Zweites Kapitel

Ein Wollfussel war Abby ins rechte Auge geflogen und hatte sich an ihren Wimpern verfangen. Er irritierte und lenkte sie einen Augenblick von der Arbeit ab, die sie schon seit mehreren Stunden auf Yulara in Atem hielt. Sie wandte den Kopf zur Seite und fuhr sich mit dem Handrücken mehrmals über das Auge. Im selben Moment öffnete der schlaksige Farmarbeiter Glenn Osborne das kleine Gatter und trieb ein weiteres Schaf in den schmalen Durchlass, der etwa acht Schritte in der Länge und zwei in der Breite maß und die zwei großen Pferche miteinander verband.

Das verängstigte Schaf riss die achtjährige Sarah fast von den Beinen, als es zu den anderen der Herde zu entkommen versuchte. Das Mädchen gab einen leisen Aufschrei von sich, aus dem mehr Ärger über die eigene Unachtsamkeit als Schmerz oder Schreck sprach. Sarah prallte gegen die Längsbretter des Zaunes und hielt sich geistesgegenwärtig an einem Pfosten fest. Ihr ausgefranster Strohhut jedoch machte sich selbständig und segelte jenseits der Umzäunung in den Staub.

Abby fuhr bei Sarahs Ausruf herum und bekam das Schaf gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor es entwischen und hinter ihr in der Menge der schon behandelten Tiere untertauchen konnte. Ihre Hände gruben sich in die dichte Wolle und mit einem Ruck, der gelernt sein wollte, hob sie das laut blökende und bockende Tier von den Beinen. Dabei drehte sie es gleichzeitig auf den Rücken, was die wahre Kunst bei dieser Arbeit war. Augenblicklich gab das Schaf jeglichen Widerstand auf und fügte sich in sein Schicksal. Dieser plötzliche Wandel bei den Schafen, nämlich von panischer Angst zu buchstäblich lammfrommer Unterwerfung, versetzte Abby immer wieder aufs Neue in Erstaunen.

Glenn war indessen über den Zaun gesprungen und hatte Sarahs Kopfbedeckung aufgehoben. Mit schuldbewusster Miene kam er an. Er blies den Staub vom Strohhut, schlug immer wieder gegen die Krempe und wischte mit seinem schweißgetränkten Halstuch in übertriebener Geschäftigkeit über den Hut, als hielte er einen seidenen Zylinder in der Hand.

»Harn Se sich was ’etan, Miss Sa’ah?«, fragte er in seiner schludrigen Redeweise, die manche Sätze als ein einziges Wort von der Länge eines Bandwurmes erscheinen ließ. »Hab’ nich"esehn nich’, dass Abby noch nich’ bereit’ewesen is’. Is’ eben ’n elend langa und heißa Tach ’ewesen. Tu’ mir wir’lich Leid, Miss Sa’ah.«

Sarah lachte und stülpte sich ihren zerfledderten Strohhut wieder auf den Kopf. Die Sonne stand zwar schon tief im Westen, hatte aber noch nichts von ihrer sengenden Kraft verloren. »Ach was, ist doch nichts passiert, Glenn. Ich hätte selber besser aufpassen sollen«, sagte sie in ihrer fröhlich unbekümmerten Art.

»Du hast deine Sache wirklich gut gemacht«, lobte Abby und schenkte ihr ein Lächeln, das Schaf rücklings zwischen ihren Beinen und die beiden Hinterhufe mit der linken Hand festhaltend.

»Aber ich denke, für heute hast du uns genug geholfen, Sarah. Ruh dich besser etwas aus, sonst schimpft dein Vater, wenn du wieder beim Abendessen einschläfst.«

Dagegen hatte Sarah nichts einzuwenden. Sie war müde, aber doch nicht müde genug, um sich jetzt schon zum Waschen ins Farmhaus zu begeben, das sich hinter ihnen auf der Kuppe einer weitflächigen Anhöhe erhob. Jenseits davon lag der Fluss. »Aber ich darf doch bleiben und dir zuschauen, wie du ihnen die Hufe beschneidest, ja?«

»Natürlich«, sagte Abby und zog das kleine Messer aus dem Gürtel ihres flaschengrünen, schlichten Kattunkleides. Die Klinge war kürzer als ihr Zeigefinger und stark nach innen gebogen.

Sarah hockte sich auf den Zaun und sah zu, wie Abby die Hufe nach Verwachsungen untersuchte und das überflüssige Horn wegschnitt. Es war eine schmerzlose und rasche Angelegenheit. Nach wenigen Augenblicken gab Abby das Schaf frei und schubste es zur Seite. Strampelnd und blökend kam es auf die Beine und preschte davon, um den Schutz der Herde im großen Pferch zu suchen. Dann trieb Glenn das nächste Schaf in den Durchlass und Abby in die Arme und wieder packten ihre Hände, ganz weich und glatt vom Wollfett Lanolin, kraftvoll in den dichten Pelz, der schon bald unter den Messern der Scherer fallen würde.

Sarah war voller Bewunderung, welche Geschicklichkeit sich Abby im Beschneiden der Hufe und in vielen anderen Farmarbeiten angeeignet hatte. Abby war ihr eine Freundin und gleichzeitig wie eine ältere Schwester, zu der sie aufblicken konnte. Wie glücklich war sie gewesen, als Abby vor Jahren zu ihnen nach Yulara gekommen und sich ihrer angenommen hatte, neben ihrer Arbeit auf Feld und Weide. Und seit sie mit ihrem Bruder Andrew verheiratet war, war ihr Glück perfekt und die Angst für immer von ihr gewichen, dass Abby eines Tages Yulara und damit auch sie verlassen konnte.

Eine halbe Stunde später kam Jonathan Chandler, der Vater von Sarah, Andrew und Melvin und seit wenigen Monaten auch Abbys Schwiegervater, mit dem Fuhrwerk vom Roden zurück. Er begab sich zu den Schafpferchen hinüber, sowie er die Arbeiter, mit denen er auf der neuen Weide gewesen war, abgesetzt hatte. Jonathan Chandler war noch immer ein großer, kräftiger Mann, wenn sich das Grau in seinem Haar auch schon mehrte und er nicht mehr die Ausdauer der Jugend besaß, mit der Andrew und Abby gesegnet waren.

»Lass es für heute gut sein, Abby!», rief er ihr zu. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

»Morgen früh möchte ich die Herde schon wieder auf die Weide schicken«, antwortete Abby und gab Glenn durch ein Nicken zu verstehen, dass er das nächste Schaf schicken sollte. »Es sind ja bloß noch anderthalb Dutzend und die schaffen wir heute noch.«

Jonathan Chandler fühlte sich zwischen Stolz auf die Tüchtigkeit seiner jungen Schwiegertochter und leichtem Unwillen, weil ihre Zähigkeit ihn immer wieder nachdrücklich an sein Alter erinnerte, hin und her gerissen. Letztlich überwog jedoch der Stolz.

»Also gut, wie du willst. Aber denk daran, dass Rosanna für heute Abend ihr besonderes Hammelragout gekocht hat! Du weißt ja, was passiert, wenn sie ihre Köstlichkeit auftischt und dann einer von uns nicht am Tisch sitzt!«, ermahnte er sie.

Abby lachte. »Keine Sorge, ich habe nicht vor ihren Zorn zu erregen und dafür verantwortlich zu sein, dass sie uns dann eine Woche lang abwechselnd mit völlig faden oder versalzenen Speisen bestraft.«

Rosanna Daly, die ebenso korpulente wie resolute Köchin, war eine herzensgute Person – solange man sich ihrem Diktat beugte und ihren Kochkünsten Respekt zollte. Dazu gehörte für sie, dass alle Chandlers dem Ruf der Bronzeglocke vor dem Farmhaus folgten und versammelt am Tisch saßen, wenn sie ihre sehr schmackhaften Gerichte auftrug. Erschien man auch nur wenige Minuten zu spät, vermochten Entschuldigungen sie nicht zu besänftigen.

»Das beruhigt mich. Du weißt ja, dass Rosanna an solchen Tagen einen besonders großen Aufstand macht. Dabei sind Andrew und Melvin doch nur nach Dunbar geritten und gerade mal eine Nacht weg gewesen«, sagte Jonathan Chandler und schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur, sie sind auch bei Einbruch der Dunkelheit zurück.«

»Wie lange ist es denn noch hell?«, wollte Sarah wissen.

»Weniger als eine Stunde«, antwortete Abby und warf einen sehnsüchtigen Blick nach Südwesten. Aus dieser Richtung mussten Andrew und Melvin kommen.

Jonathan Chandler nickte und reichte seiner Tochter die Hand. »Komm, wir gehen uns waschen und halten dann Rosanna in der Küche ein wenig von der Arbeit ab. Dir kann sie ja nie böse sein. Und dir werden schon ein paar kluge Fragen einfallen, mit denen du sie zu ihren ausschweifenden Erklärungen bewegen kannst.«

»Au ja!», rief Sarah, rutschte vom Zaun und legte ihre kleine Hand in die ihres Vaters.

Abby und Glenn beeilten sich, dass sie noch rechtzeitig mit ihrer Arbeit fertig wurden. Die feurige Sonnenkugel schien von den fernen Bergspitzen aufgespießt worden zu sein und ihre Glut über den westlichen Himmel zu ergießen, als Abby das Messer wegsteckte und das letzte Schaf in wilden Bocksprüngen davonstürmte.

Glenn prüfte alle Gatter, winkte Abby zu und schlenderte dann zu der kleinen Siedlung der Farmarbeiter hinüber, die mittlerweile auf acht kleine Lehmhütten angewachsen war und insgesamt von zwölf Männern, sechs Frauen, vier Kindern und zwei Babys bewohnt wurde. Von den Männern und Frauen gehörten nur noch vier zu den Sträflingen, die Jonathan Chandler vor Jahren als Arbeitskräfte zugewiesen bekommen hatte.

Freie Siedler hatten einen Anspruch darauf, dass die Verwaltung in Sydney oder Parramatta ihnen Sträflinge als Farmarbeiter zuteilte. Auf den ersten Blick erschienen sie billig, da sie nur mit einigen Gallonen billigen Rums bezahlt werden mussten. Eine Regelung, die von den Offizieren des New South Wales Corps eingeführt worden war, damit sie sich auf Kosten der Siedler und Deportierten schamlos bereichern konnten. Denn sie hatten den Import und Handel mit Rum vollständig an sich gerissen und diktierten auch die Preise, die ihnen einen Gewinn von tausend Prozent und mehr garantierten.

Wer als Farmer keine allzu ehrgeizigen Ziele verfolgte oder mit den Offizieren auf freundschaftlichem Fuß stand, so dass ihm doppelt so viele Arbeitskräfte, als ihm eigentlich zustanden, zugewiesen wurden, der nahm die Schwierigkeiten und Ausfälle, die der Rumkonsum mit sich brachte, in Kauf. Nicht so jedoch Jonathan Chandler. Aus bitterer Erfahrung klug geworden, zog er es vor, einen guten Lohn zu zahlen und Emanzipisten einzustellen, die nach der Verbüßung ihrer Strafe in diesem Land einen wirklichen Neuanfang machen wollten und dafür hart zu arbeiten gewillt waren.

Abby ging den Hang zwischen Siedlung und Farmhaus hoch und schöpfte am Brunnen einen Eimer Wasser. Sie wusch sich Arme und Gesicht und überlegte, ob noch Zeit blieb, um zum Fluss hinunterzulaufen und ein kurzes Bad zu nehmen. Unwillkürlich schaute sie zum Hawkesbury hinüber. Mit dunklen Fluten, breit und majestätisch, floss der Strom in weiten Schleifen durch das sonnendurchglühte

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Land, um zwanzig Meilen oberhalb von Sydney in den Pazifik zu münden.

Das Verlangen nach einem Bad war groß. Ihr Kleid war völlig durchgeschwitzt und ihr dunkelblondes Haar klebte ihr feucht und eingestaubt von der Arbeit im Pferch am Kopf. Sie wollte frisch sein und nett aussehen, wenn Andrew zurückkam. Sie konnte es nicht erwarten, ihn in ihre Arme zu schließen und zu wissen, dass er wieder bei ihr auf Yulara war.

Zum ersten Mal, seit Reverend Duncan Donelly an einem kühlen, aber sonnigen Tag im Juli in einer schlichten Zeremonie auf der Veranda des Farmhauses die Trauung vollzogen und sie vor Gott und dem Gesetz zu Mann und Frau erklärt hatte, war sie von Andrew für zwei Tage und eine Nacht getrennt gewesen. Und sie sehnte sich nach ihm, als wäre Andrew schon Wochen, ja Monate fern von ihr gewesen.

»Reiter! ... Zwei Reiter aus Südwesten!», rief Stuart Fitzroy aus dem fast fertigen Dachgebälk der neuen Remise. Der Zimmermann schottischer Abstammung, der einen wild zerzausten Bart von rotbrauner Farbe hatte, stand auf einer Mittelfette und deutete in Richtung View Point Hill.

Abby fuhr aus ihren Gedanken auf. Ihr Herz schlug gleich schneller. Das konnte nur Andrew mit seinem Bruder sein! Es blieb also keine Zeit mehr für ein Bad im Fluss. Aber ganz so verschwitzt wollte sie ihm doch nicht gegenübertreten. Rasch schöpfte sie einen zweiten Eimer Wasser, den sie sich zum größten Teil über den Kopf schüttete.

»Heiliges Känguru!», erklang es wieder aus dem Dachstuhl. »Das sind Master Andrew und Melvin! Und sie rasen im wilden Galopp über die Hügel, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.«

Jonathan Chandler war vor das Haus getreten.

»Im Galopp? Bei der Hitze?«, stieß er verwundert hervor. »Bist du dir auch sicher, Fitzroy?«

»So sicher, wie ich ’nen Hammer von ’ner Säge unterscheiden kann!«, tönte es nachdrücklich aus dem Dachstuhl.

Jonathan Chandler schüttelte den Kopf. »Die letzten Meilen im Galopp zurückzulegen, das würde Andrew seiner Stute nach einem so langen Ritt von Dunbar doch niemals zumuten!«

»Es sei denn, er hätte einen sehr triftigen Grund dafür«, wandte Abby ein. »Etwas, das wichtiger ist als seine geliebte Fuchsstute.«

Sie wechselten einen besorgten Blick und sahen dann angespannt zur Staubfahne hinüber, die nun deutlich in den Abendhimmel aufstieg. Wenig später konnten auch sie Andrew und Melvin erkennen, wie sie über die wellige Ebene dahinjagten.

Abby hatte es nicht erwarten können, Andrew wiederzusehen. Doch statt der Freude überwog nun die beklemmende Ahnung, dass er schlechte Nachrichten brachte.