Viertes Kapitel

Sie wichen ihm aus wie einem Aussätzigen. Sie mieden auch jeglichen direkten Blickkontakt mit ihm. Ein jeder gab sich beschäftigt und schien nicht zu bemerken, wie er da mit seiner zusammengerollten Decke unter dem Arm zu seinem Pferd ging, müde der Schritt und das Gesicht von Schmerz gezeichnet. In Wirklichkeit folgten ihm ein Dutzend Augenpaare, verstohlen und irgendwie schuldbewusst. Denn es war der Morgen des fünften und letzten Tages, und trotz größter Anstrengungen hatten sie noch immer nicht die geringste Spur von der Vermissten gefunden. Und nach vier aufreibenden, erfolglosen Tagen wusste niemand ein Wort des Trostes und der Aufmunterung.

Allein Lieutenant Danesfield fand den Mut, die Dinge, so wie er sie einschätzte, weiterhin mit brutaler Offenheit beim Namen zu nennen. Dennoch befand auch er sich an diesem Morgen in einer ungewöhnlich gereizten Stimmung. Er ranzte sogar Gilmore an, und dabei hatte er sich mit dem Farmer in den vergangenen Tagen ausgezeichnet verstanden. Ihn wurmte, dass er nach vier Tagen im Sattel noch immer nichts Handfestes vorzuweisen hatte.

Es war Corporal Haines, der sich schließlich ein Herz fasste und mit einem Becher Kaffee zu Andrew ging. Dieser strich gedankenverloren über die samtige Schnauze von Samantha, während sein Blick sich in der Weite des Buschlandes verlor. Noch verbarg sich der Sonnenball hinter dem Horizont. Doch es würde nicht mehr lange dauern, bis das erste Licht des neuen Tages nach den Kronen der Akazien und Eukalyptusbäume griff.

»Hier, trinken Sie«, sagte der Corporal unbeholfen und hielt ihm mit einer linkischen Bewegung den verbeulten Blechbecher hin.

Andrew drehte sich schwerfällig um und sah Haines an, als hätte er ihn nie zuvor gesehen.

»Der Kaffee wird Ihnen gut tun, Mister Chandler.«

Andrew ignorierte den dampfenden Kaffee, den der Corporal ihm hinhielt. »Wenn sie ... wenn sie den Tod gefunden hätte, hätten wir sie doch längst gefunden, nicht wahr?«, fragte er.

»Eigentlich schon, so gründlich, wie wir vorgegangen sind«, antwortete Haines ausweichend, denn er wollte ihm nicht diesen Strohhalm der Hoffnung nehmen.

»Ich glaube, ich würde es spüren«, murmelte Andrew. »Ich meine, wenn ... Abby tot wäre.«

»Ja, Mister Chandler«, sagte Haines nur und drückte ihm den Becher in die Hand.

Andrew nickte, als hätte ihm der Corporal etwas ganz Wichtiges mitgeteilt, das ihm neue Kraft und Zuversicht gab. »Es muss eine andere Erklärung für ihr Verschwinden geben.«

»Ich muss mich um meine Männer kümmern. Der Lieutenant wird gleich das Kommando zum Aufbruch geben, und er wird fuchsteufelswild, wenn dann nicht alle bereit sind. Er ist heute sowieso in einer verflixt ungnädigen Stimmung«, sagte Haines und entfernte sich rasch.

Augenblicke später stelzte Lieutenant Danesfield mit forschem Schritt zu Andrew hinüber. »Sie wissen, dass der Captain die Suche auf fünf Tage begrenzt hat, Mister Chandler«, sagte er in einem Tonfall, als hätte er Andrew etwas vorzuwerfen. »Ich werde den heutigen Tag dazu nutzen, um das Gebiet im Nordwesten bis zum Richmond Hill abzusuchen.«

Andrew nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. »Einige Reitstunden von hier liegt Lucknam Station. Vielleicht hat es meine Frau dorthin verschlagen. Ich werde deshalb zuerst einmal zur Farm der Lucknams reiten.«

»Wenn es Ihre Frau dorthin geschafft hätte, hätte man uns längst davon unterrichtet«, hielt Danesfield ihm unerbittlich vor.

»Ich werde mich vergewissern«, beharrte Andrew.

»Mein Gott, verschließen Sie doch nicht länger die Augen vor der Wahrheit. Ihre Frau ist tot! Seien Sie ein Mann und finden Sie sich endlich damit ab!«

Andrew starrte ihn fast hasserfüllt an. »Sie mögen meine Frau schon begraben haben, ich jedoch nicht!«

Der Lieutenant machte eine unwirsche Geste. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Sie wissen ja, wo Sie uns finden«, sagte er weniger aus Großzügigkeit denn aus Gleichgültigkeit und ließ ihn stehen, um seinen Soldaten den Befehl zum Aufbruch zu erteilen.

Gilmore hatte Anstand genug, Andrew anzubieten, ihn nach Lucknam Station zu begleiten, was dieser jedoch dankend ablehnte.

»Sollte ich auf Lucknam Station nichts in Erfahrung bringen, stoße ich wieder zu Ihnen. Gegen Mittag sollte ich Sie und die Rotröcke eingeholt haben«, sagte Andrew und fügte hinzu: »Lieutenant Danesfield hat diesmal ja erstaunlicherweise nichts dagegen, dass ich eigenmächtig handle und mich von der Truppe entferne, so dass ich nicht fürchten muss, in Eisen gelegt zu werden.«

»Der Lieutenant tut seine Pflicht und hat großen Einsatz gezeigt«, nahm Gilmore ihn in Schutz. »Sie haben ihm nichts vorzuwerfen, Andrew. Auf seine Art ist er ein gewissenhafter Mann.«

»Für Ihre Hilfe bin ich Ihnen sehr dankbar, Mister Gilmore«, erwiderte Andrew. »Aber was Lieutenant Danesfield betrifft... ach, lassen wir das.« Er schwang sich in den Sattel und ritt nach Westen.

Lucknam Station lag auf halber Strecke zwischen Richmond Hill und der großen Flussschleife des Nepean River. Andrew ritt zügig, um die verhältnismäßig kühlen Morgenstunden auszunutzen.

Drei Stunden später traf er auf der Farm der Lucknams ein, nur um zu seiner Enttäuschung zu erfahren, dass dort niemand Abby zu Gesicht bekommen noch eine Spur von ihr entdeckt hatte.

Andrew gönnte sich und Samantha nur eine kurze Rast, denn er ertrug das Mitleid der Lucknams nicht. Und alle redeten von Abby in der Vergangenheitsform, als wäre ihr Tod ganz unstrittig.

Niedergeschlagen machte er sich auf den Weg, um wieder Anschluss an Lieutenant Danesfields Suchkommando zu finden. Der Richmond Hill, der sich wie ein Tafelberg aus dem umliegenden flachen Buschland in den mittäglichen Hitzedunst erhob, war nur noch wenige Meilen entfernt, als ihn plötzlich Gewehrfeuer aus seinen düsteren Gedanken riss.

Alarmiert hieb er Samantha seine Stiefelabsätze in die Flanken und galoppierte auf den nächsten Hügel, um eine bessere Aussicht zu haben und feststellen zu können, aus welcher Richtung genau die Schüsse kamen.

Auf der Kuppe der Anhöhe fand sein Blick sofort im Osten die von galoppierenden Pferden hochgewirbelten Staubwolken, die durch einen lichten Hain aus alten Eukalyptusbäumen trieben, und er vermochte zwischen den Bäumen auch deutlich die roten Uniformen der Soldaten zu erkennen. Die Entfernung zu dem Geschehen schätzte er auf anderthalb bis zwei Meilen.

Andrew trieb Samantha zum Galopp an. Die vereinzelten Gewehrschüsse verstummten, und dann folgte der mächtige Detonationsdonner einer Gewehrsalve. Anschließend hörte er, wie zwei Pistolen abgeschossen wurden. Und dann krachte eine zweite Gewehrsalve.

Graue Schießpulverwolken vermischten sich mit den aufsteigenden Staubfahnen. Was, um Gottes willen, ging dort nur vor? Was war passiert? Auf wen hatten die Soldaten das Feuer eröffnet? Gegen wen ließ Lieutenant Danesfield Pistolen und Gewehre richten. Hatten sie Abby gefunden?

Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf durcheinander, während er Samantha anfeuerte ihn so schnell wie möglich zu den Soldaten zu bringen.

Als er die ersten Bäume erreicht hatte und sein Pferd zügeln musste, bot sich ihm ein grausiges Bild. Jenseits der Eukalypten fiel der Boden zu einer Senke ab. Im Sand dieser Mulde hatte offensichtlich eine Gruppe Aborigines ihr Lager aufgeschlagen. Zwei Feuer brannten. Vier Windschirme aus Zweigen, mit denen sich die Eingeborenen vor Wind und Wetter schützen und die aus Zweigen, Gras und Rinde errichtet wurden, gruppierten sich um diese Feuerstellen. Zwei davon waren niedergerissen und mehr als ein Dutzend Aborigines lagen mit schrecklich verdrehten Gliedern und von Kugeln niedergemäht an verschiedenen Stellen der Mulde. Unter den Leichen befanden sich auch Frauen und Kinder.

Andrew riss sein Pferd zurück. Die Soldaten waren hinunter ins Lager geritten und überzeugten sich davon, dass keiner der Eingeborenen mehr lebte. Dann fiel sein Blick auf Lieutenant Danesfield. Er befand sich auf der anderen Seite, seinen blutbefleckten Säbel in der Hand. Vor ihm im Sand lag ein Aborigine, den er mit einem furchtbaren Hieb getötet hatte. Er beugte sich aus dem Sattel und spießte mit dem Säbel einen alten, fleckigen Lederhut auf.

Benommen starrte Andrew auf das Blutbad, das die Soldaten unter den Aborigines angerichtet hatten. Er hörte einen Soldaten rufen: »Wir haben die Bastarde erwischt, Lieutenant! Wir haben sie alle erwischt!«

Der Offizier blickte auf, bemerkte Andrew und ritt zu ihm hinüber, den Lederhut wie eine kostbare Trophäe auf der Spitze seines Säbels.

»Um Gottes willen, was ist hier geschehen?«, stieß Andrew hervor, noch immer wie betäubt.

»Ich schätze, wir haben die Bande erwischt, die Mister Halston und Ihre Frau überfallen hat!«, rief der Lieutenant ihm zu. »Sehen Sie nur, einer von den Wilden hat diesen Hut getragen.«

»Sind Sie wahnsinnig geworden?« Andrews Stimme überschlug sich fast. »Das ist doch kein Beweis ... und noch lange kein Grund, ein solches Blutbad anzurichten! Sie haben wehrlose Menschen niedergemetzelt! ... Frauen und Kinder!«

»Es waren Wilde!«, hielt Danesfield ihm vor, als spräche er von Ungeziefer, das man ungestraft ausrotten durfte.

»Es sind Menschen!«, schrie Andrew ihn an.

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich!«, fauchte Danesfield ihn an. »Nur ein toter Wilder ist ein guter Wilder! Ich habe das Recht auf meiner Seite, Mister Chandler. Die schwarzen Teufel haben sich uns gegenüber feindlich verhalten. Sie wollten uns angreifen.«

»Womit? Mit ihren Wurfhölzern und Speeren?«

»Sie haben empfangen, was sie verdient haben«, antwortete der Offizier mit kalter Verachtung für die Schwarzen wie für Andrews Mitgefühl. »Dieses schwarze Pack hat mit größter Wahrscheinlichkeit Ihre Frau ermordet und irgendwo im Busch verscharrt.«

»Das legen Sie sich doch nur so zurecht, weil es Ihnen so passt! Mein Gott, was sind Sie doch für eine blutrünstige, erbärmliche Kreatur!« Andrew zitterte am ganzen Leib, von Abscheu und Grauen geschüttelt.

»Verschwinden Sie, wenn Sie kein Blut sehen können, Mister Chandler!«, zischte Danesfield. »Meine Aufgabe ist hiermit erledigt, und ich weiß, dass meine Vorgesetzten sowie auch alle einsichtigen Farmer mein Handeln mehr als nur billigen werden! Dies ist die einzige Art, wie man mit diesem schwarzen Gesindel umgehen muss. Das wird den anderen, die sich noch in der Gegend herumtreiben sollten, eine Lehre sein und sie hoffentlich dazu bringen, sich unserer Kolonie fern zu halten! Einen guten Tag, Mister Chandler!«

»Möge Gott Sie dafür strafen, wenn es schon kein irdisches Gericht tut!«, rief Andrew ihm voller Abscheu nach.

Der Lieutenant wandte sich mit einem verächtlichen Lachen um. »Es waren gottverdammte Götzenanbeter, Sie Einfaltspinsel!«

Gilmore kam zu Andrew geritten, die Flinte quer über dem Sattel und das Gesicht wie im Blutrausch gerötet. »Machen Sie nicht so einen Aufstand um diese Schwarzen«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich habe genau gesehen, wie sie zu ihren Speeren gegriffen haben.«

»Gehen Sie mir aus den Augen, MisterGilmore!«, keuchte Andrew.

»Tut mir Leid für Sie, Andrew. Es war wohl, wie der Lieutenant gesagt hat.«

Andrew spuckte vor ihm aus und riss sein Pferd herum. Corporal Haines holte ihn zwischen den Bäumen ein. »Warten Sie, Mister Chandler!«

»Wie viele haben Sie erschossen?«, fragte Andrew kalt.

Jethro Haines senkte den Blick. »Ich bin Soldat, Mister Chandler. Befehl ist Befehl. Der Lieutenant hätte mich vor ein Kriegsgericht gestellt, wenn ich mich geweigert hätte, auf die Wilden zu schießen.«

»Es waren auch Frauen und Kinder darunter!«

»Es ging so verflucht schnell. Außerdem macht das für Leute wie den Lieutenant keinen Unterschied. Ich glaube, es war von Anfang an sein Ziel, eine solche Sippe aufzustöbern und abzuschlachten. Er ist als Schwarzenhasser bekannt und soll schon auf Van Diemens Land an zahlreichen derartigen ›Säuberungsaktionen‹ beteiligt gewesen sein.«

»Das war kein Hausputz, Corporal, sondern ein skrupelloses Gemetzel, ein Massaker, für das es keine Rechtfertigung gibt!«

Der Corporal strich sich nervös über das Kinn. »Ich gebe zu, das war eine hässliche Sache, und ich bin wahrlich nicht stolz darauf. Aber so ist es nun mal, wenn man den Soldatenrock trägt.«

»O nein, so muss es nicht sein, Corporal!«, widersprach Andrew heftig. »Der Befehl eines Vorgesetzten kann nie und nimmer ein offensichtliches Verbrechen rechtfertigen!«

»Meine Kameraden und ich sehen das anders.«

»Ja, dementsprechend sieht es in unserer Welt ja auch aus! Mord und Totschlag im Namen des Christentums und des glorreichen Vaterlandes.«

»Hören Sie, was geschehen ist, ist geschehen. Und ich bin nicht gekommen, um mich mit Ihnen zu streiten. Ich wollte Ihnen helfen und einen Rat geben.«

»So?«

»Wie ich Sie einschätze, werden Sie nicht eher ruhen, bis Sie Ihre Frau gefunden haben, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Andrew knapp und abweisend.

»Wenn die Eingeborenen sie wirklich getötet und im Busch verscharrt haben, wird ein Weißer sie niemals finden. Das kann dann nur ein eingeborener Tracker, und der beste von ihnen soll dieser Baralong sein.«

Gegen seinen Willen horchte Andrew auf. »Baralong?«

»Ja, ein Schwarzer. Sie finden ihn in Sydney. Aber es wird nicht leicht sein, sich seiner Dienste zu versichern.«

»Und warum nicht?«

»Weil er im Gefängnis sitzt, wie ich gehört habe. Fragen Sie mich nicht, warum und wie lange er noch in Kerkerhaft bleiben muss. Er soll sich an einem Offizier vergriffen haben. Gut möglich, dass sie ihn mittlerweile sogar schon gehängt haben. Aber einen Versuch ist es ja wert, und wenn er noch lebt, gelingt es Ihnen ja vielleicht, seine Entlassung zu erwirken.«

»Danke«, sagte Andrew und es kostete ihn Mühe, dieses Wort über die Lippen zu bringen. Denn an den Händen von Corporal Haines klebte ebenso Blut wie an denen von Lieutenant Danesfield und Charles Gilmore.

Und indirekt an meinen, dachte Andrew, als er sich auf den langen und trostlosen Heimweg nach Yulara machte. Denn er fühlte sich mitschuldig an dem Massaker, obwohl er keinen konkreten Grund dafür zu nennen wusste.

Die Sonne brannte auf sein Gesicht, über das Tränen rannen. Er weinte um die Toten und weil er nicht wusste, ob auch Abby zu ihnen zählte.

Baralong.

War ein schwarzer Fährtenleser seine letzte Hoffnung?