Siebtes Kapitel

Baralong wartete schon unterhalb von Brickfield Hill auf einer Hügelkuppe, als Andrew mit einem schwer beladenen Packpferd aus der Stadt kam. In einer eigentümlichen und für die Ureinwohner so typischen Wartehaltung stand der Eingeborene neben einem niedrigen Strauch. Sein ganzes Körpergewicht ruhte auf dem linken Bein. Das rechte hatte er angezogen, und indem er die rechte Fußsohle gegen sein linkes Knie presste, bildete das angewinkelte Bein mit dem linken Oberschenkel eine Art spitzes Dreieck. Sein hölzerner Speer, den er in der linken Hand hielt, ragte über seinen Kopf hinaus. Neben ihm am Boden lagen eine abgewetzte Felltasche und ein zugespitzter Grabstock, der etwa einen Yard lang war.

Als Andrew ihn dort reglos wie aus dunklem Ton gebrannt auf nur einem Bein stehen sah, fragte er sich verwundert, wie ein Mensch es in dieser scheinbar unnatürlichen Haltung bloß so lange aushalten konnte. Baralong wankte ja nicht um einen Inch! Wenn er nicht diese lächerlichen Fetzen getragen hätte, hätte er in dieser sonderbaren Stellung dort auf der Hügelkuppe ein beeindruckendes, statuenhaftes Bild abgegeben. So jedoch wirkte er einfach nur sonderbar.

»Wo ist der flüssige Geist?«, war das Erste, was Baralong wissen wollte, als Andrew ihn erreicht hatte.

»Dort, auf dem Packpferd.«

Baralong bestand darauf, den Rum zu probieren. Andrew musste eine der dickbauchigen Korbflaschen losbinden und ihm einen Becher voll eingießen.

Baralong kippte den Rum auf einen Zug hinunter, rollte die Augen und nickte. »Gut, starker Traum«, sagte er zufrieden. »Und jetzt blauen Nebel.«

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Andrew gab ihm einen mit Tabak gefüllten Beutel und sah mit einer Mischung aus Ungeduld und Faszination zu, wie der Schwarze sein Eisenrohr damit füllte, sich zu Boden kniete und aus seiner Tasche aus Opossumfell einen Feuerquirl hervorholte, um Feuer zu machen.

Diesen kurzen, harten Holzstab nahm er zwischen die Handflächen und drehte ihn mit unglaublicher Schnelligkeit im Loch eines weicheren Holzstückes. Das dabei entstehende Mehl begann zu qualmen, und mit Hilfe von etwas trockenem Gras hatte er im Handumdrehen eine Flamme entfacht. Damit setzt er den Tabak in Brand. Tief sog er den Rauch ein.

Es war Andrew ein Rätsel, wie man Tabak in einem Stück Eisenrohr rauchen konnte, das doch unter der Glut schnell heiß werden und am Mund und in der Hand wehtun musste. Aber wenn er es recht überlegte, war ihm so vieles, was die Welt der Aborigines betraf, ein Buch mit sieben Siegeln. Und wenn Baralong damit glücklich war, sollte es ihm recht sein.

»Können wir jetzt allmählich aufbrechen?«, fragte Andrew, als er meinte, dass sein schwarzer Fährtenleser sich allzu genüsslich seinem tabakgefüllten Eisenrohr widmete und völlig vergessen zu haben schien, wofür er ihn angeheuert hatte und wie weit der Weg nach Saunder’s Creek war.

Gelassen blickte Baralong zu ihm hoch. »Wer hält dich, Gubba Andrew?«, fragte er. »Reite nur voraus. Ich hole dich schon ein.«

Andrew spürte instinktiv, dass es sinnlos war, sich zu streiten oder ihm gar Befehle erteilen zu wollen. Baralong besaß offenbar ein anderes Zeitgefühl und tat die Dinge so, wie er es für richtig hielt. Damit musste er sich wohl oder übel abfinden.

»Wie du willst«, sagte er deshalb, packte die Verbindungsleine des Packpferdes fester und machte sich auf den Weg nach Nordwesten.

Andrew sah sich mehrmals nach seinem Fährtenleser um, doch Baralong machte keine Anstalten, sich zu erheben und ihm zu folgen. Schließlich verwehrte das wellige Land einen weiteren Blick auf die am Boden hockende Gestalt, und Andrew blieb allein die Hoffnung, dass der Schwarze als Tracker wirklich so gut war, wie der Corporal gesagt hatte, und dass er ihn spätestens am Abend einholen würde, wenn er sein Nachtlager im Busch aufschlug.

Zu seiner Überraschung sah er Baralong jedoch schon wenige Stunden später seiner Spur folgen, als er den Pferden wegen der brütenden Hitze eine geruhsamere Gangart zubilligen musste. Der Abstand betrug mehrere Meilen, doch am späten Nachmittag hatte Baralong, der in einem für Andrew unverständlich ausdauernden Trab gefallen war, ihn wieder eingeholt, ohne dass er Anzeichen von besonderer Erschöpfung erkennen ließ. Stumm lief der Schwarze neben ihm her.

Als die Dämmerung einsetzte und Andrew zwischen zwei sichelförmigen Hügeln das Lager für die Nacht aufschlagen wollte, brach Baralong sein stundenlanges Schweigen.

»Nein, nicht hier, Gubba Andrew!«

»Und warum nicht?«, wollte Andrew erstaunt wissen. »Der Platz ist doch ideal.«

Baralong schüttelte heftig den Kopf. »Der Ort ist tabu. Hier hat der Waran-Ahn in der tschukurpa große Dinge vollbracht und seinen Geist hinterlassen. Ein Gubba würde ihn entweihen«, erklärte er.

»Tschukurpa?«, fragte Andrew. »Was ist das?«

»Das ist die Traumzeit, als die Ahnen die Welt erschaffen haben. Wir werden hinter den Hügeln lagern«, bestimmte Baralong.

Andrew hatte gelegentlich gehört, dass die Aborigines für die Schöpfungsgeschichte den Begriff Traumzeit verwandten. Was genau es damit auf sich hatte, wusste er jedoch nicht, und im Augenblick interessierte es ihn auch wenig. Der lange Ritt hatte ihn ermüdet, und er sehnte sich nach einem heißen Tee und einem damper, einem in heißer Asche gebackenen Fladenbrot.

Beim Essen sprach Baralong intensiv dem Rum zu, und Andrew sorgte sich, dass er bis zur Besinnungslosigkeit trinken und am nächsten Morgen nicht in der Lage sein würde, den Marsch fortzusetzen.

»Meinst du nicht, dass du langsam genug hast?«

»Flüssiger Geist ist gut für die Träume, Gubba Andrew«, erwiderte der Schwarze.

»So, wie du den Rum in dich hineinkippst, wirst du reichlich wilde Träume haben und morgen nicht bei Sonnenaufgang auf die Beine kommen.«

»Wir haben andere Träume als ihr Weißgesichter«, entgegnete Baralong. »Im Traum können wir in die Vergangenheit blicken und Kontakt zu den Urwesen, den Ahnen, aus der Schöpfungszeit aufnehmen.«

»Von Hellseherei habe ich schon mal gehört«, sagte Andrew spöttisch. »Aber dass jemand zurück in die Schöpfungszeit sehen kann, ist mir neu.«

»Das kommt, weil du keinem Totem zugehörig bist, Gubba Andrew, und daher auch keinen Traum träumen kannst«, lautete die verwirrende Antwort des Eingeborenen. »Ich bin der Hüter des Emu-Traums ... der Letzte meines Stammes.«

Emu-Traum! Andrew konnte sich etwas Besseres vorstellen, als von Emus zu träumen und der Hüter eines solchen Traumes zu sein. Und er war nicht daran interessiert, weiter darüber zu reden.

»Man hat mir gesagt, dass du schon sehr lange für uns Weißgesichter als Fährtenleser arbeitest«, brachte Andrew das Gespräch auf ein anderes Thema.

Baralong nickte. »Seit die ersten Weißgesichter aus dem Totenreich jenseits der See kamen und dort an Land gingen, wo heute Sydney steht.«

Andrew war erstaunt. »Wenn du damit die Landung der ersten Flotte im Jahre 1788 meinst, dann sind das ja schon zwanzig Jahre!«

»So wird es wohl sein«, bestätigte er.

»Und warum hast du dich von deinem Stamm getrennt und bist in die Dienste der Armee getreten?«, wollte Andrew wissen.

Baralong sah ihn mit einem Blick an, aus dem plötzlich unendliche Trauer und Schmerz sprachen. »Ich habe mich nicht von meinem Stamm getrennt. Dies hier war das Land, das unsere Ahnen uns Yapa übergeben haben, damit wir die Träume hüten und die Welt erhalten. Ihr habt uns alles genommen, und wenn wir etwas von euch genommen haben, habt ihr uns vertrieben und getötet. Ich bin der Letzte meiner Sippe.«

Andrew wehrte sich gegen das Schuldgefühl, das die Worte des Schwarzen in ihm auslösten. »Ich bin erst in dieses Land gekommen, als es die Siedlungen an der Küste und im Landesinneren schon längst gab«, verteidigte er sich unaufgefordert und ärgerte sich im nächsten Moment darüber. »Gut, wir Briten haben uns hier breit gemacht. Aber warum seit ihr denn nicht an einen anderen Ort gezogen? Dieses Land ist doch so riesig und fast menschenleer! Es ist Platz für alle da.«

Baralong blickte ihn über das heruntergebrannte Feuer hinweg an. »Für euch Weißgesichter vielleicht, weil ihr nicht auf den Traumpfaden wandelt und nicht Hüter der Träume seid. Wir aber haben von Moora-Moora, dem großen Geist und Schöpfer aller Dinge, von Geburt ein bestimmtes Gebiet zugewiesen bekommen. Und nur wer in diesem Gebiet geboren und mit den heiligen Orten, Traumpfaden und Zeremonien vertraut ist, kann in diesem Landstrich leben. Wer nicht das geheime Wissen von den Taten der Urwesen kennt und die von ihnen geforderten Rituale auf den Traumpfaden nicht fortführt, kann auf Dauer nicht überleben.«

Andrew runzelte die Stirn. Sein Interesse war nun doch geweckt. »Was sind das für Traumpfade, von denen du dauernd redest?«

»Das sind die Wege, die unsere Ahnen, die Schöpfer der Welt, in der Traumzeit zurückgelegt haben, und die heiligen Stätten, die sie dabei in der Urzeit geschaffen haben«, antwortete Baralong mit schon schwerer Zunge.

»Und jedes Stammgebiet hat unterschiedliche, geheime Traumpfade, auf denen eure Schöpfer gewandelt sind, die nur dieser eine Stamm kennt?«, folgerte Andrew.

Baralong nickte. »Die Traumpfade binden uns auf ewig an das Land unserer Geburt und unseres Stammes. Und es dauert viele Jahre, so dass man schon zu den Alten gehört, bis man alle Geheimnisse, Gesänge und heiligen Orte kennt. Deshalb würden auch niemals die Sippen vom Stamm der Yirrkala in das Stammesgebiet der Awabakal eindringen. Denn sie wüssten ja gar nicht, wo sich die geheimen Traumpfade befinden und wären daher ständig in Gefahr. Deshalb hielten wir euch auch zuerst für unsere widergekehrten Ahnen, denn nur die Schöpfer der Welt würden so unbekümmert herumlaufen und das komplizierte Netz der Traumpfade ignorieren - so dachten wir damals, bis wir es besser wussten.«

Andrew machte ein verblüfftes Gesicht, als ihm die Konsequenz einer solch intensiven religiösen Bindung an ein Stammesgebiet aufging. »Aber das bedeutet dann ja, dass ihr Kriege zwischen den einzelnen Stämmen nicht kennt, ist das richtig?«

»Wozu auch? In unserer Welt kann man Land weder verkaufen noch erobern, weil die Eora mit dem Land der Yirrkala ohne das geheime Wissen um die Traumpfade der Urwesen nichts anfangen können und sich bei jedem Schritt ängstigen würden«, bestätigte Baralong. »Und wie könnten sie auch ihre eigenen Traumpfade verlassen, die zum Überleben so wichtig sind wie Wasser oder das Mehl der Graskörner?«

Andrew war in einer Welt aufgewachsen, in dem seit unzähligen Generationen blutige Kriege von oftmals jahrelanger Dauer aus nichtigem Anlass und zur Ausdehnung des eigenen Reiches für ganz selbstverständlich, ja fast für gottgegeben erachtet wurden, denn stets gab die Kirche ihren Segen dazu - und zwar auf beiden Seiten. Die Kreuzzüge mit ihrem abscheulichen Blutvergießen waren dabei ein düsteres Kapitel für sich. Und nun wurde er mit der Geisteshaltung eines sogenannten »primitiven Naturvolkes« konfrontiert, dem Eroberungsfeldzüge aus religiösen Gründen völlig fremd waren. Konnte man dann überhaupt noch von »primitiv« sprechen? War es denn nicht unvergleichlich primitiver, aus Machtstreben, Gewinnsucht und religiösem Dünkel über andere Völker herzufallen? Die Folgerung, die sich ihm zwangsläufig aufdrängte, war wenig schmeichelhaft - für die Gesellschaft, die er kannte, und auch für ihn persönlich.

Andrew hätte gern mehr darüber erfahren, doch Baralong sackte urplötzlich auf die Seite und die Korbflasche entglitt seinen Händen. Der flüssige Geist, wie er den Rum nannte, hatte ihn schlagartig übermannt.

In tiefer Nachdenklichkeit saß Andrew am Feuer und schaute auf Baralong, der laut schnarchend im Gras lag. Als die Soldaten die Aborigines niedergemetzelt hatten, hatte ihn das Blutbad mit Abscheu und Entsetzen erfüllt und er hatte sich geschämt. Doch jetzt dämmerte ihm zum ersten Mal, was sie, die Weißgesichter, dem Volk der Aborigines schon seit gut zwei Jahrzehnten antaten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was diese angeblichen Wilden dachten und empfanden - und wie sehr sie unter der Eroberung ihres Landes voll göttlicher Traumpfade litten.