Neuntes Kapitel
Es war die zwitterhafte Stunde zwischen weichender Nacht und heraufdämmerndem Tag, als Abby die dünne Bettdecke zurückwarf und aufstand. Über Fluss und Land lag die Dunkelheit noch wie eine warme Decke dunkler Daunen. Doch im Osten verlor die Schwärze der Nacht bereits an Kraft und ging in ein Königsblau über, das über dem Horizont schon grüngraue Ränder aufwies.
Abby kam nicht als Erste zu dieser frühen Morgenstunde aus dem Bett. Durch das offene Fenster drangen der vertraute Geruch der Holzfeuer und das unvermeidliche Scheppern und Klappern von Töpfen und Pfannen. Rosanna legte ihren ganz persönlichen Ehrgeiz darein, stets vor allen anderen auf den Beinen zu sein - was dann auch zwangsläufig für die arme Clover galt.
Andrew wälzte sich auf ihre Seite des Bettes und richtete sich halb auf. »Was treibt dich bloß so schnell aus den Federn? Bleib noch ein paar Minuten. Ich habe die letzte Zeit so schrecklich wenig von dir«, sagte er schläfrig, legte ihr von hinten einen Arm um die Brust und zog sie zurück ins Bett.
Abby lachte leise. »Ich muss nach Nangala sehen. Du möchtest doch, dass ich nachher mit euch am Frühstückstisch sitze, oder?«
»Willst du wissen, was ich noch viel lieber möchte?«, raunte er ihr ins Ohr und streichelte sie zärtlich. »Ich habe von dir geträumt. Es war ein Traum, der mir ausnehmend gut gefallen hat.«
»Du Wüstling!«, gab sie sich empört, lachte jedoch und küsste ihn auf die Brust, bevor sie sich mit sanftem Widerstreben seinen Armen entzog.
Er seufzte, ließ sich in die Kissen zurückfallen und verschränkte die Hände im Nacken, während Abby zur Morgenwäsche an die Waschkommode trat.
»Liebst du Yulara?«, fragte er.
Verwundert drehte sich Abby zu ihm um. »Weißt du das denn nicht? Natürlich liebe ich die Farm, Andrew. Wie kommst du bloß auf so eine Frage?«
»Ich liebe Yulara auch, aber manchmal überkommt mich der Wunsch, etwas Eigenes aufzubauen«, gestand er.
»Aber das tust du doch«, sagte Abby, fasste ihr Haar zu einem Zopf zusammen und tauchte das Gesicht in das Wasser der großen Waschschüssel.
»Ja und nein. Mein Vater hat dieses Stück Land ausgesucht und er hat auch alles andere vorgegeben. Wo das Haus stehen, wie der Grundriss aussehen und was zuerst in Angriff genommen werden sollte. Und soviel ich auch dazu beigetragen habe, so ist Yulara doch sein Werk und wird es auch noch sehr lange bleiben.«
Abby glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Noch nie zuvor hatte Andrew an Yulara und dem Maß seiner Verantwortung Kritik laut werden lassen. So kannte sie ihn gar nicht. »Du willst von hier weg?«
»Ja, manchmal wünsche ich mir, mit dir und ein paar tüchtigen Männern etwas Eigenes zu schaffen. Andererseits macht mich aber schon die Vorstellung, von Yulara wegzugehen, ganz krank«, räumte er ehrlich ein. »Und dann frage ich mich, wie mir ein solch idiotischer Gedanke bloß kommen konnte! Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich will.«
Abby trocknete sich ab. »Du wirst es schon herausfinden, und wenn du dann noch immer den Wunsch hast, etwas Eigenes zu schaffen, wird Zeit genug sein, um darüber nachzudenken, was zu tun ist.«
»Würdest du mit mir gehen?«, fragte er leise.
Sie wandte sich ihm zu und sagte mit bedingungsloser Verbundenheit: »Bis ans Ende der Welt, Andrew.«
Sein ernstes, grüblerisches Gesicht verwandelte sich in ein Lächeln. »Na, das wäre von hier aus ja England, und das muss es mit Sicherheit nicht sein. Also bringen wir erst einmal das Frühstück und Melvins Nörgeleien hinter uns«, sagte er in einem betont fröhlichen Tonfall, als wollte er sich selbst aufmuntern, und stand nun auch auf. »Ich wünschte, wir könnten ihn mit April Halston verkuppeln. Die Ehe würde ihm gut tun - und uns auch.«
Abby lachte und kleidete sich an. Wenig später ging sie den Gang zum Krankenzimmer hinunter. Dabei dachte sie darüber nach, was Andrew ihr beim Waschen offenbart hatte. Der Gedanke, Yulara zu verlassen, war ihr nie gekommen. Doch als sie jetzt darüber nachdachte ...
Sie machte die Tür auf und jegliche Überlegungen, die sie beschäftigt hatten, waren augenblicklich vergessen. Denn das Bett war leer und Nangala verschwunden.
Abby sah sich verstört im Zimmer um, als könnte sich die Eingeborene in einer Ecke versteckt haben, was bei der winzigen Größe der Kammer natürlich völlig unmöglich war.
Dann lief sie zu Andrew. »Nangala ist weg!«
Er zeigte weder große Überraschung noch Interesse am Verbleib der Aborigine. »Bist du dir auch sicher?«
»Sie ist nicht in ihrem Zimmer und wo sollte sie sonst sein? Dabei ist sie doch noch längst nicht so gut zu Fuß, dass sie sich wieder auf den Marsch in den Busch begeben kann«, sorgte sich Abby.
»Sie ist eine Wilde und wird das besser beurteilen können. Vielleicht hat sie dir ja auch die ganze Zeit etwas vorgespielt«, mischte sich da Jonathan Chandler ein, der aus seinem Zimmer gekommen war.
Melvin trat hinzu. »Die Schwarze hat sich klammheimlich aus dem Staub gemacht?«, erkundigte er sich in einem »Ich-habe-es-ja-gewusst«-Tonfall.
»Ja«, sagte Jonathan Chandler, bevor Abby Widerspruch gegen die indirekte Unterstellung, Nangala wäre ein undankbares Geschöpf, einlegen konnte.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren und feststellen, ob vielleicht ein Pferd fehlt oder sie sonst irgendetwas mitgenommen hat«, schlug Melvin vor.
»Wie kannst du ihr bloß solch eine Gemeinheit unterstellen!«, entrüstete sich Abby.
Jonathan Chandler bedachte seine Schwiegertochter mit einem leicht tadelnden Blick. »Es ehrt dich, dass du an das Gute in diesen Heiden glaubst«, sagte er mit der gönnerhaften Nachsicht des Familienoberhauptes, »aber das ändert nichts daran, dass nur zu bekannt ist, wie ausgeprägt die Diebesader dieser schwarzen Gesellen ist.« Und zusammen mit Melvin eilte er aus dem Haus.
Als Rosanna von Nangalas nächtlichem Verschwinden hörte, stürzte sie sofort in die Speisekammer, um sie zu überprüfen.
Abby empfand dieses Misstrauen als beschämend - und irgendwie auch als Beleidigung ihrer Person und Menschenkenntnis. Andrew schien das zu spüren, denn er legte seinen Arm um sie und sagte mitfühlend: »Sie meinen es gar nicht so, wie es vielleicht klingt, Abby. Vater und Melvin sind einfach vorsichtig. Und was wissen wir schon über diese Aborigines? Sei doch mal ehrlich. Selbst du hast ja nicht mehr als ihren Namen aus ihr herausbekommen.«
Es stellte sich heraus, dass nichts fehlte - nicht einmal ein Wasserschlauch oder ein Laib Brot. Sogar das schäbige Kleid, das vom Feuer übel zugerichtet gewesen war, hatte Nangala in der Kammer zurückgelassen.
Und das Amulett.
Abby fand den Stein mit den mystischen Zeichen und bunten Vogelfedern auf ihrem Stuhl. Die Schnur aus geflochtenen Pflanzenfasern war sorgfältig in einer Spirale um den bemalten Stein gelegt. Es war ganz eindeutig ein Geschenk Nangalas an sie.
Bewegt von dieser Geste nahm Abby das Amulett in die Hand und hängte es sich um den Hals. Dann ließ sie Whisper satteln und ritt hinaus. Sie wollte Nangala suchen.
Andrew versuchte sie davon abzuhalten. »Das bringt doch gar nichts! Du weißt doch gar nicht, welche Richtung sie eingeschlagen hat. Das ist so, als wolltest du eine Nadel in einem Heuhaufen suchen. Und wofür überhaupt? Sie wollte gehen und das hat sie dann auch getan.«
Dennoch ritt Abby hinaus. Sie wusste, dass sie Nangala nicht finden würde, doch sie hatte das Bedürfnis, es zumindest zu versuchen. Als sie Stunden später nach Yulara zurückkehrte, ohne eine Spur von ihr gefunden zu haben, bemerkte Jonathan Chandler nur, dass es wohl doch vernünftiger gewesen wäre, wenn sie sich den Ausritt erspart und mit ihnen gefrühstückt hätte. Und das Einzige, was Melvin interessierte, war, dass Abby nun endlich wieder Sarahs Unterrichtung übernahm.
Abby enthielt sich eines bissigen Kommentars. Doch zu Andrew sagte sie später am Tag: »Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, sich etwas Eigenes zu schaffen.« Dabei spielten ihre Finger mit dem Amulett. Sie wollte es immer tragen. Vielleicht brachte es ihnen ja Glück.