konnten. Dabei standen Danesfield und Gilmore nur stellvertretend für die überwiegende Mehrzahl der anderen Weißen und Christen in der Welt, und auch er, Andrew Chandler, sowie seine Familie, die sie sich doch für aufgeschlossene und dem Recht verpflichtete Bürger hielten, hatten noch so manches mit ihnen gemein. Sie alle nannten sich gebildet, kultiviert und zivilisiert. Doch war das nicht nur eine eitle Selbsttäuschung?

Andrew konnte lange nicht einschlafen und wartete auf Baralongs Rückkehr. Er verspürte das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Doch Baralong kam nicht und schließlich schlief er ein.

Als Andrew am Morgen erwachte, stocherte Baralong gerade in der Glut und entfachte das Feuer. Er trug wieder seine schäbige Kleidung, die ihn so lächerlich aussehen ließ. Und die Bemalung hatte er sich inzwischen vom Körper gewaschen.

Was er in der Nacht beobachtet hatte und ihm selbstquälerisch durch den Kopf gegangen war, schien im Licht des neuen Tages und angesichts von Baralongs lächerlicher Aufmachung zu verblassen. Und das Bedürfnis, mit ihm darüber zu reden, hatte sich fast ganz verflüchtigt. Was hätte er auch zu ihm sagen sollen?

»Ich mache uns Tee und Damper«, sagte Andrew und wich Baralongs ruhigem Blick aus. Irgendwie fühlte er sich schäbig.