Siebtes Kapitel

Abby saß in einem Zustand dumpfer Apathie im Schatten des Windschirmes, der im Abendlicht einen langen Schatten warf. Noch immer lag eine brütende Hitze über dem Land, obwohl die Sonne in wenigen Minuten hinter dem westlichen Horizont abtauchen und die Wildnis der heraufziehenden Nacht überlassen würde.

Die Männer verließen wieder das Lager, um ihre Rituale im heiligen Bereich der Felsen fortzuführen. An diesem Abend bereiteten sich aber auch die Frauen auf eine corroborree vor. Teilnahmslos verfolgte Abby von ihrem abgeschiedenen Lagerplatz aus, wie sich die Frauen gegenseitig bemalten. Auch Nangala nahm an der Zeremonie teil.

Der Tanz begann, als die Dunkelheit auch den letzten Schimmer Tageslicht verjagt hatte und der Mond über den Felsen von Tiheri Maamu Kuran stand.

Gesänge stiegen in die warme Nachtluft und die Frauen beschworen im Tanz die Urwesen aus der Traumzeit. Dabei hantierten sie mit glatten Stöcken. Vor Ocker glänzend, an den Enden etwas zugespitzt, wurden sie in einer nur Eingeweihten verständlichen Abfolge von Hand zu Hand weitergegeben, im Rhythmus der Tänze zum Himmel erhoben, gegen den Horizont gerichtet, um dann in den Boden gesteckt, ausgegraben, mit ausgestrecktem Arm gepackt, zwischen den Beinen durchgeführt, geworfen, gefangen, wieder eingepflanzt, mit Schnüren verbunden, nur mit dem Handballen berührt, geschüttelt und mit gefalteten Händen massiert zu werden. Es war, als stellten diese bemalten Pflöcke ebenso Dinge wie Personen dar.

Auf einmal wurde sich Abby bewusst, dass sie sich völlig allein überlassen war. Niemand schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit, nicht einmal die gezähmten Dingos der Katajunga, die sich der Tiere bei der Jagd und zum Wärmen in kalten Winternächten bedienten. Eine besonders kalte Nacht hieß in ihrer Sprache daher auch »Zweihundenacht«, weil sie zweier Hunde zum Warmhalten bedurfte.

Abby blickte unwillkürlich zu den Felsen hinüber, hinter denen die Männer verschwunden waren, und der Wunsch, einmal zu sehen, um was für einen Ort es sich bei Tiheri Maamu Kuran handelte, und einen Blick von diesem heiligen corroborree der Männer zu erhaschen, wurde plötzlich zu einem Verlangen. Die Tatsache, dass der Zutritt zu diesem Platz Frauen untersagt war, erhöhte den Reiz nur noch.

Vorsichtig kroch sie aus dem pitchi und bewegte sich langsam vom Lager weg in Richtung Felseneingang. Hier und da gab es Büsche, in deren tiefschwarzen Schatten sie Schutz vor dem milchigen Licht des Mondes fand.

Niemand bemerkte sie und keine Stimme rief sie an, um sie von ihrem verbotenen Vorhaben abzubringen. Wer im Lager geblieben war, wurde von dem corroborree der Frauen völlig in Anspruch genommen.

Ob die Männer Wachen bei den Felsen aufgestellt hatten?

Abby schloss diese Möglichkeit mit der nächsten Überlegung aus. Die Aborigines achteten ihre vielfältigen Tabus zu sehr, als dass eine solche Vorsichtsmaßnahme nötig gewesen wäre. Und welcher Mann wollte schon auf die Teilnahme an derart heiligen Zeremonien verzichten, um abseits Wache zu halten?

Dennoch schlug ihr Herz vor Aufregung, als sie den Zugang erreicht hatte, der sich ihr wie eine Höhle mit unergründlicher Dunkelheit auftat.

Der Gang zwischen den beiden Felsen verengte sich schnell auf eine Breite von höchstens drei Schritten. Ihr war, als hätte sie einen Tunnel betreten, der durch ein pechschwarzes Niemandsland in eine fremde Welt führte. Als sie nach oben blickte, sah sie den Nachthimmel nur durch einen winzigen Spalt als einen helleren Streifen Dunkelheit.

Zögernd ging sie weiter. Sie spürte, dass der Boden unter ihr leicht anstieg. Sie tastete nach der Felswand zu ihrer Rechten. Ihre Hand glitt über glattes Gestein. Dann spürte sie kaum merkliche Erhebungen unter ihren Fingerspitzen, und sie hatte den Eindruck, als könnte sie die Umrisse von Zeichnungen auf der Felswand fühlen.

Zwanzig Schritte weiter bog der Gang mit einem recht scharfen Knick nach links. Die Felsen wichen wieder auseinander und ließen mehr Mondlicht in den Durchgang fallen. Nun sah Abby, dass die Wände tatsächlich mit merkwürdigen Malereien bedeckt waren. Mit etwas Phantasie vermochte sie Fledermäuse, Eidechsen, Kängurus und Vögel zu erkennen, ja sogar einige menschliche Gestalten, die offensichtlich Männer auf der Jagd darstellten. Einige dieser Zeichnungen sahen so aus, als hätten die Aborigines auch die Innereien der Tiere aufgemalt.

Ein eigenartiges Gefühl, das an Beklemmung grenzte, überkam Abby, und sie überlegte, ob sie nicht doch besser wieder ins Lager zurückkehren sollte. Da jedoch hörte sie den Gesang der Männer wieder anschwellen und der Verlockung, Zeuge einer geheimen Zeremonie zu werden, vermochte sie einfach nicht zu widerstehen.

Angespannt und mit klopfendem Herzen ging sie weiter. Sie trat aus dem Gang heraus. Vor ihr stieg das Gelände, von vereinzelten Büschen und Bäumen bewachsen und von Felsbuckeln durchzogen, recht steil an. Im Hintergrund ragten die Felsen der Westflanke in den Nachthimmel.

Abby bemerkte einen ausgetretenen Pfad und folgte ihm in geduckter Haltung. Als sie die vielleicht vierzig, fünfzig Fuß aufsteigende Anhöhe erreicht hatte, gelangte sie auf eine kleine, ebene Fläche. Hier wuchsen mehrere Akazienbäume und aus dem sandigen Boden ragten überall bis zu mannshohe Felsbrocken auf.

Der Gesang der Männer und die Begleitmusik, die aus den näselnden Tönen der didjeridoos, hölzernen Trommeln und dem Brummen von Schwirrhölzern bestand, schallte klar und laut zu ihr herüber. Und sie sah auch Feuerschein, der irgendwo vor ihr aus der Tiefe zu kommen schien. Der heilige Ort konnte nicht mehr weit sein.

Sie schlich sich weiter vor. Nach etwa dreißig, vierzig Schritten umging sie zwei Felsen, die ihr die Sicht nahmen - und blieb im nächsten Moment abrupt stehen. Das Gelände vor ihr war nun weit einsehbar, da es in einen sanft abfallenden Hang überging. Dieser führte hinunter in einen weiten Kessel, der gut und gern einen Durchmesser von zweihundert Yards hatte und einer Reihe von Eukalyptusbäumen und Sträuchern Leben bot. Am südwestlichen Ende, gleich neben einer steil aufragenden Felswand, glitzerte zwischen Gebüsch etwas, das sich aus der Entfernung wie ein kleines Wasserloch ausnahm.

In diesem von Felsen umschlossenen Kessel befand sich die heilige Stätte der Katajunga - Tiheri Maamu Kuran.

Abby kroch auf Händen und Füßen zu einem dornigen Gebüsch und ging dahinter in Deckung. Von hier aus hatte sie einen ausgezeichneten Blick auf das Geschehen unten im Felskessel, der vom Schein des lodernden Feuers hell erleuchtet war.

Die Männer tanzten in einem Ring heller Steine, von dem Abby annahm, dass er den heiligen Bezirk kennzeichnete. Einer der Eingeborenen schwang an einem langen Riemen ein schmales, flaches Brett über seinem Kopf, ein sogenanntes Schwirrholz. Es erzeugte ein weithin vernehmliches Dröhnen, das, wie Abby von Nangala erfahren hatte, böse Geister und Unberufene von den corroborrees abhalten sollte.

Fasziniert schaute Abby hinunter. Die von Kopf bis Fuß bemalten Aborigines fluteten im Rhythmus ihrer Gesänge mit herrlich anzusehenden, geschmeidigen Bewegungen vor und zurück. Plötzlich, wie vom Himmel gefallen, sprang der wirrinun in die Mitte der Tänzer. Er stieß einen gellenden, unnatürlich hohen und spitzen Schrei aus, vor dem die anderen Tänzer zurückwichen. Und der Medizinmann stürzte sich mit Vehemenz in eine dramatische Darstellung von Ereignissen der Traumzeit.

Abby hatte noch nie in ihrem Leben eine ähnlich eindringliche, tänzerische Pantomime gesehen. Nach dem, was Nangala ihr über den Fledermausmann und die Eidechsenfrau erzählt hatte, brauchte sie nicht lange, um zu begreifen, dass der Medizinmann dort unten diese Geschichte des Fledermausmannes aufführte: seine Jagd über die leere Savanne, die große Freude an den beiden aus der Eidechse entstehenden Frauen, den Konflikt zwischen Verlangen nach Heimkehr und dem Wunsch zu bleiben - das alles drückte er äußerst bildhaft und glaubwürdig aus.

Abby war von der Vorstellung so hingerissen, dass sie völlig das Gefühl für die Zeit verlor. Sie merkte gar nicht, dass eine Stunde verging und die zweite anbrach. Wie gebannt schaute sie hinunter.

Der Tanz schien sich einem grandiosen Ende zuzuneigen. Denn der Medizinmann stieß wieder markerschütternde, hohe Schreie aus, riss den nächsten Tänzer vom Boden empor und wirbelte mit ihm - endlich, endlich nicht mehr allein in dieser Welt - immer schneller, immer wilder im Kreis herum. Bei jeder Umkreisung des inneren Festplatzes schloss sich ein weiterer Tänzer an, bis schließlich bei immer heftigerem Gerassel der Trommelhölzer, immer verzückterem Gesang sich eine bunte Schlange in Spiralen nun auch durch den äußeren Kreis des Festplatzes wand.

Abby fühlte sich von der rauschhaften Hingabe an Gesang und Tanz mitgerissen, und sie wiegte sich, ohne dass es ihr bewusst wurde, im Takt der Trommelhölzer.

Plötzlich krallte sich eine Hand von hinten in ihr Haar und riss sie vom Strauch nach hinten weg. Ihr Herz schien vor jähem Entsetzen stehen bleiben zu wollen. Der Schrei, der ihrer Kehle entstieg, wurde von einer zweiten Hand erstickt, die sich auf ihren Mund presste.

Todesangst überkam sie, während die stumme, kräftige Gestalt, die sie bei ihrer schändlichen Tat ertappt hatte, vom Hang weg und zwischen die Felsen zerrte, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie sich Arme und Beine an Steinen und Gestrüpp zerkratzte.

Von einer Sekunde auf die andere gaben die kräftigen Hände Abby frei. Heftig atmend rollte sie sich herum und sah zu der Gestalt hoch.

Es war Nangalas Vater, der vor ihr stand. Sein Schweigegebot verbot es ihm, auch nur ein Wort zu sagen. Doch sein zorniger, flammender Blick sprach Bände. Er funkelte sie an, als wollte er sie kraft seines Blickes züchtigen. Dann machte er eine herrische Handbewegung in Richtung Lager.

Ernüchtert und schuldbewusst ging Abby vor ihm her. Was würde nun mit ihr geschehen? Welche Strafe stand auf das Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte? Angst kroch in ihr hoch, und nun warf sie sich vor, dass sie die möglichen Folgen ihres Tuns nicht vorher bedacht hatte. Sie hatte gedacht, dass niemand sie bemerken und sie deshalb auch keinen Schaden anrichten würde. Das hatte sich als Irrtum herausgestellt. Sie war auf frischer Tat ertappt worden und hatte somit die Würde und die Tabus der Katajunga verletzt.

Als sie den Ausgang erreicht hatten, hielt Nangalas Vater sie kurz an der Schulter zurück. Abby hatte erwartet, von einer Menge aufgebrachter Frauen erwartet zu werden. Doch das corroborree dauerte noch immer an. Und niemand schaute zu ihnen herüber.

Noch mehr verwunderte es Abby jedoch, als Nangalas Vater mit dem Kopf nach rechts deutete, wo sich ein niedriges Dickicht fast sichelförmig in Richtung Camp erstreckte. Dann machte er mit der flachen Hand eine halbkreisförmige Bewegung, mit der er sie offensichtlich aufforderte, sich im Schutz der Sträucher zu ihrem pitchi zurückzuschleichen. Denn er legte noch den Zeigefinger senkrecht auf die Lippen. Dabei war seine Miene jedoch noch immer von Zorn geprägt.

Wollte er sie decken und sein Wissen über das, was sie getan hatte, für sich behalten?

Nangalas Vater versetzte ihr einen Stoß und Abby eilte so schnell und lautlos wie möglich zu ihrem Lagerplatz.

Zwischen Hoffnung und Angst hin und her gerissen, wartete Abby darauf, dass irgendetwas passierte. Doch kein wütendes Geschrei drang aus den Reihen der Frauen zu ihr. Die Tänze und Gesänge gingen weiter. Und irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Es war kurz vor dem Morgengrauen, als Nangala sie unsanft weckte. Abby brauchte nur einen Blick in ihr Gesicht zu werfen, um zu wissen, dass ihr Vater sie über alles unterrichtet hatte. Dass Aborigines keiner Worte bedurften, um komplizierte Vorgänge darzustellen, bewies ihre hohe Kunst der Pantomime.

»Wie konntest du bloß so etwas Verbotenes tun!«, stieß sie gedämpft, aber erregt hervor. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Zorn und Besorgnis. »Du weißt ja gar nicht, was für ein Unglück du damit für dich hättest heraufbeschwören können. Du kannst deinem Gott, den ihr mit eurem Wasser- und Kreuzzauber verehrt, danken, dass mein Vater dich dabei erwischt hat! Er wird für sich behalten, was du diese Nacht getan hast, denn du hast mir damals das Leben gerettet.«

»Es tut mir Leid«, murmelte Abby beschämt. »Ich ... ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Sag ihm, dass ich nichts Böses wollte. Ich fühlte mich nur so entsetzlich allein und verzweifelt. Kannst du denn nicht verstehen, wie schrecklich die ganze Situation für mich ist?«

Nangalas Züge wurden weicher. »Doch, das kann ich«, antwortete sie versöhnlich. »Und vielleicht führt dein verbotener Gang an den heiligen Ort dazu, dass du nun doch noch früher als gedacht nach Hause kommst.«

»Wieso das?«

»Mein Vater hat mir zu verstehen gegeben, dass du nach dem, was du getan hast, nicht länger bei uns bleiben kannst. Er wird alles dransetzen, dass man dich mit einem Führer nach Osten über die Berge bringt. Er wird den Ältesten von einem bösen Traum erzählen, den er gehabt hat und in dem du unsere heiligen Stätten entweiht hast, und diesen Traum werden sie nicht ignorieren können. So werden sie dich wegschicken müssen.«

Abby verbrachte den ganzen Tag in einem Zustand nervöser Erwartung. Sie klammerte sich an die Hoffnung, die Nangala ihr gemacht hatte, fürchtete jedoch gleichzeitig, dass die Ältesten doch noch dagegen entscheiden oder sie ohne Führer aus ihrem Lager verjagen könnten.

Bei Einbruch der Dämmerung überbrachte ihr Nangala die Entscheidung von Medizinmann und Ältestenrat. »Morgen früh verlässt du unser Lager. Sie geben dir Weedanook mit. Er ist einer unserer erfahrensten Führer. Und ich werde euch begleiten. So haben es die Stammesältesten bestimmt.«

Abby brach vor glücklicher Erlösung in Tränen aus und fiel Nangala weinend um den Hals. Nach Hause! Morgen begann ihre Rückkehr nach Yulara! Bald würde sie wieder bei Andrew sein!