Viertes Kapitel
Die Katajunga brachen ihr Lager kurz nach Sonnenaufgang ab, eine gute Stunde später als gewöhnlich, wie Abby von Nangala erfuhr. Die Windschirme, mia genannt, waren schnell abgebaut und die wenigen Habseligkeiten eingesammelt. Die Eingeborenen setzten ihre Wanderung nach Tiheri Maamu Kuran fort, das noch einige Tagesmärsche entfernt im Nordwesten lag. Und Abby musste sich mit ihrem Schicksal abfinden, die Sippe dorthin begleiten zu müssen.
Abby wurde an diesem Tag noch die meiste Zeit auf dem coolamon getragen, bestand jedoch darauf, zwischendurch auch mal eine Strecke zu Fuß zu gehen.
Sie war erstaunt, als sie sah, dass nicht die erwachsenen Männer die Vorhut bildeten, sondern die Kinder. Nangala erklärte ihr, dass jedes Mitglied der Sippe seine festgelegten Pflichten hatte. So war es Aufgabe der Kinder, bei den Wanderungen voranzugehen, Knollen in der Erde aufzuspüren und mit kleinen Steinen Kleintiere zu erlegen. Ein jedes Kind besaß ein gutes Dutzend haselnussgroße Steine und entwickelte schon in jungen Jahren eine unglaubliche Treffsicherheit im Werfen. Bemerkte es ein größeres Tier, das mit einem gezielten Wurf nicht zu erlegen war, blieb es reglos stehen und wartete, bis einer der erwachsenen Jäger herankam und mit Bumerang und Speer die Jagd aufnahm.
Ein Teil der Männer löste sich von der Sippe und zog in den Busch hinaus, um Emus, Kängurus oder anderes Wild zu jagen. Doch nicht immer war ihnen trotz ihrer unglaublichen Ausdauer Glück beschieden, und dann hing das Überleben der Gemeinschaft von der Fähigkeit der Kinder und Frauen ab, genügend Grassamen, Larven, Käfer und essbare Knollen zu finden. Es erstaunte Abby und nötigte ihr großen Respekt ab, als sie hörte, dass alles, was gesammelt und erjagt wurde, unter der Sippe aufgeteilt wurde. So war es nichts Ungewöhnliches, dass einem Jäger, der ein Opossum oder ein Känguru erlegt hatte, selbst nur der geringste Teil seiner Beute blieb.
Abby hätte es gern gesehen, wenn Nangala die ganze Zeit an ihrer Seite geblieben wäre, denn sie war ja die Einzige, mit der sie reden konnte. Doch auch Nangala hatte ihre Aufgabe zu erfüllen, und so fand sie erst gegen Mittag, als sie eine Rast einlegten, wieder Zeit, mit ihr zu reden.
Es war ein ausgesprochen öder Flecken Erde, die sich die Katajunga für ihre Mittagsrast ausgesucht hatten, wie Abby fand.
Doch Nangala sagte: »Hier ist Wasser.«
Ungläubig sah Abby sich um. Sie konnte nichts als sandigen Boden entdecken. »Hier soll Wasser sein?«
»Ja, sieh dort!« Nangala wies zu zwei Frauen hinüber, die am Boden hockten und in die Sandschicht mit Grabstock und einer kleinen pitchi, einer hölzernen Sammelmulde, ein etwa unterarmtiefes Loch gruben. Am Boden dieses Loches begann sich Wasser zu sammeln, das nun mit Hilfe von hohlen bambusartigen Röhrchen aus der Mulde gesogen und in Fellschläuche gefüllt wurde.
Abby vermochte kaum zu glauben, was sie da beobachten konnte. »Woran könnt ihr denn bloß erkennen, dass es an dieser Stelle unter der Erde eine Art Quelle gibt?«, wollte sie verwundert wissen.
»Dafür gibt es viele Anzeichen, etwa die Tönung der Erde oder eine bestimmte Art von Pflanzen oder Büschen, die an einer solchen Stelle wachsen.«
Abbys Staunen verwandelte sich mehr und mehr in Respekt und Bewunderung für die hohe Kunst des Überlebens, die die Eingeborenen entwickelt hatten, und für die Selbstverständlichkeit, mit der alles unter ihnen gerecht aufgeteilt wurde. Nangala gab zu, dass mancher zwar weniger beisteuerte, als er seinen Fähigkeiten nach eigentlich in der Lage war, aber das änderte nichts daran, dass auch diese Faulen unter ihnen denselben Anteil an der täglichen Ausbeute erhielten.
Als sie am Abend das Nachtlager aufschlugen, herrschte eine fröhliche Stimmung. Denn einer der Jäger war mit zwei Kängururatten zurückgekehrt. Die beiden kaninchengroßen Tiere wurden in einem Erdofen zubereitet. Dazu gruben die Aborigine-Frauen eine Grube und erhitzten in einem starken Feuer eine Anzahl Steine. Anschließend wurden die Kängururatten mit diesen glutheißen Steinen gefüllt, zum Garen in die Grube gelegt, mit Kräutern bestreut und zum Schluss mit einer dicken Schicht Erde bedeckt.
Indessen machten vier Kinder, die kaum älter als fünf sein konnten, geduldig Jagd auf Ameisen. Sie hatten einen Ameisenweg entdeckt, saßen rechts und links davon im Sand und pickten jede Ameise auf, die des Weges kam. Das Tier wurde zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt und dann sorgsam zu den anderen auf ein Blatt gelegt. Innerhalb kurzer Zeit hatten sie genug Ameisen erbeutet, um damit einen ordentlichen Schöpflöffel füllen zu können.
»Und wozu sind die gut?«, fragte Abby und dachte mit Unbehagen daran, dass man ihr diese Tierchen vermutlich auch vorsetzen würde.
»Sie geben ein gutes, säuerlich schmeckendes Gewürz ab«, klärte Nangala auf.
Abby war froh, dass es schon dunkel war, als die Kängururatten aus dem Erdofen geholt und das Fleisch, zusammen mit einem Gemisch aus Wurzeln, gerösteten Larven und Ameisenwürze, aufgeteilt wurde. So sah sie nicht genau, was ihr da in der Rindenschale gereicht wurde. Mit Menschenverachtung schlang sie das Essen hinunter, denn die Wurzeln, die man ihr mittags angeboten hatte, hatte sie ausgeschlagen, und so knurrte ihr der Magen. Es war nicht viel im Vergleich zu den üppigen Mahlzeiten, die auf Yulara aufgetischt wurden. Dagegen sprach Nangala von einem glücklichen Tag, weil es so viel zu essen gab. Das machte Abby bewusst, wie genügsam die Eingeborenen doch waren.
Nach dem Essen überkam Abby eine große Traurigkeit, als sie an Andrew dachte. Nangala schien das zu spüren und sie auf andere Gedanken bringen zu wollen. Als ein Vogelschwarm im Licht des fast vollen Mondes am Nachthimmel über ihnen hinwegzog, flüsterte sie geheimnisvoll: »Da fliegt Bunjips Rache!«
»Bunjips Rache?«, wiederholte Abby verständnislos.
»Ja, die schwarzen Schwäne, die in hellen Mondnächten ruhelos über den Himmel ziehen«, raunte Nangala.
Abby wollte nun natürlich wissen, wer Bunjip war und was es mit der Rache und den schwarzen Schwänen auf sich hatte. Und Nangala erzählte ihr eine Geschichte, die sich kurz nach der Traumzeit zugetragen haben sollte.
»Es waren einst Jäger unterwegs, die zu einem großen billabong kamen. Dort wollten sie Fische angeln. Ihr Anführer Unahanach, der Emujäger, hatte an diesem Tag einen besonderen Einfall. Statt seinen knöchernen Angelhaken mit Würmern zu ködern, spießte er, ohne dass die anderen etwas davon merkten, ein Stück rohes Kängurufleisch auf seinen Haken.
Die Zeit verging, aber kein Fisch biss an. Sorge erfüllte die Männer, denn der Abend war nicht mehr weit, und keiner wollte doch mit leeren Händen ins Lager zurückkehren. Plötzlich jedoch ging ein Ruck durch Unahanachs Angel. Die Rute spannte sich, und da er sie kaum noch halten konnte, sprangen seine Gefährten ihm zu Hilfe. Gemeinsam gelang es ihnen, den Fang an Land zu ziehen. Es war jedoch kein Fisch, sondern ein merkwürdiges Wesen, nicht Hund und nicht Eidechse, und doch von beidem etwas. Es war groß wie ein Riesenkänguru. Es schrie und klagte und schlug wild mit seinem breiten Schwanz um sich.
Während die Jäger noch verstört dastanden und rätselten, was ihnen da an den Haken gegangen war, brodelte auf der anderen Seite des großen Teiches das Wasser, und aus der Tiefe stieg ein gewaltiges Tier empor. Da erkannten Unahanach und seine Gefährten, dass sie das Kind des Bunjip, des schrecklichen Beherrschers aller Seen und Sümpfe, gefangen hatten. Entsetzt von ihrem Tun bedrängten die Jäger ihren Anführer, das Kind wieder in den Teich zurückzuwerfen, da ihnen die Beute zu gefährlich schien, denn noch starrte sie das Ungeheuer von der anderen Seeseite nur drohend an.
Aber Unahanach wollte davon nichts wissen. Er sah sich als großer Jäger, dem auch ein Bunjip nichts anhaben konnte. So zerrte er das zappelnde Junge vollends an Land und antwortete auf das zornige Gebrüll des Untieres nur mit einer drohenden Gebärde seines Speers. Die Unerschrockenheit ihres Anführers machte nun auch den anderen neuen Mut und gemeinsam schleppten sie ihren Fang davon.
Plötzlich erfüllte ein Toben und Rauschen die Luft und erschrocken wandten sich die Jäger um. Hinter ihnen peitschte die Bunjipmutter mit ihrem Schwanz das Wasser zu riesigen Wellen auf, die über die Ufer traten und das Land ringsum überfluteten. Entsetzt hasteten die Jäger ihrem Lager entgegen, das sich auf höherem Gelände befand. Doch das Wasser folgte ihnen und stieg immer höher. Es erreichte das Lager, und um ihrem Verhängnis zu entkommen, kletterten Kinder, Männer und Frauen in die Spitzen der höchsten Bäume.
Unahanach hatte sich mit seiner Frau auf den höchsten der Eukalyptusbäume geflüchtet. Unter ihnen bedeckte ein gewaltiger See das weite Flußtal, aus dem die Kronen der Bäume wie Inseln herausragten. Der Anführer der Jäger fühlte sich schon gerettet, denn das Wasser hörte auf zu steigen. Aber dann bemerkte er mit Entsetzen, dass sein Körper schrumpfte und seine Beine lang und dünn wurden, klauenartige Zehen mit Schwimmhäuten dazwischen bekamen. Als er aufblickte, sah er, dass sich seine Frau in einen Vogel verwandelt hatte. Und nicht nur sie, sondern auch alle anderen seines Stammes waren zu Vögeln geworden. Auch ihm wuchsen nun anstelle der Arme Flügel und seine Schreckensschreie verwandelten sich in ein heiseres Vogelkrächzen. Als er im Mondlicht sein Spiegelbild auf dem Wasser sah, blickte ihm ein schwarzer Schwan mit einem gebogenen, roten Schnabel entgegen. In ihrem Zorn hatte die Bunjipmutter Unahanach und seinen ganzen Stamm in schwarze Schwäne verwandelt.
Seitdem ziehen schwarze Schwäne in mondhellen Nächten durch die Lüfte, und wenn man aufmerksam lauscht, hört man sie miteinander reden. Es heißt, dass sie noch immer ihr Unglück beklagen, das Unahanach über sie gebracht hat, als er das Junge der Bunjipmutter fing und ins Lager schleppte.«
Abby hatte ihr aufmerksam und voller Spannung zugehört, doch danach war sie noch trauriger als vorher. In dieser Nacht träumte sie von schwarzen Schwänen, die über Yulara hinwegzogen. Sie selbst war einer dieser Schwäne und sie sah Andrew vor dem hell erleuchteten Haus stehen und zu ihr emporblicken. Doch so laut sie ihm auch zurief, er hörte sie nicht. Und aus irgendeinem Grund war es ihr nicht möglich, sich vom Schwarm zu lösen und zu ihm zu fliegen. Sie musste mit dem Schwarm weiter, und bald war Yulara hinter ihr zu einem winzigen Lichtpunkt in dunkler Nacht zusammengeschrumpft. Dann erlosch das Licht ganz, und sie war allein mit den anderen schwarzen Schwänen, die keine Müdigkeit kannten und sie hoch über den Blue Mountains nach Westen führten.