Elftes Kapitel

So redselig Greg Halston sonst auch war, die Hitze und das unablässige Gerüttel auf dem Kutschbock verdarben ihm die Freude an einem Gespräch und ließen ihn schon kurz nach dem Aufbruch in ein gedankenverlorenes Schweigen fallen. Nur ab und zu schnalzte er mit der Zunge und rief den dahintrottenden Pferden ein aufmunterndes Wort zu.

Abby war es recht so, war ihr doch überhaupt nicht nach Reden zumute. Die Vorstellung, eine Woche auf Dunbar verbringen und Heather Gesellschaft leisten zu müssen, hatte wenig Verlockendes an sich. Sicher, sie hatte sich mit den beiden Halston-Töchtern stets gut verstanden. Aber das war in einer Zeit gewesen, als weder Heather noch sie verheiratet gewesen war. Im letzten Jahr hatten sie sich nur zweimal gesehen. Einmal bei Heathers Hochzeit und dann bei der Beerdigung ihres Mannes. Es gab Freundschaften, die widerstanden allen Veränderungen und Stürmen der Zeit und hielten ein ganzes Leben. Eine solch kostbare Freundschaft verband sie mit Rachel. Und dann gab es wieder Freunde, mit denen man nur einen kurzen, aber intensiv erlebten Abschnitt des Lebens verbrachte.

Aber wenn ihre Gegenwart auf Dunbar Heather und ihrem Vater half, wollte sie tun, was in ihrer Macht stand. Man musste einander ja nicht herzenstief verbunden sein, um einem guten Nachbarn zu helfen. Sie wünschte nur, Greg Halstons Bitte wäre zu einem anderen Zeitpunkt gekommen. Aber vermutlich gab es so etwas wie einen günstigen Zeitpunkt gar nicht.

Vor ihnen wuchsen abgerundete, lang gestreckte Hügel mit braunem, struppigem Grasbewuchs aus der Ebene. Sie ähnelten einer gestrandeten Herde Wale, die auf ihren mächtigen Leibern reichlich Algen und Seetang mit an Land gebracht hatten. Mittlerweile war dieses Gestrüpp auf ihren Rücken unter der glühenden Sonne vertrocknet.

»Saunders Creek«, brach der Farmer sein Schweigen, als das Fuhrwerk die Hügelkette erklomm. »Die Hälfte der Wegstrecke liegt hinter uns.«

Saunders Creek - das klang nach einem kleinen, munter dahinfließenden Fluss mit erfrischendem Wasser. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch bloß um ein steiniges, ausgetrocknetes Flussbett, das sich auf der anderen Seite der Hügelgruppe mehrere Meilen durch den Busch wand. Sträflinge, die im Januar 1788 mit der 1. Flotte an Land gegangen waren, konnten sich noch erinnern, dass der Fluss in den ersten Jahren der Kolonisation Wasser geführt hatte. Doch seit nunmehr gut zehn Jahren war die Quelle, die ihn gespeist hatte, versiegt, und nur noch bei starken Regenfällen füllte sich Saunders Creek vorübergehend mit schlammigen Fluten. Von diesen trockenen Flussläufen gab es viele in New South Wales.

Die Hänge der Hügel fielen verhältnismäßig steil zum Flussbett ab, dessen jenseitiges Ufer von Sträuchern und einigen Eukalyptusbäumen bestanden war. Ein Schwarm bunt gefiederter Vögel flog mit lautem Flügelschlag aus einem der Bäume auf, stieg in einer weiten Spirale in den wolkenlosen Himmel und entfernte sich in V-Formation nach Westen.

Greg Halston brachte die Pferde auf der Hügelkuppe zum Stehen. »Solch steilen Hänge machen Bessie nervös. Ich werde besser neben ihr gehen. Das beruhigt sie. Übernimm du Zügel und Bremse, Abby.«

»In Ordnung, Mr. Halston.« Abby nahm die Zügel und sorgte mit der Bremse dafür, dass der schwere Wagen nicht zu großen Druck auf das Gespann ausübte.

Die Hand fest im Geschirr, führte der Farmer Bessie und Molly den Hang hinunter. Dabei redete er beruhigend auf sie ein.

»Gut so, gleich haben wir es ja geschafft ... Schön ruhig, Bessie, du machst das schon ... Alles halb so schlimm ... Ja, du hast die Ruhe weg, Molly ... So ist es richtig ... Siehst du, kein Grund, kopflos zu werden, Bessie ... Das Ärgste liegt doch schon hinter uns ... Ruhig Blut, Bessie!« Und dann ein erleichtertes Aufatmen, als der Hang bewältigt war und in das steinige Flussbett überging. »Prächtig habt ihr das gemacht. Ihr seid meine Besten. Wusste doch, dass ihr mich nicht enttäuschen würdet.«

Abby gab die Bremse frei und atmete ebenfalls erleichtert auf. Die Art, wie Bessie nervös geschnaubt und den Kopf hin und her geworfen hatte, war alles andere als beruhigend gewesen. Die Vorstellung, das Gespann könnte durchgehen und das Fuhrwerk am Fuß des Abhangs zerschellen lassen, hatte ihren Puls hochgetrieben und ihren Mund ganz trocken werden lassen.

Ganz langsam führte der Farmer die Pferde durch das Flussbett, das mit dicken Steinbrocken übersät war. Diese sorgten dafür, dass der Wagen einen reichlich ungemütlichen Tanz aufführte und Abby auf dem Kutschbock ordentlich durchgerüttelt wurde.

Auf der anderen Seite gab es eine Stelle, wo das alte Flussufer sanft anstieg. Hier klaffte zwischen den Sträuchern und Bäumen eine Lücke von doppelter Wagenbreite. Greg Halston hielt auf diesen Durchlass zu.

Als sie das andere Ufer erklommen hatten und der Schatten der Eukalyptusbäume auf sie fiel, zügelte Abby die Pferde, um Greg Halston wieder aufsteigen zu lassen.

»Das ging ja besser...« Der Farmer kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden.

Abby hörte plötzlich lautes Rascheln und das Knacken von trockenen Zweigen unter schweren Stiefeln. Erschrocken fuhr sie auf dem Sitz herum und sah, wie zwei abgerissene Gestalten aus einem mannshohen Gebüsch hervorsprangen. Einer von ihnen hielt eine Flinte in der Hand. Der andere hatte sich mit einem Knüppel bewaffnet.

»Fahr los!«, schrie Greg Halston und griff nach dem eisernen Haltebügel, um sich zu Abby auf den Kutschbock zu retten.

Doch der Kerl mit dem Knüppel, ein hagerer Mann mit Hakennase und rotbraunem Stoppelbart, war bei ihm, bevor der Farmer den Stiefel auf die Trittstange setzen konnte. Der knorrige Ast sauste durch die Luft und traf Greg Halston über der Hüfte. Seine Hand löste sich vom Haltebügel und mit einem gellenden Aufschrei stürzte er neben dem linken Vorderrad zu Boden, mit dem Gesicht in den Sand.

Sein Komplize, ein stiernackiger Bursche von gedrungener Gestalt, war mit einem Satz bei ihm und Greg Halston.

»Gut gemacht, Stuart!«, sagte er, stieß den Farmer, der sich aufrichten wollte, mit einem derben Stiefeltritt wieder zurück in den Dreck und richtete den Lauf der Flinte auf Abby.

»Runter da!«

Abby überlegte fieberhaft. Die zerschlissenen Hosen und Hemden aus grobem, graubraun gestreiftem Kattun sowie die Eisenringe um ihre Fußgelenke verrieten, dass es sich bei ihnen eindeutig um entlaufene Sträflinge handelte, und zwar um Sträflinge von besonders schwerem Kaliber. Denn nur wer als Schwerverbrecher nach Australien kam oder in der Kolonie erneut straffällig wurde, musste diese Kleidung sowie Fußketten tragen. Abby vermutete, dass diese beiden Männer einem jener Bautrupps aus Deportierten angehört hatten, die in der Kolonie street gangs genannt wurden und Schwerstarbeit zu verrichten hatten, indem sie etwa beim Bau von Straßen oder öffentlichen Gebäuden eingesetzt wurden.

Was sollte sie bloß tun? Die Ruhe bewahren und hoffen, dass die beiden Kerle ihnen nur den Wagen abnahmen und sie mit einem Schrecken davonkommen ließen? Oder sollte sie die Flucht wagen? Diese Männer waren gefährlich, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Aber sie konnte doch nicht einfach Greg Halston im Stich lassen. Andererseits hatte er ja vielleicht bessere Überlebenschancen, wenn es ihr gelang, ihnen zu entkommen ...

»Versuch es gar nicht erst!«, rief das Narbengesicht ihr zu und machte eine drohende, ruckhafte Bewegung mit der Flinte. »Ich spick dich mit Blei und hol dich vom Kutschbock.«

»Wie sprichst du denn mit der Kleinen, Craig? Du wirst ihr noch Angst machen«, höhnte sein Komplize, der auf den Namen Stuart hörte, und stieß dem Farmer seinen Knüppel zwischen die Schulterblätter.

»Wie man eben mit ’nem Weiberrock spricht«, antwortete der stiernackige Craig und forderte Abby erneut auf: »Runter vom Bock! Und schön langsam. Komm bloß nicht auf dumme Gedanken, wenn dir dein Leben lieb ist!«

Abby hatte keine Wahl. Sie war den beiden Männern hilflos ausgeliefert. Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren. Doch das war leichter gesagt als getan, besonders wenn man in die Mündung einer Flinte schaute und wusste, dass meilenweit niemand war, der ihnen hätte helfen können.

Angst schnürte ihr die Kehle zu, als sie die Zügel aus ihrer feuchten Hand gleiten ließ. Ganz langsam stieg sie vom Kutschbock.

»Stell dich mit dem Rücken gegen den Wagen und leg die Hände in den Nacken!«, forderte Craig sie auf und dirigierte sie mit der Flinte vor die linke Seitenwand des Fuhrwerks.

»Los, komm hoch!« Stuart versetzte dem Farmer einen derben Stiefeltritt. »Du stellst dich neben sie.«

Mühsam kam Greg Halston auf die Beine. »Wir haben Ihnen nichts getan. Nehmen Sie den Wagen und wenn es denn sein muss auch mich, aber lassen Sie Abby laufen!«, keuchte er.

»Den Wagen nehmen wir so oder so, Alter«, sagte Craig mit einem bösartigen Lächeln. »Wir nehmen uns alles, was uns das Schicksal vor die Flinte bringt, und ich muss sagen, Fortuna meint es wirklich gut mit uns.«

»Ja, finde ich auch. Habe schon lange nicht mehr so etwas Hübsches zu Gesicht bekommen! Da läuft einem doch das Wasser im Mund zusammen, findest du nicht auch, Craig?«

»Die Kleine läuft uns nicht davon.«

Abby kämpfte gegen das Ensetzen an, das wie eine Woge in ihr aufstieg, und zwang sich, dem ekelhaft wollüstigen Blick des entlaufenen Sträflings nicht auszuweichen, sondern ihn mit aller Verachtung, zu der sie fähig war, zu erwidern.

»Bitte, tun Sie ihr nichts! Ich flehe Sie an, lassen Sie Abby in Ruhe!«, stieß Greg Halston inständig hervor. »Sie können alles von mir haben - meinen Wagen, meine Pferde und mein Geld.«

»Du hast Geld?« Aus Craigs Stimme klang freudige Überraschung und sogar Stuart verlor für einen Augenblick sein Interesse an Abby.

»Ja, und es ist ein hübscher Batzen.«

»Worauf wartest du noch? Heraus damit, Alter!«, herrschte Craig ihn an und stieß ihm den Lauf der Flinte in die Seite.

Hastig griff Greg Halston in die Tasche und zog den kleinen Lederbeutel hervor, der seine Barschaft enthielt. Craig riss ihn an sich, trat zwei Schritte zurück, klemmte sich die Flinte unter den Arm und zerrte die lederne Börse mit den Zähnen auf.

Abby hoffte, dass die beiden einen Augenblick unaufmerksam wurden und sich ihnen dadurch die Gelegenheit zur Flucht bot. Doch Stuart und Craig standen seitlich von ihr, hatten sie quasi in die Zange genommen, so dass eine Flucht nach links oder rechts keinen Erfolg versprach. Und zwischen ihnen hindurch ins Dickicht stürmen zu wollen, war noch aussichtsloser. Zudem ließ Craig sie nicht aus den Augen. Er war nicht so leichtsinnig, sich jetzt mit dem Zählen der Münzen aufzuhalten. Er warf nur einen schnellen Blick in den Beutel und wog die Münzen in der Hand.

»Wie viel ist es?«, wollte Stuart wissen.

»Genug, um ausreichend Proviant, Pulver und Blei kaufen zu können sowie einen ordentlichen Vorrat Branntwein«, verkündete Craig mit einem breiten Grinsen, zog die Kordel wieder mit den Zähnen zu und steckte die Lederbörse sein. »Einen besseren Fang hätten wir gar nicht machen können, Partner. Jetzt haben wir alle Asse in der Hand!«

Stuart lachte. »Und als Zugabe noch die Herzdame, vergiss das nicht!«

»Ja, aber ich habe dir schon mal gesagt, dass die Kleine uns nicht wegläuft. Wir nehmen beide mit«, entschied Craig, der offensichtlich der Anführer war. »Der Alte wird morgen für uns bei Flanagan alles einkaufen, was wir brauchen, und diese Abby nehmen wir als Geisel, damit er nicht auf die dumme Idee verfällt, uns bei dem verdammten Iren zu verpfeifen.«

Der Laden von Sean Flanagan lag in Sichtweite von Mount Hunter und direkt an der Furt, die über den Nepean River zu den Camden Plains führte. Flanagan’s Station war damit die westlichste Handelsstation der Kolonie und von Saunders Creek mit dem Fuhrwerk noch anderthalb Tagesreisen entfernt. Dass die beiden Männer sich dort verproviantieren wollten, verriet Abby und Greg Halston, dass sie die Blue Mountains zu überqueren und dort ihre Freiheit zu finden hofften.

Stuart nickte. »Ja, so machen wir es, Craig. Wird richtig hübsch gesellig werden mit den beiden. Aber lass uns doch mal sehen, worauf wir uns freuen dürfen.« Mit dem Messer in der Hand näherte er sich Abby.

Ihr Körper spannte sich in Erwartung dessen an, was nun kommen musste.

»Findest du nicht, dass du für diese Hitze reichlich zugeknöpft und eingeschnürt bist? Ich werde mal so nett sein und dir etwas Luft verschaffen«, sagte Stuart höhnisch, setzte ihr die Messerspitze über dem schwarzen Mieder auf die Brust und schlitzte den Stoff ihrer weißen Baumwollbluse mit einem Ruck auf.

Abby spuckte ihm ins Gesicht. Dann trat sie ihm mit voller Kraft zwischen die Beine.

Ein Schrei, der jäh in schrille Höhen stieg und dann im nächsten Augenblick in ein atemloses Röcheln überging, drang aus Stuarts Kehle. Gleichzeitig ließ er das Messer fallen, presste beide Hände vor den Unterleib, krümmte sich und ging vor Abby in die Knie.

Craig ging zu ihm, ohne die Flinte von Abby zu nehmen. »Du hast dir das selber zuzuschreiben, Kumpel. Ich habe dir doch gesagt, dass du damit warten sollst. Das kommt davon, wenn einem der Verstand in die Hose rutscht«, sagte er nicht ohne Schadenfreude und stieß ihn an. »Na los, reiß dich zusammen und komm endlich hoch. Ich will hier keine Wurzeln schlagen.«

Nur mühsam vermochte sich Stuart aufzurichten.

»Dafür... wirst... du ... büßen!«, stieß er abgehackt hervor und konnte noch immer nicht ganz aufrecht stehen. »Das zahle ... ich dir ... heim, du ... Miststück!« Er hob seine Hand und schlug ihr ins Gesicht.

Abby riss den Kopf zur Seite, was dem Schlag einen Großteil der Wirkung nahm. Dennoch jagte ein stechender Schmerz durch ihre linke Gesichtshälfte, die nun wie Feuer brannte.

»Das reicht, Stuart! Heb dir deine privaten Späße für einen besseren Zeitpunkt auf!», rief Craig ungehalten. »Ich will weg von hier. Kümmere dich um den Alten. Er kommt hinten zwischen die Fässer. Am besten fesselst du ihm Hände und Beine. Und du lässt vorerst die Finger von der Kleinen, hast du mich verstanden?«

»Bin ja nicht taub, Mann«, antwortete Stuart gereizt.

»Dann halt dich nächstens auch an das, was ich dir sage!«, wies Craig ihn zurecht und blickte Abby scharf an. »Du wirst uns kutschieren. Aber bilde dir bloß keine Schwachheiten ein, nur weil du bei meinem Kumpel einen miesen Trick gelandet hast. Wir werden dich in unsere Mitte nehmen, und wenn du Zicken machst, bist du reif. Verstehen wir uns?«

Der narbengesichtige Mann sah sie mit einem Blick an, aus dem die Skrupellosigkeit eines Schwerverbrechers sprach, der nichts mehr zu verlieren hatte.

Abby nickte stumm, unfähig, ein Wort herauszubringen. Denn in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass Stuart und Craig sie niemals laufen lassen würden. Dass sie überhaupt noch am Leben waren, verdankten sie allein dem Umstand, dass der Farmer Geld bei sich gehabt hatte und sie ihnen für eine Weile von Nutzen sein konnten. Hatten Sie jedoch ihre Schuldigkeit getan und lag der Einkauf bei Flanagan’s Station erst einmal hinter ihnen, würden sie sich ihrer irgendwo im Busch entledigen.